Wenn alle Flüchtlinge an einem Ort leben würden, wäre es das 17. bevölkerungsreichste Land der Welt.
Der zweiundvierzigste Newsletter (2021)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 5. Oktober verabschiedete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine historische, rechtlich nicht bindende Resolution, die «das Recht auf eine sichere, saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt als ein Menschenrecht anerkennt». Ein solches Recht sollte die Regierungen, die Ende des Monats auf der UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow an einem Tisch sitzen, dazu zwingen, über die schwerwiegenden Schäden nachzudenken, die aus der Umweltverschmutzung für unsere Leben resultieren. Im Jahr 2016 wies die Weltgesundheitsorganisation (WHO) darauf hin, dass 92 % der Weltbevölkerung Luft atmet, die giftig ist; in den Entwicklungsländern sind 98 % der Kinder unter fünf Jahren davon betroffen. Luftverschmutzung, meist durch Kohlenstoffemissionen verursacht, führt weltweit zu 13 Todesfällen pro Minute.
Solche UN-Resolutionen können Wirkung haben. Im Jahr 2010 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution für das «Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung». Daraufhin haben mehrere Länder (wie Mexiko, Marokko, Niger und Slowenien, um nur einige zu nennen) dieses Recht auf Wasser in ihre Verfassungen aufgenommen. Auch wenn es sich dabei um eher begrenzte Regelungen handelt – Abwasserentsorgung und kulturell angemessene Mittel zur Wasserversorgung werden kaum berücksichtigt –, so haben sie doch eine unmittelbare positive Wirkung gezeigt: Tausende von Haushalten sind inzwischen an Trinkwasser- und Abwasserleitungen angeschlossen.
Die wohl größte Verschwendung menschlichen Potenzials unserer Zeit ist der dröhnende Hunger, von dem jeder dritte Mensch auf der Welt betroffen ist. Anlässlich des Welternährungstages haben sieben Medien – ARG Medios, Brasil de Fato, Breakthrough News, Madaar, New Frame, Newsclick und Peoples Dispatch – gemeinsam eine Broschüre mit dem Titel «Hunger in der Welt» erstellt, die sich mit der Hungersituation in Ländern auf der ganzen Welt befasst, mit der Frage, welche Auswirkungen die COVID-19-Pandemie darauf hatte, und mit der Frage, wie die Volksbewegungen auf diese katastrophale Realität reagieren. Der abschließende Essay enthält eine Rede von S’bu Zikode, dem Vorsitzenden von Abahlali baseMjondolo. «Es ist moralisch falsch und ungerecht, dass Menschen in der produktivsten Wirtschaft der Menschheitsgeschichte hungern», sagte Zikode. «Es gibt mehr als genug Ressourcen, um alle Menschen zu ernähren, zu beherbergen und auszubilden. Es gibt genug Ressourcen, um die Armut zu beseitigen. Aber diese Ressourcen werden nicht genutzt, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern um arme Länder, Gemeinden und Familien zu kontrollieren».
In der Einleitung zu «Hunger in der Welt», verfasst von Zoe Alexandra, Prasanth R von Peoples Dispatch und mir, haben wir uns mit der heutigen Hungersituation befasst und wie es dazu kam, sowie mit einer Vision für eine Zukunft, in der die Volksbewegungen die Verwerfungen der Gegenwart überwinden. Nachfolgend ein kurzer Auszug aus unserer Einleitung.
Im Mai 1998 nahm der kubanische Präsident Fidel Castro an der Weltgesundheitsversammlung in Genf (Schweiz) teil. Dabei handelte es sich um eine jährlich stattfindende Tagung der WHO. Castro richtete seine Aufmerksamkeit auf Hunger und Armut, die seiner Meinung nach die Ursache für unendliches Leid sind. «Nirgendwo auf der Welt», sagte er, «durch keinen Völkermord, durch keinen Krieg, werden so viele Menschen pro Minute, pro Stunde und pro Tag getötet wie durch Hunger und Armut».
Zwei Jahre nach Castros Rede trug der Weltgesundheitsbericht der WHO Daten über hungerbedingte Sterbefälle zusammen. Sie belegten mehr als neun Millionen Todesfälle pro Jahr, davon sechs Millionen Kinder unter fünf Jahren. Das bedeutete, dass jeden Tag 25.000 Menschen an Hunger und Armut starben. Diese Zahlen übertrafen bei Weitem die Zahl der Opfer des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994, dessen Opferzahl auf etwa eine halbe Million Menschen geschätzt wird. Dem Völkermord wird Aufmerksamkeit geschenkt – und das ist richtig! –, aber nicht dem Völkermord an verarmten Menschen durch den Hunger. Das ist der Grund, warum Castro auf der Versammlung dazu Stellung bezog.
Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen einen Plan angenommen, um bestimmte Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) bis 2030 zu erreichen. Das zweite Ziel ist, «den Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit sowie eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern». Im selben Jahr registrierte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) einen Anstieg der absoluten Zahl der Hungernden in der Welt. Sechs Jahre später hat die COVID-19-Pandemie einen ohnehin schon zerbrechlichen Planeten erschüttert und die bestehenden Apartheiden der internationalen kapitalistischen Ordnung verschärft. Die Milliardär*innen der Welt haben ihren Reichtum verzehnfacht, während die Mehrheit der Menschheit gezwungen ist, Tag für Tag von der Hand in den Mund zu leben.
