Frauen tragen mehr als die Hälfte des Himmels.

Der einundvierzigste Newsletter (2021).

Junaina Muham­med (Indien) / Young Socia­list Artists, Eine Frau bei der Arbeit auf den Korai-Feldern, wo Frauen oft schon in jungen Jahren arbei­ten, um ihren Lebens­un­ter­halt zu verdienen.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research.

 

Zur Erin­ne­rung: Die indi­schen Bäuer*innen und Landarbeiter*innen befin­den sich nach wie vor inmit­ten eines landes­wei­ten Aufruhrs, der durch die Vorlage dreier Land­wirt­schafts­ge­setze ausge­löst wurde, die dann im Septem­ber 2020 von der rech­ten Regie­rung der Bhara­tiya Janata Party unter­zeich­net wurden. Im Juni 2021 fasste unser Dossier die Situa­tion folgen­der­ma­ßen zusammen:

 

Es ist offen­sicht­lich, dass die Probleme in der indi­schen Land­wirt­schaft nicht vom Zuviel an insti­tu­tio­nel­ler Unter­stüt­zung herrüh­ren, sondern vom unzu­rei­chen­den und unglei­chen Einsatz der
Insti­tu­tio­nen sowie von der fehlen­den Bereit­schaft dieser Insti­tu­tio­nen, die inhä­ren­ten Ungleich­hei­ten der dörf­li­chen Gesell­schaft anzu­ge­hen. Es gibt keine Anzei­chen dafür, dass Agrar­un­ter­neh­men die Infra­struk­tur ausbauen, den Zugang zu Märk­ten verbes­sern oder den Land­wir­ten tech­ni­sche Unter­stüt­zung bieten. All dies ist den Bauern und Bäue­rin­nen klar.

Die Proteste der Landaberbeiter*innen, die im Okto­ber 2020 began­nen, sind ein Zeichen für die Klar­heit, mit der sie auf die Agrar­krise und auf die drei Gesetze, die ihre Krise nur noch verschär­fen, reagiert haben. Kein Versuch der Regie­rung – auch nicht der Versuch, die Landarbeit*innen nach reli­giö­ser Zuge­hö­rig­keit zu spal­ten – hat die Einheit der Landarbeit*innen brechen können. Es gibt eine neue Gene­ra­tion, die gelernt hat, sich zu wehren, und die bereit ist, ihren Kampf durch ganz Indien zu tragen.

 

Im Januar 2021 verhan­delte der Oberste Gerichts­hof Indi­ens eine Reihe von Peti­tio­nen zu den Bäuer*innenprotesten. Der Oberste Rich­ter S. A. Bobde reagierte darauf mit folgen­der verblüf­fen­der Bemer­kung: «Wir verste­hen auch nicht, warum alte Menschen und Frauen in den Protes­ten gedul­det werden». Das Wort «gedul­det» stößt auf. Glaubte der Oberste Rich­ter, dass Frauen keine Land­wirte sind und dass Land­wir­tin­nen nicht aus eige­nem Antrieb zu den Protes­ten kommen? Das ist die Annahme, die seiner Bemer­kung zugrunde liegt.

 

Ein kurzer Blick auf eine kürz­lich durch­ge­führte Arbeits­kräf­teer­he­bung zeigt, dass 73,2 % der in länd­li­chen Gebie­ten leben­den Arbeit­neh­me­rin­nen in der Land­wirt­schaft tätig sind; es handelt sich um Bäue­rin­nen, Land­ar­bei­te­rin­nen und Hand­wer­ke­rin­nen. Dage­gen sind nur 55 % der männ­li­chen Arbeits­kräfte, die in länd­li­chen Gebie­ten leben, in der Land­wirt­schaft tätig. Es ist bezeich­nend, dass nur 12,8 % der Land­wir­tin­nen Land besit­zen, was die Ungleich­heit zwischen den Geschlech­tern in Indien verdeut­licht und wahr­schein­lich der Grund für die sexis­ti­sche Bemer­kung des Obers­ten Rich­ters war.

 

Die Ernäh­rungs- und Land­wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen (FAO) wies vor zehn Jahren darauf hin, dass allein durch die Besei­ti­gung der geschlechts­spe­zi­fi­schen Unter­schiede bei den land­wirt­schaft­li­chen Produk­ti­ons­mit­teln 100 bis 150 Millio­nen Menschen vom Hunger befreit werden könn­ten. Ange­sichts des immensen Problems des Hungers in unse­rer Zeit – wie im News­let­ter der letz­ten Woche hervor­ge­ho­ben – müssen Frauen in der Land­wirt­schaft, wie die FAO fest­stellt, «als gleich­be­rech­tigte Part­ne­rin­nen gehört werden».

Karuna Pious P (Indien) / Young Socia­list Artists, Ziegel­stein­ar­beit, lokal bekannt als pakka me kaam.

