Das Letzte, was Haiti braucht, ist eine weitere Militärintervention. 

Der zweiundvierzigste Newsletter (2022).

Gélin Buteau (Haiti), Guede with Drum, ca. 1995.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Vor der Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen am 24. Septem­ber 2022 gestand der haitia­ni­sche Außen­mi­nis­ter Jean Victor Geneus ein, dass sein Land in einer schwe­ren Krise steckt, die, wie er sagte, «nur mit der wirk­sa­men Unter­stüt­zung unse­rer Part­ner gelöst werden kann». Für viele aufmerk­same Beobachter*innen der Situa­tion in Haiti klang die Formu­lie­rung «wirk­same Unter­stüt­zung» so, als wolle Geneus andeu­ten, dass eine weitere mili­tä­ri­sche Inter­ven­tion der west­li­chen Mächte unmit­tel­bar bevor­stehe. In der Tat veröf­fent­lichte die Washing­ton Post zwei Tage vor Geneus’ Äuße­run­gen einen Leit­ar­ti­kel zur Lage in Haiti, in dem sie ein «ener­gi­sches Eingrei­fen von außen» forderte. Am 15. Okto­ber gaben die Verei­nig­ten Staa­ten und Kanada in einer gemein­sa­men Erklä­rung bekannt, dass sie Mili­tär­flug­zeuge nach Haiti geschickt hatten, um Waffen an die haitia­ni­schen Sicher­heits­dienste zu liefern. Am selben Tag legten die Verei­nig­ten Staa­ten dem UN-Sicher­heits­rat einen Reso­lu­ti­ons­ent­wurf vor, der die «sofor­tige Entsen­dung einer multi­na­tio­na­len Eingreif­truppe» nach Haiti forderte.


Seit die haitia­ni­sche Revo­lu­tion 1804 die Unab­hän­gig­keit von Frank­reich erkämpfte, hat Haiti mehrere Inva­si­ons­wel­len erlebt, darun­ter eine zwei Jahr­zehnte währende US-Beset­zung von 1915 bis 1934, eine von den USA unter­stützte Dikta­tur von 1957 bis 1986, zwei vom Westen unter­stützte Putsche gegen den fort­schritt­li­chen ehema­li­gen Präsi­den­ten Jean-Bert­rand Aris­tide in den Jahren 1991 und 2004 sowie eine UN-Mili­tär­in­ter­ven­tion von 2004 bis 2017. Diese Inva­sio­nen hinder­ten Haiti daran, seine Souve­rä­ni­tät zu sichern, und sie hinder­ten die Menschen daran, sich ein würdi­ges Leben aufzu­bauen. Eine weitere Inva­sion, sei es durch US-ameri­ka­ni­sche und kana­di­sche Trup­pen oder durch UN-Frie­dens­trup­pen, wird die Krise nur noch vertie­fen. Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, die Inter­na­tio­nal Peop­les’ Assem­bly, ALBA Move­ments und die Plate­forme Haïti­enne de Plai­doyer pour un Déve­lo­p­pe­ment Alter­na­tif (PAPDA) haben einen Red Alert zur aktu­el­len Situa­tion in Haiti verfasst, der hier als PDF herun­ter­ge­la­den werden kann.

Was ist in Haiti los?

 

Im Laufe des Jahres 2022 hat sich in Haiti ein Volks­auf­stand gebil­det. Diese Proteste sind die Fort­set­zung eines Wider­stands­zy­klus, der 2016 als Reak­tion auf eine soziale Krise begann, die aus den Putschen von 1991 und 2004, dem Erdbe­ben von 2010 und dem Hurri­kan Matthew 2016 resul­tierte. Seit mehr als einem Jahr­hun­dert wird jeder Versuch des haitia­ni­schen Volkes, aus dem von der US-Mili­tär­be­sat­zung (1915–34) aufer­leg­ten neoko­lo­nia­len System auszu­stei­gen, mit mili­tä­ri­schen und wirt­schaft­li­chen Inter­ven­tio­nen beant­wor­tet, um es zu erhal­ten. Die durch dieses System geschaf­fe­nen Struk­tu­ren der Herr­schaft und Ausbeu­tung führ­ten zur Verar­mung des haitia­ni­schen Volkes, so dass der größte Teil der Bevöl­ke­rung keinen Zugang zu Trink­was­ser, Gesund­heits­ver­sor­gung, Bildung und ange­mes­se­nem Wohn­raum hat. Von den 11,4 Millio­nen Einwohner*innen Haitis sind 4,6 Millio­nen von Ernäh­rungs­un­si­cher­heit betrof­fen und 70 % arbeits­los.

Manuel Mathieu (Haiti), Rempart, 2018.