Im Juli 2020 veröffentlichte Oxfam einen Bericht mit dem Titel The Hunger Virus, in dem – unter Verwendung von Daten des Welternährungsprogramms – festgestellt wurde, dass bis zu 12.000 Menschen pro Tag «noch vor Ende des Jahres an den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sterben könnten, vielleicht mehr, als bis dahin jeden Tag an der Krankheit sterben werden». Im Juli 2021 gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass die Welt «weit davon entfernt ist», ihre SDGs bis 2030 zu erreichen, und führten an, dass «mehr als 2,3 Milliarden Menschen (oder 30 % der Weltbevölkerung) im Jahr 2020 keinen ganzjährigen Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln» hatten, was eine schwere Ernährungsunsicherheit darstellt.
Der FAO-Bericht The State of Food Security and Nutrition in the World 2021 stellt fest, dass «fast jeder dritte Mensch auf der Welt (2,37 Milliarden) im Jahr 2020 keinen Zugang zu angemessener Nahrung hatte – ein Anstieg um fast 320 Millionen Menschen in nur einem Jahr». Hunger ist unerträglich. Es kommt zu Lebensmittelunruhen, am dramatischsten in Südafrika. «Sie bringen uns einfach durch Hunger um», sagte ein Einwohner von Gauteng, der sich den Protesten im Juli angeschlossen hatte. Diese Proteste sowie die neuen Daten der UN und des Internationalen Währungsfonds haben den Hunger wieder auf die globale Tagesordnung gesetzt.
Zahlreiche internationale Organisationen veröffentlichten Berichte mit ähnlichen Ergebnissen, aus denen hervorgeht, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die Tendenz zu wachsendem Hunger und unsicherer Ernährung verfestigt haben. Viele belassen es jedoch dabei und geben uns das Gefühl, dass der Hunger unvermeidlich ist und dass die internationalen Institutionen mit ihren Krediten, Darlehen und Hilfsprogrammen dieses Dilemma der Menschheit lösen werden.
Aber der Hunger ist nicht unvermeidlich: Er ist, wie S’bu Zikode uns in Erinnerung gerufen hat, eine Auswirkung des Kapitalismus, der den Profit über den Menschen stellt und es zulässt, dass große Teile der Weltbevölkerung hungern, während ein Drittel aller produzierten Lebensmittel verschwendet wird, während der liberalisierte Handel und Spekulationen mit der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln zu schwerwiegenden Verzerrungen führen.
Milliarden von Menschen kämpfen um die Aufrechterhaltung der grundlegenden Strukturen des Lebens in einem Profitsystem, das ihnen die notwendige soziale Verankerung verweigert. Hunger und Analphabetismus zeugen von dem erdrückenden Leid auf unserem Planeten. Kein Wunder, dass so viele Menschen auf der Straße sind, Flüchtende aus dem einen oder anderen Grund, Flüchtende vor dem Hunger und Flüchtende vor dem steigenden Wasser.
Allein die UNO zählt derzeit fast 83 Millionen Vertriebene, die – wenn sie alle an einem Ort leben würden – das 17. bevölkerungsreichste Land der Welt bilden würden. In dieser Zahl sind die Klimaflüchtlinge nicht enthalten – deren Notlage wird nicht Teil der Klimadiskussionen auf der COP26 sein – und auch nicht die Millionen von Binnenflüchtlingen, die vor Konflikten und wirtschaftlichen Erschütterungen fliehen.
1971 veröffentlichte der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe, aufgewühlt durch den Krieg in Biafra, ein Gedicht mit dem Titel «Refugee Mother and Child» in seinem 1971 erschienenen Buch Beware, Soul Brother. Die Schönheit dieses Gedichts wirkt in unserer geplagten Welt nach:
Keine Madonna mit Kind gleicht diesem Bild
der Zärtlichkeit einer Mutter für einen Sohn,
den sie bald würde vergessen müssen.
Die Luft war schwer von Gerüchen
vom Durchfall der ungewaschenen Kinder
mit herausstechenden Rippen und ausgetrockneten
Hintern und mit mühsamen Schritten
unter aufgeblasenen leeren Bäuchen. Die meisten
Mütter dort hatten längst aufgehört
sich zu kümmern, aber nicht diese; sie hielt
ein Geisterlächeln zwischen ihren Zähnen
und in ihren Augen das Gespenst des mütterlichen
Stolzes, als sie die rostfarbenen
Haare auf seinem Schädel kämmte und dann –
mit ihren Augen singend – vorsichtig begann
es zu scheiteln … In einem anderen Leben wäre dies
ein kleiner, alltäglicher Akt, harmlos, bevor er
frühstückt und zur Schule geht; jetzt
tat sie es, als legte sie Blumen
auf ein kleines Grab.
Die Mächtigen schauen mit Abscheu auf die Obdachlosen und Hungernden auf dem Land und in den Städten. Sie beanspruchen, von diesem Anblick durch hohe Mauern und bewaffnete Wachen abgeschirmt zu werden. Menschliche Gefühle – wie sie Achebes Gedicht durchdringen – werden mit großem Aufwand erstickt. Aber die Obdachlosen und die Hungernden sind unsere Mitmenschen, die einst von ihren Eltern zärtlich in den Arm genommen wurden, geliebt auf die Art, wie wir lernen müssen, einander zu lieben.
Herzlichst,
Vijay