Wir haben hier in Afrika alles, was nötig ist, um ein mächtiger, moderner, industrialisierter Kontinent zu werden.

Der vierzigste Newsletter (2023)

Wu Fang (China), 行走 («Reise»), 2017.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

In seinem 1963 erschie­ne­nen Buch Africa Must Unite schrieb Kwame Nkru­mah, der erste Präsi­dent Ghanas: «Wir haben hier in Afrika alles, was notwen­dig ist, um ein mäch­ti­ger, moder­ner, indus­tria­li­sier­ter Konti­nent zu werden. Unter­su­chun­gen der Verein­ten Natio­nen haben kürz­lich gezeigt, dass Afrika keines­wegs über unzu­rei­chende Ressour­cen verfügt, sondern wahr­schein­lich besser für die Indus­tria­li­sie­rung gerüs­tet ist als fast jede andere Region der Welt». Nkru­mah bezog sich dabei auf die Special Study on Econo­mic Condi­ti­ons and Deve­lo­p­ment, Non-Self-Gover­ning Terri­to­ries (Vereinte Natio­nen, 1958), in der die immensen natür­li­chen Ressour­cen des Konti­nents aufge­zeigt wurden. «Die wahre Erklä­rung für die Lang­sam­keit der indus­tri­el­len Entwick­lung in Afrika», schrieb Nkru­mah, «liegt in der Poli­tik der Kolo­ni­al­zeit. Prak­tisch alle unsere natür­li­chen Ressour­cen, ganz zu schwei­gen von Handel, Schiff­fahrt, Bank­we­sen, Bauwe­sen usw., fielen in die Hände von Auslän­dern, die auslän­di­sche Inves­to­ren berei­chern und einhei­mi­sche wirt­schaft­li­che Initia­ti­ven brem­sen woll­ten, und sind dort geblie­ben». Nkru­mah vertiefte diese Sicht­weise in seinem bemer­kens­wer­ten Buch Neo-Colo­nia­lism: the Last Stage of Impe­ria­lism (1965).

 

Als Regie­rungs­chef Ghanas entwi­ckelte Nkru­mah eine Poli­tik zur Umkeh­rung dieses Trends, indem er das öffent­li­che Bildungs­we­sen (mit Schwer­punkt auf Wissen­schaft und Tech­no­lo­gie) förderte, einen robus­ten öffent­li­chen Sektor aufbaute, um sein Land mit Infra­struk­tur (einschließ­lich Elek­tri­zi­tät, Stra­ßen und Eisen­bah­nen) zu versor­gen, und einen Indus­trie­sek­tor entwi­ckelte, der den Ressour­cen, die zuvor als Rohstoffe zu nied­ri­gen Prei­sen expor­tiert worden waren, durch Verar­bei­tung Mehr­wert verlei­hen würde. Ein solches Projekt wäre jedoch zum Schei­tern verur­teilt, wenn es nur in einem Land versucht würde. Aus diesem Grund war Nkru­mah ein großer Verfech­ter der afri­ka­ni­schen Einheit, wie er in seinem Buch Africa Must Unite (1963) ausführ­lich darlegte. Seiner Entschlos­sen­heit ist es zu verdan­ken, dass die afri­ka­ni­schen Länder im selben Jahr, in dem sein Buch veröf­fent­licht wurde, die Orga­ni­sa­tion für Afri­ka­ni­sche Einheit (Orga­ni­sa­tion of Afri­can Unity, kurz OAU) grün­de­ten. Im Jahr 1999 wurde aus der OAU die Afri­ka­ni­sche Union.

 

Während Ghana und Afrika kleine Schritte in Rich­tung natio­na­ler und konti­nen­ta­ler Souve­rä­ni­tät mach­ten, hatten einige Leute andere Vorstel­lun­gen. Nkru­mah wurde 1966 durch einen vom Westen unter­stütz­ten Putsch abge­setzt, fünf Jahre nach­dem Patrice Lumumba als Premier­mi­nis­ter der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo abge­setzt und anschlie­ßend ermor­det worden war. Jede*r, die*der ein Projekt für die Souve­rä­ni­tät des Konti­nents und die Würde des afri­ka­ni­schen Volkes aufbauen wollte, wurde entwe­der abge­setzt, getö­tet oder beides.

Guo Hongwu (China), 革命友谊深如海 («Revo­lu­tio­näre Freund­schaft ist so tief wie der Ozean»), 1975.

