Die gefährlichste Situation, mit der die Menschheit je konfrontiert war.
Der vierzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Seit 1947 misst die Weltuntergangsuhr die Wahrscheinlichkeit einer von Menschen verursachten Katastrophe, um die Welt vor der Möglichkeit eines nuklearen Holocausts zu warnen. Das Bulletin of the Atomic Scientists, das sich um diese Uhr kümmert, hatte sie ursprünglich auf sieben Minuten vor Mitternacht eingestellt, wobei Mitternacht im Grunde das Ende der Welt bedeutet. Am weitesten von Mitternacht entfernt stand die Uhr 1991, als sie auf 17 Minuten vor Mitternacht eingestellt war. Näher an Mitternacht als jetzt stand die Uhr nie. Seit 2020 zeigt sie 100 Sekunden vor Mitternacht, an der Schwelle des Untergangs. Der Grund für diese alarmierende Einstellung war der einseitige Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen im Jahr 2019. Dies sei die «gefährlichste Situation, mit der die Menschheit je konfrontiert war», sagte Mary Robinson, die frühere irische Präsidentin und ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen.
Als Beitrag zum Dialog über diese «gefährlichste Situation» hat das Tricontinental: Institute for Social Research eine neue Reihe von Texten mit dem Titel Studies on Contemporary Dilemmas herausgegeben. Zu diesen Dilemmas gehören die drängenden Fragen der Klima- und Umweltkatastrophe, die Erhöhung von Militärausgaben und die Gefahren der Kriegsführung sowie die zunehmende Anfälligkeit für Verzweiflung und Vereinzelung. Diese Dilemmas zu lösen liegt nicht jenseits unserer Möglichkeiten; unser Planet verfügt über die notwendigen Ressourcen, um sie anzugehen. Es mangelt uns nicht an Ideen oder Material; das Problem ist, dass es uns an politischer Macht fehlt. Seit Jahrzehnten liegen einige der in der Welt notwendigen politischen Maßnahmen wie in Bernstein eingeschlossen in der Charta der Vereinten Nationen und werden von denjenigen ignoriert, die Macht, Privilegien und Eigentum horten. Unsere Studien über zeitgenössische Dilemmas sollen Debatten über die großen Themen unserer Zeit anregen, in der Hoffnung, dass diese Debatten die gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren, um den drohenden Weltuntergang zu verhindern.
Die erste Studie in dieser Reihe, die in Zusammenarbeit mit Monthly Review und No Cold War entstanden ist, trägt den Titel The United States Is Waging a New Cold War: A Socialist Perspective («Die Vereinigten Staaten führen einen Neuen Kalten Krieg: Eine sozialistische Perspektive»). Die Texte liefern eine genaue Einschätzung der Politik der Vereinigten Staaten, die darauf abzielt, ihre Kontrolle über das internationale System aufrechtzuerhalten, auch durch ihr Streben nach nuklearer Vorrangstellung und ihre Bereitschaft, sogar einen «begrenzten Atomkrieg» zum Erreichen ihrer Ziele zu beginnen. Eine von der Princeton University im Jahr 2020 durchgeführte Simulation eines Atomkriegs hat gezeigt, dass ein einziger taktischer Schlag durch eine beliebige Atommacht den sofortigen Tod von 91,5 Millionen Menschen zur Folge haben würde; «Todesfälle durch nuklearen Fallout und andere langfristige Auswirkungen würden diese Schätzung erheblich erhöhen», konstatieren die Forscher*innen.
In unserer Studie schreibt John Bellamy Foster, Herausgeber der Monatszeitschrift Monthly Review: «Genauso wie die volle zerstörerische Tragweite des Klimawandels, der die Existenz der Menschheit bedroht, von den Machthabern größtenteils geleugnet wird, werden auch die komplexen planetarischen Auswirkungen eines Atomkriegs geleugnet, der laut wissenschaftlichen Befunden über den nuklearen Winter die Bevölkerung jedes Kontinents der Erde auslöschen würde». Unsere Rufe nach Frieden müssen daher ebenso laut sein wie unsere Aufrufe zur Rettung des Planeten vor der Klimakatastrophe.
Nach den US-Atomangriffen auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 veröffentlichte der Weltfriedensrat den Stockholmer Appell:
«Wir fordern das absolute Verbot der Atomwaffe als einer Waffe des Schreckens und der Massenvernichtung der Bevölkerung. Wir fordern die Errichtung einer strengen internationalen Kontrolle, um die Durchführung des Verbotes zu sichern.
Wir sind der Ansicht, dass die Regierung, die als erste die Atomwaffe gegen irgendein Land benutzt, ein Verbrechen gegen die Menschheit begeht und als Kriegsverbrecher zu behandeln ist. Wir rufen alle Menschen der Welt, die guten Willens sind, auf, diesen Appell zu unterzeichnen.»
Innerhalb von zwei Wochen unterzeichneten 1,5 Millionen Menschen den Appell.