Das haitia­nisch-kreo­li­sche Wort «dechou­kaj» oder «Entwur­ze­lung» – das erst­mals die pro-demo­kra­ti­schen Bewe­gun­gen von 1986 verwen­de­ten, die gegen die von den USA unter­stützte Dikta­tur kämpf­ten – ist zum Leit­be­griff der aktu­el­len Proteste gewor­den. Die haitia­ni­sche Regie­rung unter dem amtie­ren­den Premier­mi­nis­ter und Präsi­den­ten Ariel Henry hat während dieser Krise die Treib­stoff­preise erhöht, was einen Protest der Gewerk­schaf­ten auslöste und die Bewe­gung noch verstärkte. Henry wurde nach der Ermor­dung des unpo­pu­lä­ren Präsi­den­ten Jove­nel Moïse 2021 von der «Kern­gruppe» (bestehend aus sechs Ländern unter Führung der USA, der Euro­päi­schen Union, der UNO und der Orga­ni­sa­tion Ameri­ka­ni­scher Staa­ten) in sein Amt ernannt. Obwohl der Mord noch immer nicht aufge­klärt ist, steht fest, dass Moïse Opfer eines Komplotts von Regie­rungs­par­tei, Drogen­händ­ler­ban­den, kolum­bia­ni­schen Söld­nern und US-Geheim­diens­ten wurde. Die UNO-Beauf­tragte Helen La Lime erklärte im Februar vor dem Sicher­heits­rat, dass die natio­na­len Ermitt­lun­gen zum Mord an Moïse ins Stocken gera­ten seien, was Gerüch­ten Vorschub leiste und sowohl den Argwohn als auch das Miss­trauen inner­halb des Landes verschärfe.

Fritz­ner Lamour (Haiti), Poste Ravine Pintade, ca. 1980.

Wie haben die Kräfte des Neoko­lo­nia­lis­mus reagiert?


Die Verei­nig­ten Staa­ten und Kanada bewaff­nen nun die ille­gi­time Regie­rung Henrys und planen eine mili­tä­ri­sche Inter­ven­tion in Haiti. Am 15. Okto­ber legten die USA dem Sicher­heits­rat der Verein­ten Natio­nen einen Reso­lu­ti­ons­ent­wurf vor, in dem sie die «sofor­tige Entsen­dung einer multi­na­tio­na­len schnel­len Eingreif­truppe» in das Land forder­ten. Dies wäre das jüngste Kapi­tel in der über zwei Jahr­hun­derte währen­den Geschichte zerstö­re­ri­scher Inter­ven­tio­nen west­li­cher Länder in Haiti. Seit der haitia­ni­schen Revo­lu­tion von 1804 haben impe­ria­lis­ti­sche Kräfte (einschließ­lich der Skla­ven­hal­ter) mili­tä­risch und wirt­schaft­lich gegen Volks­be­we­gun­gen inter­ve­niert, die das neoko­lo­niale System been­den woll­ten. Zuletzt dran­gen diese Kräfte unter der Schirm­herr­schaft der Verein­ten Natio­nen über die UN-Stabi­li­sie­rungs­mis­sion in Haiti (MINUSTAH), die von 2004 bis 2017 aktiv war, in das Land ein. Eine weitere derar­tige Inter­ven­tion im Namen der «Menschen­rechte» würde nur das neoko­lo­niale System bestä­ti­gen, das jetzt von Ariel Henry weiter­ge­führt wird, und wäre kata­stro­phal für das haitia­ni­sche Volk, dessen Fort­schritt durch Banden blockiert wird, die hinter den Kulis­sen von der haitia­ni­schen Olig­ar­chie geschaf­fen und geför­dert, von der Kern­gruppe unter­stützt und mit Waffen aus den Verei­nig­ten Staa­ten ausge­rüs­tet werden.

Saint Louis Blaise (Haiti), Gener­aux, 1975.

Wie kann sich die Welt mit Haiti soli­da­risch zeigen?

 

Die Krise in Haiti kann nur die haitia­ni­sche Bevöl­ke­rung lösen, aber es muss von der immensen Kraft der inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät beglei­tet werden. Die Welt kann sich an den Beispie­len der kuba­ni­schen medi­zi­ni­schen Brigade orien­tie­ren, die 1998 zum ersten Mal nach Haiti ging, an der Brigade Via Campe­sina/ALBA Movi­mi­entos, die seit 2009 mit den Volks­be­we­gun­gen zur Wieder­auf­fors­tung und zur Volks­bil­dung zusam­men­ar­bei­tet, und an der Hilfe der vene­zo­la­ni­schen Regie­rung, die auch ermä­ßig­tes Öl umfasst. Dieje­ni­gen, die sich mit Haiti soli­da­risch zeigen, müssen im Mini­mum folgen­des fordern:

 