Die vom Westen unter­stütz­ten Regie­run­gen, die auf diese Putsche folg­ten, voll­zo­gen eine völlige Kehrt­wende weg von der Poli­tik der natio­na­len Souve­rä­ni­tät und dem Aufbau­kon­ti­nen­ta­ler Einheit. So schwäch­ten die Mili­tärs des ghanai­schen Natio­na­len Befrei­ungs­rats 1966 die Programme zur Schaf­fung eines quali­ta­tiv hoch­wer­ti­gen öffent­li­chen Bildungs­we­sens und eines effi­zi­en­ten öffent­li­chen Sektors, in dessen Mittel­punkt die Indus­tria­li­sie­rung und der konti­nen­tale Handel stan­den. Import­sub­sti­tu­tio­nen, die für die neuen Staa­ten der Drit­ten Welt wich­tig gewe­sen wären, wurden zuguns­ten des Exports billi­ger Rohstoffe und des Imports teurer Fertig­pro­dukte verwor­fen. Der Konti­nent geriet in eine Spirale aus Schul­den und Abhän­gig­keit. Diese Situa­tion verschlech­terte sich durch die Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramme des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds, die während der schlimms­ten Schul­den­krise der 1980er Jahre in Gang gesetzt wurden. In einem Forschungs­pa­pier des South Centre aus dem Jahr 2009 heißt es: «Der Konti­nent ist die am wenigs­ten indus­tria­li­sierte Region der Welt, und der Anteil der afri­ka­ni­schen Länder südlich der Sahara an der welt­wei­ten Wert­schöp­fung des verar­bei­ten­den Gewer­bes ist zwischen 1990 und 2000 in den meis­ten Sekto­ren sogar zurück­ge­gan­gen». Im Bericht des South Centre wird die Situa­tion in Afrika sogar als «Deindus­tria­li­sie­rung» bezeichnet

 

Im April 1980 trafen sich die afri­ka­ni­schen Staats- und Regie­rungs­chefs in Lagos, Nige­ria, unter der Schirm­herr­schaft der OAU, um über die schwie­ri­gen Kondi­tio­nen zu bera­ten, die durch die Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramme des IWF geschaf­fen wurde. Diese adres­sier­ten zwar die Finanz­po­li­tik der Länder, aber änder­ten nichts an den ungüns­ti­gen inter­na­tio­na­len Kredit­märk­ten. Aus diesem Tref­fen ging der Lagos-Akti­ons­plan (1980–2000) hervor, dessen Haupt­ar­gu­ment darin bestand, dass die afri­ka­ni­schen Staa­ten ihre Souve­rä­ni­tät gegen­über dem inter­na­tio­na­len Kapi­tal herstel­len und eine Indus­trie­po­li­tik für ihre Länder und für den Konti­nent entwi­ckeln müssen. Dies war im Wesent­li­chen eine Erneue­rung der Poli­tik Nkru­mahs aus den 1960er Jahren. Paral­lel zum Akti­ons­plan von Lagos riefen die Verein­ten Natio­nen das Jahr­zehnt der indus­tri­el­len Entwick­lung für Afrika (1980–1990) ins Leben. Gegen Ende dieses Jahr­zehnts, im Jahr 1989, arbei­tete die OAU – im Bewusst­sein, dass ihre Poli­tik aufgrund der Verschär­fung neoli­be­ra­ler Ansätze, die zu Haus­halts­kür­zun­gen führ­ten und den export­ori­en­tier­ten Dieb­stahl afri­ka­ni­scher Ressour­cen verstärk­ten, zum Schei­tern verur­teilt war – mit den Verein­ten Natio­nen zusam­men, als sie den 20. Novem­ber als Afri­ka­ni­schen Indus­tria­li­sie­rungs­tag einführte. Auf das Schei­tern der Dekade für indus­tri­elle Entwick­lung in Afrika folgte eine zweite Dekade (1993–2002) und dann eine dritte (2016–2025). Im Januar 2015 verab­schie­dete die Afri­ka­ni­sche Union die Agenda 2063, um das Gebot der Indus­tria­li­sie­rung mit Afri­kas Enga­ge­ment für die Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung zu verbin­den. Diese «Jahr­zehnte» und die Agenda 2063 sind nur noch symbo­lisch. Es gibt weder eine Agenda zum Abbau der Auslands­ver­schul­dung und der Last des Schul­den­diens­tes noch eine Poli­tik zur Schaf­fung eines Klimas, das die indus­tri­elle Entwick­lung voran­treibt oder die Finan­zie­rung der Grund­ver­sor­gung ermöglicht.