1947 riefen die Hibakusha (die Überlebenden des Atomangriffs) und der damalige Bürgermeister von Hiroshima, Shinzo Hamai, den Hiroshima-Tag ins Leben, der seither jährlich am 6. August begangen wird. Die Friedensglocke im Hiroshima Peace Memorial Museum and Park läutet um 8:15 Uhr, dem exakten Zeitpunkt der Bombenexplosion, und Papierkraniche und Papierlaternen schwimmen auf dem Wasser in der Nähe des Genbaku Dome, dem einzigen Gebäude, das von dem Gemetzel noch steht. Die Bedeutung und die Lebendigkeit des Hiroshima-Tages sind inzwischen verblasst. Es ist zwingend notwendig, diesen Tag als Teil des Prozesses zur Rettung des kollektiven Lebens wiederzubeleben.
Unsere zweite Studie in dieser Reihe nahm einen Monat nach Beginn des Krieges in der Ukraine Gestalt an, als Tricontinental: Institute for Social Research ein Gespräch mit Jeremy Corbyn, Mitglied des britischen Parlaments und ehemaliger Vorsitzender der britischen Labour-Partei, und seinem Team vom Peace and Justice-Projekt begann. Wir fanden, dass es dringend notwendig ist, die Friedensbewegung anzuregen mit Diskussionen über die unterschiedlichen Katastrophen, die von der Ukraine ausgehen, einschließlich der Inflation, die außer Kontrolle geraten ist. Wir luden eine Reihe von Schriftsteller*innen – von Brasilien bis zum Vereinigten Königreich, von Südafrika bis Indien – ein, um anhand des wichtigen Konzepts der Blockfreiheit, das aus den antikolonialen Kämpfen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist, über die gegenwärtige Krise nachzudenken. Diese Essays, die in Zusammenarbeit mit Morning Star, Globetrotter und dem Peace and Justice Project entstanden sind, wurden nun als Looking Over the Horizon at Nonalignment and Peace («Blicke über den Horizont hinaus auf Blockfreiheit und Frieden»), Studies on Contemporary Dilemmas no. 2 veröffentlicht.
In seinem Beitrag zu dieser Broschüre denkt Corbyn über die Idee des Friedens in unserer Zeit nach:
«Manche sagen, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, in einer Zeit des Krieges über Frieden zu sprechen; das Gegenteil ist der Fall. Es ist der Mut von Friedensaktivist*innen auf der ganzen Welt, der einige Regierungen davon abgehalten hat, sich in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien, im Jemen oder in einem der Dutzenden anderen Konflikte zu engagieren.
Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg; er ist echte Sicherheit. Die Sicherheit zu wissen, dass man zu essen hat, dass seine Kinder eine Ausbildung erhalten und versorgt werden und dass die Gesundheitsversorgung gewährleistet ist, wenn man sie braucht. Für Millionen von Menschen ist das heute nicht mehr gegeben; die Folgen des Krieges in der Ukraine werden dies für weitere Millionen Menschen bedeuten.
In der Zwischenzeit erhöhen viele Länder ihre Rüstungsausgaben und investieren ihre Ressourcen in immer gefährlichere Waffen. Die Vereinigten Staaten haben gerade ihren bisher größten Verteidigungshaushalt verabschiedet. Diese Mittel, die für Waffen verwendet werden, sind allesamt Mittel, die nicht für Gesundheit, Bildung, Wohnen oder Umweltschutz eingesetzt werden.
Wir leben in einer gefährlichen und bedrohlichen Zeit. Wenn wir dem Grauen zusehen und uns auf weitere Konflikte in der Zukunft einstellen, werden wir die Klimakrise, die Armutskrise oder die Nahrungsmittelversorgung nicht in den Griff bekommen. Es liegt an uns allen, Bewegungen aufzubauen und zu unterstützen, die einen anderen Kurs für Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle einschlagen».
Ein solch klares Bekenntnis zu einer Welt des Friedens ist das Gegenmittel, das wir brauchen, um das zu bewältigen, wovor Mary Robinson gewarnt hat, nämlich die «gefährlichste Situation, mit der die Menschheit je konfrontiert war».
Am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen trafen sich 19 Mitgliedstaaten der Freundesgruppe zur Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen, um über die Notwendigkeit zu diskutieren, den Multilateralismus zu stärken und «kollektive, integrative und wirksame Lösungen für die gemeinsamen Herausforderungen und Bedrohungen des 21. Jahrhunderts zu erarbeiten«. Kollektiv und gemeinsam: das müssen unsere Schlüsselwörter sein. Weniger Spaltung, mehr Gemeinsamkeit; nicht für den Krieg rüsten, sondern für den Frieden bauen.
Die Sprache der Freundesgruppe steht in der Tradition der Bewegung der Blockfreien und der Afrikanisch-Asiatischen Konferenz, die 1955 in Bandung, Indonesien, stattfand. Als sich die Anführer*innen der neuen postkolonialen Staaten in Bandung trafen und über Blockfreiheit und Frieden sprachen, schrieb der malaysische sozialistische Dichter Usman Awang (1929–2001) das Gedicht Bunga Popi («Mohnblumen») über die Hässlichkeit des Krieges:
Aus Blut, aus Eiter, der im Boden verrottet,
aus Skeletten, die ihr Leben verloren,
entrissen durch Waffen,
das Werk von Kriegsbesessenen, die die Liebe töten,
blühen die roten Blumen wunderschön,
und verlangen, angebetet zu werden.
Herzlichst,
Vijay