Von Tricon­ti­nen­tal Rese­arch Services (Delhi) kommt nun ein hervor­ra­gen­des neues Dossier über den Status der Frauen in Indien, Indian Women on an Arduous Road to Equa­lity (Nr. 45, Okto­ber 2021). Der Text beginnt mit einem Bild von fünf Frauen, die an einem Ziegel­brenn­ofen arbei­ten. Als ich diese Zeich­nung sah, fühlte ich mich an eine Berech­nung von Brinda Karat, einer führen­den Vertre­te­rin der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens (Marxis­tisch), über die Arbeit von Bauar­bei­te­rin­nen erin­nert. Bina, eine junge Frau, die in Ranchi, der Haupt­stadt von Jhark­hand, arbei­tet, trägt zwischen 1.500 und 2.000 Ziegel­steine zu den Maurern eines mehr­stö­cki­gen Gebäu­des. Bina trägt jeden Tag mindes­tens 3.000 kg Ziegel­steine, von denen jeder 2,5 kg wiegt, und verdient dabei einen Hunger­lohn von weni­ger als 150 ₹ (2 $) pro Tag. Sie leidet unter star­ken Körper­schmer­zen. «Die Schmer­zen sind ein fester Bestand­teil meines Lebens gewor­den. Ich kann mich nicht an einen einzi­gen Tag ohne sie erin­nern», sagte Bina gegen­über Karat.

Daniela Ruggeri (Argen­ti­nien) / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, Kinder­be­treue­rin­nen protes­tie­ren gegen die unge­rechte Behand­lung von Frauen und Arbeit­neh­mern durch die Modi-Regierung.

Zur Erin­ne­rung: Die Frauen in Indien waren ein inte­gra­ler Bestand­teil der Bauern­be­we­gung, der Arbei­ter­be­we­gung und der Bewe­gung zur Erwei­te­rung der Demo­kra­tie. Muss das noch mal gesagt werden? Es scheint, dass etwas so Offen­sicht­li­ches stän­di­ger Wieder­ho­lung bedarf.

 

Während der Pande­mie spiel­ten Frauen, die im öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen und in der Kinder­be­treu­ung tätig sind, eine zentrale Rolle für den Zusam­men­halt der Gesell­schaft, während sie gleich­zei­tig verun­glimpft und ihre Arbeit herab­ge­wür­digt wurde. Am 24. Septem­ber 2021 streik­ten zehn Millio­nen «Scheme Workers», d. h. Beschäf­tigte im öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen (Accre­di­ted Social Health Acti­vist oder ASHA) und in Kinder­krip­pen (Angan­wadi Workers), um formelle Anstel­lun­gen und besse­ren Schutz für ihre Arbeit während der COVID-19-Pande­mie zu erhal­ten. Sie forder­ten eine Besteue­rung der Super­rei­chen, die Rück­nahme des Land­wirt­schafts­ge­set­zes, den Stopp der Priva­ti­sie­rung des öffent­li­chen Sektors und die Vertei­di­gung der Arbeitnehmerinnen.

 

In den letz­ten Jahren haben sich ASHA-Mitar­bei­te­rin­nen über routi­ne­mä­ßige Beläs­ti­gun­gen, einschließ­lich sexu­el­ler Beläs­ti­gung, beklagt. Im Jahr 2013 erließ die indi­sche Regie­rung das Gesetz über die sexu­elle Beläs­ti­gung von Frauen am Arbeits­platz, um sowohl formelle als auch infor­melle Beschäf­tigte zu schüt­zen. Für ASHA und andere Beschäf­tigte wurden keine Vorschrif­ten erlas­sen, und diese Beschäf­tig­ten sind auch nicht in der Lage, ihre Erfah­run­gen mit Beläs­ti­gun­gen auf die Titel­sei­ten der Unter­neh­mens­me­dien zu bringen.

 

In unse­rem Dossier wird das Vorherr­schen von patri­ar­cha­li­scher Beläs­ti­gung und Gewalt sorg­fäl­tig analy­siert, wobei wir darauf achten, dass die verschie­de­nen Arten, in denen solche toxi­schen Verhal­tens­wei­sen Frauen aus unter­schied­li­chen Klas­sen tref­fen, iden­ti­fi­ziert werden. Frauen aus der Arbei­ter­klasse in Gewerk­schaf­ten und linken Orga­ni­sa­tio­nen haben eine Art Massen­sen­si­bi­li­tät entwi­ckelt, die dazu führt, dass ihre Kämpfe nun auch Forde­run­gen gegen das Patri­ar­chat umfas­sen, die ihnen sonst fremd waren. So ist vielen Frauen aus der Arbei­ter­klasse jetzt klar, dass sie Mutter­schafts­ur­laub, glei­chen Lohn für glei­che Arbeit, garan­tierte Kinder­krip­pen sowie Rechts­mit­tel und Präven­ti­ons­me­cha­nis­men gegen sexu­elle Beläs­ti­gung am Arbeits­platz durch­set­zen müssen. Solche Forde­run­gen wirken zurück in die Fami­lie und die Gemein­schaft, wo andere Kämpfe – etwa gegen patri­ar­cha­li­sche Gewalt im Haus­halt – den Hori­zont der demo­kra­ti­schen Bewe­gun­gen in Indien erweitern.