    1. dass Frank­reich und die Verei­nig­ten Staa­ten Repa­ra­tio­nen für den Dieb­stahl haitia­ni­schen Reich­tums seit 1804 leis­ten, einschließ­lich der Rück­gabe des von den USA 1914 gestoh­le­nen Goldes. Frank­reich allein schul­det Haiti mindes­tens 28 Milli­ar­den Dollar.
    2. dass die Verei­nig­ten Staa­ten die Insel Navassa an Haiti zurück­ge­ben.
    3. dass die Verein­ten Natio­nen für die Verbre­chen der MINUSTAH aufkom­men, deren Trup­pen Zehn­tau­sende von Haitianer*innen getö­tet, unzäh­lige Frauen verge­wal­tigt und die Cholera ins Land gebracht haben.
    4. dass es dem haitia­ni­schen Volk gestat­tet wird, seinen eige­nen souve­rä­nen, würdi­gen und gerech­ten poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Rahmen aufzu­bauen und ein Bildungs- und Gesund­heits­sys­tem zu schaf­fen, das den tatsäch­li­chen Bedürf­nis­sen des Volkes entspricht.
    5. dass sich alle fort­schritt­li­chen Kräfte der mili­tä­ri­schen Inva­sion Haitis widersetzen.
  1.  
Marie-Hélène Cauvin (Haiti), Trinité, 2003.

Diese Forde­run­gen aus dem Red Alert basie­ren auf gesun­dem Menschen­ver­stand und bedür­fen keiner großen Erklä­rung, aber sie müssen mehr Unter­stüt­zung bekommen.


Die west­li­chen Länder werden über diese neue Mili­tär­in­ter­ven­tion mit Phra­sen wie «Wieder­her­stel­lung der Demo­kra­tie» und «Vertei­di­gung der Menschen­rechte» spre­chen. Die Begriffe «Demo­kra­tie» und «Menschen­rechte» werden damit herab­ge­wür­digt. Dies wurde auf der UN-Voll­ver­samm­lung im Septem­ber deut­lich, als US-Präsi­dent Joe Biden sagte, dass seine Regie­rung weiter­hin «an der Seite unse­res Nach­barn in Haiti steht». Wie leer diese Worte sind, zeigt ein neuer Bericht von Amnesty Inter­na­tio­nal, der die rassis­ti­schen Über­griffe auf haitia­ni­sche Asylbewerber*innen in den Verei­nig­ten Staa­ten doku­men­tiert. Die USA und die Kern­gruppe mögen auf der Seite von Leuten wie Ariel Henry und der haitia­ni­schen Olig­ar­chie stehen, aber sie stehen nicht auf der Seite des haitia­ni­schen Volkes, einschließ­lich derer, die in die Verei­nig­ten Staa­ten geflo­hen sind.

1957 veröf­fent­lichte der haitia­ni­sche kommu­nis­ti­sche Roman­cier Jacques-Stéphen Alexis einen Brief an sein Land mit dem Titel La belle amour humaine («Die schöne mensch­li­che Liebe»). «Ich glaube nicht, dass der Triumph der Moral ohne das Handeln der Menschen möglich ist», schrieb Alexis. Als Nach­fahre von Jean-Jacques Dessa­li­nes, einem der Revo­lu­tio­näre, die 1804 die fran­zö­si­sche Herr­schaft stürz­ten, schrieb Alexis Romane, die den mensch­li­chen Geist erhe­ben, und leis­tete damit einen wich­ti­gen Beitrag zum Kampf um die Gefühle in seinem Land. 1959 grün­dete Alexis die Parti pour l’Entente Natio­nale (Partei der Natio­na­len Einheit). Am 2. Juni 1960 schrieb Alexis an den von den USA unter­stütz­ten Dikta­tor Fran­çois «Papa Doc» Duva­lier, dass er und sein Land die Gewalt der Dikta­tur über­win­den würden. «Als Mensch und als Bürger», schrieb Alexis, «ist es unver­meid­bar, den unauf­halt­sa­men Marsch der schreck­li­chen Krank­heit zu spüren, diesen lang­sa­men Tod, der unser Volk jeden Tag zum Fried­hof der Natio­nen führt wie verwun­dete Dick­häu­ter zur Toten­stadt der Elefan­ten». Dieser Marsch kann nur durch das Volk aufge­hal­ten werden. Alexis wurde ins Exil nach Moskau getrie­ben, wo er an einem Tref­fen der inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Parteien teil­nahm. Als er im April 1961 nach Haiti zurück­kehrte, wurde er in Môle-Saint-Nico­las entführt und kurz darauf von der Dikta­tur getö­tet. In seinem Brief an Duva­lier bekräf­tigte Alexis: «Wir sind die Kinder der Zukunft».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.