Pan Jian­glong (China), 撒哈拉以东 («Im Osten der Sahara») , 2017

Auf dem China-Africa Leaders’ Dialo­gue, der am Rande des fünf­zehn­ten BRICS-Gipfels (Brasi­lien-Russ­land-Indien-China-Südafrika) in Johan­nes­burg statt­fand, hat China die Initia­tive zur Unter­stüt­zung der Indus­tria­li­sie­rung Afri­kas ins Leben geru­fen, «um Afrika beim Ausbau des verar­bei­ten­den Gewer­bes und bei der Indus­tria­li­sie­rung und wirt­schaft­li­chen Diver­si­fi­zie­rung zu unter­stüt­zen». Die chine­si­sche Regie­rung sagte zu, ihre Finanz­mit­tel für den Bau von Infra­struk­tu­ren, die Planung und Einrich­tung von Indus­trie­parks und die Unter­stüt­zung afri­ka­ni­scher Regie­run­gen und Unter­neh­men bei der Entwick­lung ihrer Indus­trie­po­li­tik und ihrer Indus­trien zu erhö­hen. Diese neue Initia­tive baut auf Chinas Zusa­gen auf dem Pekin­ger Gipfel des Forums für chine­sisch-afri­ka­ni­sche Zusam­men­ar­beit 2018 auf, die Infra­struk­tur auf dem Konti­nent zu stär­ken, seine eige­nen Erfah­run­gen mit der Indus­tria­li­sie­rung zu teilen und ein Entwick­lungs­pro­jekt zu unter­stüt­zen, das aus der afri­ka­ni­schen Erfah­rung heraus entsteht und nicht eines, das den afri­ka­ni­schen Staa­ten vom IWF oder ande­ren Agen­tu­ren aufge­zwun­gen wird.

Diese Woche haben Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch und Dong­sh­eng die dritte Ausgabe der inter­na­tio­na­len Ausgabe der Zeit­schrift Wenhua Zongh­eng (文化纵横) mit dem Titel China-Africa Rela­ti­ons in the Belt and Road Era («China-Afrika Bezie­hun­gen im Zeit­al­ter der Belt-and-Road-Inita­tive» veröf­fent­licht. Diese Ausgabe enthält drei Arti­kel, die von Grieve Chelwa, Zhou Jinyan und Tang Xiaoyang verfasst wurden. Profes­sor Zhou stellt in Über­ein­stim­mung mit dem Bericht des South Centre fest, dass die afri­ka­ni­schen Länder seit den 1980er Jahren im Wesent­li­chen entin­dus­tria­li­siert wurden und dass das wenige Wachs­tum, das die afri­ka­ni­schen Länder erleb­ten, eine Folge von hohen Prei­sen für expor­tierte Rohstoffe war. Sie weist darauf hin, dass die west­li­chen Länder – die Schul­den, Hilfe und Struk­tur­an­pas­sung anbie­ten – «nicht moti­viert sind, die afri­ka­ni­sche Indus­tria­li­sie­rung zu fördern». Unter Bezug­nahme auf die UN-Wirt­schafts­kom­mis­sion für Afrika und die Analyse der Indus­trie­po­li­tik der meis­ten afri­ka­ni­schen Länder hebt Profes­sor Zhou vier wich­tige Punkte hervor: Erstens muss der Staat bei jeder indus­tri­el­len Entwick­lung eine aktive Rolle spie­len; zwei­tens muss die Indus­tria­li­sie­rung auf regio­na­ler und konti­nen­ta­ler Ebene statt­fin­den – nicht nur inner­halb der afri­ka­ni­schen Staa­ten, da 86 Prozent des gesam­ten afri­ka­ni­schen Handels «immer noch mit ande­ren Regio­nen der Welt und nicht inner­halb des Konti­nents abge­wi­ckelt werden»; drit­tens müssen Urba­ni­sie­rung und Indus­tria­li­sie­rung koor­di­niert werden, damit die Städte auf dem Konti­nent nicht weiter zu großen Slums voller arbeits­lo­ser Jugend­li­cher heran­wach­sen; und vier­tens wird das verar­bei­tende Gewerbe der Motor der afri­ka­ni­schen Wirt­schafts­ent­wick­lung sein und nicht das Hirn­ge­spinst eines vom Dienst­leis­tungs­sek­tor getra­ge­nen Wachstums.

 

Diese Punkte leiten Profes­sor Zhou bei ihrer Einschät­zung, wie China den Prozess der afri­ka­ni­schen Indus­tria­li­sie­rung unter­stüt­zen kann. Beim Erfah­rungs­aus­tausch mit afri­ka­ni­schen Ländern stellt sie fest, dass «Chinas Fehl­schläge» ebenso wich­tig sind wie seine Erfolge.