Vikas Thakur (Indien) / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, Ein Fahr­rad­trai­nings­la­ger in Puduk­kot­tai, Tamil Nadu.

Das Dossier schließt mit klugen Worten über die Bedeu­tung der Bauern­be­we­gung für die Frauenbewegung:

 

Obwohl die indi­sche Frau­en­be­we­gung im Laufe der Jahr­zehnte viele Höhen und Tiefen erlebt hat, ist sie wider­stands­fä­hig geblie­ben, hat sich an die verän­der­ten sozio­öko­no­mi­schen Bedin­gun­gen ange­passt und sich sogar ausge­dehnt. Die derzei­tige Situa­tion könnte eine Gele­gen­heit bieten, die Massen­be­we­gun­gen zu stär­ken und den Schwer­punkt auf die Rechte und den Lebens­un­ter­halt von Frauen und Arbeitnehmer*innen zu lenken. Die derzei­tige indi­sche Bauern­be­we­gung, die bereits vor der Pande­mie begann und nach wie vor stark ist, bietet die Möglich­keit, den natio­na­len Diskurs auf eine solche Agenda zu lenken. Die enorme Betei­li­gung von Land­frauen, die aus verschie­de­nen Bundes­staa­ten anreis­ten, um abwech­selnd tage­lang die Gren­zen der natio­na­len Haupt­stadt zu beset­zen, ist ein histo­ri­sches Phäno­men. Ihre Präsenz in der Bauern­be­we­gung gibt der Frau­en­be­we­gung Hoff­nung für eine Zukunft nach der Pandemie.

 

Zur Erin­ne­rung: Nichts an den Slogans, die aus den Lagern der Bäuer*innen kommen, ist singu­lär. Die meis­ten dieser Forde­run­gen bestehen seit langem. Die von den Bäue­rin­nen auf den Protest­plät­zen erho­be­nen und von den Bauern­ver­bän­den verstärk­ten Forde­run­gen spie­geln den Entwurf der Natio­na­len Poli­tik für Frauen in der Land­wirt­schaft wider, der von der Natio­na­len Kommis­sion für Frauen im April 2008 vorge­legt wurde. Diese Poli­tik enthielt die folgen­den zentra­len Forde­run­gen, die alle heute noch gelten:

 

      1. Sicher­stel­len, dass Frauen Zugang zu und Kontrolle über Ressour­cen haben, einschließ­lich Land­rechte, Wasser und Weide-/Wald-/Bio­di­ver­si­täts­res­sour­cen.
      2. Glei­chen Lohn für glei­che Arbeit garantieren.
      3. Zahlung von Mindest­stüt­zungs­prei­sen an Primär­er­zeu­ger und Sicher­stel­lung, dass ausrei­chend Nahrungs­mit­tel zu erschwing­li­chen Prei­sen verfüg­bar sind.
      4. Ermu­ti­gung von Frauen zum Eintritt in agrar­be­zo­gene Wirt­schafts­zweige (einschließ­lich Fische­rei und hand­werk­li­che Tätigkeiten).
      5. Bereit­stel­lung von Ausbil­dungs­pro­gram­men für Frauen, die auch land­wirt­schaft­li­che Prak­ti­ken und Tech­no­lo­gien umfas­sen, und auf das Wissen der Frauen und die von ihnen ausge­üb­ten Prak­ti­ken abge­stimmt sind.
      6. Ange­mes­sene und gleich­be­rech­tigte Verfüg­bar­keit von Dienst­leis­tun­gen wie Bewäs­se­rung, Kredite und Versicherungen.
      7. Ermu­ti­gung der Primär­pro­du­zen­ten, Saat­gut, Forst- und Milch­pro­dukte sowie Vieh zu produ­zie­ren und zu vermarkten.
      8. Verhin­dern, dass die Lebens­grund­lage von Frauen verdrängt wird, ohne dass prak­ti­ka­ble Alter­na­ti­ven ange­bo­ten werden.

 

Die linke Frau­en­be­we­gung hat diese Forde­run­gen wieder auf den Tisch gebracht. Die rechts­ge­rich­tete Regie­rung wird sie nicht hören.

Ingrid Neves (Brasi­lien) / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, Eine Algen­ern­te­ma­schine im Ange­sicht der rauen See.

Auch dieses Mal haben wir unser Dossier mit großer Sorg­falt und Liebe gestal­tet. Dies­mal hat unser Team eng mit den Young Socia­list Artists (Indien) zusam­men­ge­ar­bei­tet. Gemein­sam haben wir aussa­ge­kräf­tige Fotos aus der Geschichte der indi­schen Frau­en­be­we­gung und von den Bauern­pro­tes­ten gefun­den und diese als Vorlage für die Illus­tra­tio­nen im Dossier verwen­det. Wir freuen uns darauf, Sie zu einer Online-Ausstel­lung dieser Kunst einzu­la­den, unsere kleine Geste zur Erwei­te­rung eines mögli­chen Weges in eine sozia­lis­ti­sche Zukunft.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.