In seinem Aufsatz zeich­net Profes­sor Tang die Bilanz der von China geführ­ten Belt and Road Initia­tive (BRI) auf dem Konti­nent nach. Die 2013 ins Leben geru­fene BRI ist erst ein Jahr­zehnt alt, was kaum genug Zeit lässt, um dieses massive, globale Infra­struk­tur- und Indus­trie­ent­wick­lungs­pro­jekt umfas­send zu bewer­ten. Auf dem zwei­ten Belt and Road Forum für inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit (April 2019) sagte UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res: «Mit dem Umfang der geplan­ten Inves­ti­tio­nen bietet [die BRI] eine echte Möglich­keit zur Schaf­fung einer gerech­te­ren, wohl­ha­ben­de­ren Welt für alle und kann zur Umkeh­rung der nega­ti­ven Auswir­kun­gen des Klima­wan­dels beitra­gen». Im Jahr 2022 veröf­fent­lich­ten die Verein­ten Natio­nen einen Bericht über die Rolle der BRI mit dem Titel Part­ne­ring for a Brigh­ter Shared Future («Part­ner­schaf­ten für eine bessere gemein­same Zukunft»), in dem fest­ge­stellt wurde, dass die BRI – im Gegen­satz zu den meis­ten ande­ren Entwick­lungs­pro­jek­ten – erheb­li­che Mittel für Infra­struk­tur­pro­jekte bereit­stellt, die die Grund­lage für die Indus­tria­li­sie­rung in Regio­nen bilden können, die zuvor Expor­teure von Rohstof­fen und Impor­teure von Indus­trie­er­zeug­nis­sen waren.

 

Aufbau­end auf solchen Einschät­zun­gen der BRI zeigt Profes­sor Tang drei prak­ti­sche Wege auf, wie die BRI die Indus­tria­li­sie­rung auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent geför­dert hat: erstens durch den Bau von Indus­trie­parks mit inte­grier­ten Ener­gie­quel­len und die Schaf­fung von Indus­trie­clus­tern aus mitein­an­der verbun­de­nen Unter­neh­men; zwei­tens durch den Aufbau von Indus­trien zur Versor­gung mit Infra­struk­tur­ma­te­ria­lien; und drit­tens durch die vorran­gige Produk­tion für lokale Märkte statt für den Export. Profes­sor Tang argu­men­tiert, dass China im Gegen­satz zur IWF-Poli­tik, die den afri­ka­ni­schen Ländern aufge­zwun­gen wird, «jedes Land ermu­tigt, seinen eige­nen Entwick­lungs­weg zu gehen und nicht blind einem Modell zu folgen».

 

Weder Tang noch Zhou noch Chelwa behaup­ten, dass China irgend­wie der Retter Afri­kas ist. Diese Zeiten sind vorbei. Kein Land und kein Konti­nent sucht seine Rettung woan­ders. Afri­kas Weg wird von Afrikaner*innen gestal­tet. Ange­sichts seiner eige­nen Erfah­run­gen mit dem Aufbau der verar­bei­ten­den Indus­trie gegen eine Struk­tur, die Abhän­gig­kei­ten repro­du­ziert, hat China jedoch viel weiter­zu­ge­ben. Da es über enorme Finanz­re­ser­ven verfügt und keine west­lich gepräg­ten Bedin­gun­gen stellt, kann China natür­lich eine Finan­zie­rungs­quelle für alter­na­tive Entwick­lungs­pro­jekte sein.

 

Im Dezem­ber 2022 erklärte der Präsi­dent der Afri­ka­ni­schen Entwick­lungs­bank, Akin­wumi Adesina, dass Afri­kas Wohl­stand nicht länger von Rohstoff­ex­por­ten abhän­gen dürfe, sondern von wert­schöp­fungs­in­ten­si­ven Fertig­pro­duk­ten. «In ganz Afrika», so Adina weiter, «müssen wir Kakao­boh­nen in Scho­ko­lade, Baum­wolle in Texti­lien und Klei­dung sowie Kaffee­boh­nen in Kaffee verwan­deln». Um mit der Zeit zu gehen, könn­ten wir hinzu­fü­gen, muss Afrika auch Kobalt und Nickel in Lithium-Ionen-Batte­rien und Elek­tro­au­tos und Kupfer und Silber in Smart­phones verwan­deln. In Ades­i­nas Aussage steckt Nkru­mahs Traum: Wie er 1963 schrieb, haben wir hier in Afrika alles, was nötig ist, um ein mäch­ti­ger, moder­ner, indus­tria­li­sier­ter Konti­nent zu werden.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.