Eine Welt ohne Hunger
Der vierzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 1. Oktober wurde die Internationale Versammlung der Völker (International People’s Association, kurz IPA), ein Netzwerk von über 200 sozialen und politischen Bewegungen, der Öffentlichkeit vorgestellt. Die IPA geht auf ein Treffen zurück, das 2015 in Brasilien stattfand und bei dem führende Persönlichkeiten der Bewegungen zusammenkamen, um über die gefährliche Situation in der Welt zu sprechen. Bei diesem Treffen, das den Namen Dilemmas of Humanity trug, wurde die Idee geboren, die IPA und drei Partnerprozesse ins Leben zu rufen: ein Mediennetzwerk (Peoples Dispatch), ein Netzwerk politischer Schulen (International Collective of Political Education) und ein Forschungsinstitut (Tricontinental: Institute for Social Research). Im Laufe der nächsten Monate werde ich mehr über die Geschichte der IPA und ihre allgemeine Ausrichtung schreiben.
Jedes Jahr am 16. Oktober begehen die Vereinten Nationen den Welternährungstag. In diesem Jahr werden die IPA, Peoples Dispatch, das International Collective of Political Education und Tricontinental: Institute for Social Research eine politische Kampagne zur Beendigung des Hungers durchführen. Im Vorfeld dieses Tages hat Peoples Dispatch in Zusammenarbeit mit sechs Medienplattformen bereits eine Reihe von Geschichten produziert, die den Hunger in der heutigen Welt und den Widerstand der Menschen dagegen aufdecken; das International Collective of Political Education führt eine Seminarreihe mit dem Titel «Umweltkrise und Kapitalismus» durch, in der Elemente einer nicht nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion untersucht werden.
Es gibt nichts Obszöneres als die Existenz von Hunger, die schreckliche Demütigung, hart zu arbeiten, aber nicht die Mittel zu haben, sich zu ernähren. Aus diesem Grund haben wir Red Alert Nr. 12, «Eine Welt ohne Hunger», verfasst, um unser Denken über Hunger und Lebensmittel zu schärfen und unsere Kampagnen zur Beendigung des Hungers zu verstärken.
Warum gibt es in einer Welt des Überflusses immer noch Hunger?
Hunger ist untragbar.
Der Hunger in der Welt, von 2005 bis 2014 auf dem Rückzug, nimmt wieder zu; der Welthunger ist jetzt auf dem Stand von 2010. Die große Ausnahme ist China, das die extreme Armut im Jahr 2020 ausgerottet hat. Der Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2021, The State of Food Insecurity and Nutrition in the World, stellt fest, dass «fast jeder dritte Mensch auf der Welt (2,37 Milliarden) im Jahr 2020 keinen Zugang zu angemessener Nahrung hatte – ein Anstieg um fast 320 Millionen Menschen in nur einem Jahr». Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen geht davon aus, dass sich die Zahl der Hungernden fast verdoppeln könnte, bevor die COVID-19-Pandemie eingedämmt ist, «wenn nicht schnell gehandelt wird».
Wissenschaftler*innen weisen darauf hin, dass es keinen Mangel an Nahrungsmitteln für die Bevölkerung gibt: Tatsächlich ist das Gesamtangebot an Kalorien pro Kopf in der Weltbevölkerung gestiegen. Die Menschen hungern nicht, weil es zu viele von uns gibt, sondern weil bäuerliche Subsistenzproduzent*innen auf der ganzen Welt von der Agrarindustrie von ihrem Land vertrieben und in die Slums der Städte gedrängt werden, wo der Zugang zu Nahrungsmitteln vom Einkommen abhängt. Infolgedessen haben Milliarden von Menschen nicht die Mittel, sich Lebensmittel zu kaufen.
Alle historischen Untersuchungen zeigen, dass Hungersnöte nicht in erster Linie durch einen Mangel an Nahrungsmitteln verursacht werden, sondern durch fehlende Wege, an Nahrungsmittel zu gelangen. Wie die FAO 2014 schrieb, «versagen die derzeitigen Systeme der Nahrungsmittelproduktion und ‑verteilung bei der Ernährung der Welt. Während die Landwirtschaft genug Nahrung für 12 bis 14 Milliarden Menschen produziert, leben etwa 850 Millionen Menschen – oder jeder achte Mensch auf der Welt – mit chronischem Hunger». Dieses Versagen lässt sich unter anderem daran ablesen, dass ein Drittel aller produzierten Lebensmittel entweder bei der Verarbeitung und beim Transport verloren geht oder verschwendet wird. Es ist nicht die Überbevölkerung, die den Hunger verursacht, wie oft behauptet wird, sondern vielmehr die Ungleichheit und ein profitorientiertes, von der Agrarindustrie dominiertes Lebensmittelsystem, in dem das materielle Grundbedürfnis nach Nahrung für Hunderte von Millionen Menschen – mindestens – geopfert wird, um den Profithunger einiger Weniger zu stillen.
Was ist Ernährungssouveränität?
Seit 1996 sind die beiden Begriffe Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität in aller Munde.
Die Idee der Ernährungssicherheit, die aus antikolonialen und sozialistischen Kämpfen hervorgegangen ist und auf der Welternährungskonferenz der FAO (1974) formell festgelegt wurde, ist eng mit der Idee der nationalen Nahrungsmittelselbstversorgung verbunden. Im Jahr 1996 wurde das Konzept der Ernährungssicherheit im Rahmen der Erklärung von Rom erweitert, um die Bedeutung des wirtschaftlichen Zugangs zu Nahrungsmitteln in den Mittelpunkt zu rücken, und die Regierungen verpflichteten sich, durch eine entsprechende Einkommens- und Verteilungspolitik die Versorgung aller Menschen mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.
In den frühen 1990er Jahren wurde die Idee der Ernährungssouveränität von La Via Campesina geprägt, einem internationalen Netzwerk, dem heute 200 Millionen Bauern und Bäuerinnen aus 81 Ländern angehören, und das nicht nur fordert, dass Regierungen Nahrungsmittel liefern, sondern auch, dass Menschen in die Lage versetzt werden, Grundnahrungsmittel zu produzieren. Die Ernährungssouveränität wurde im Zusammenhang mit der Schaffung eines Landwirtschafts- und Lebensmittelsystems definiert, das «das Recht der Menschen auf gesunde und kulturell angemessene Lebensmittel, die mit nachhaltigen Methoden erzeugt werden, und ihr Recht, ihre eigenen Lebensmittel- und Landwirtschaftssysteme zu bestimmen», sichert.
Mehr als ein Jahrzehnt später veranstalteten La Via Campesina, der World March of Women und verschiedene Umweltgruppen im Jahr 2007 in Nyéléni (Mali) das Internationale Forum für Ernährungssouveränität. Auf diesem Forum erarbeiteten sie sechs Kernkomponenten der Ernährungssouveränität:
- Die Bedürfnisse der Menschen und nicht die Bedürfnisse des Kapitals in den Mittelpunkt stellen.
- Die Wertschätzung der Lebensmittelproduzenten, insbesondere durch die Schaffung von Maßnahmen, die die Landwirt*innen wertschätzen und ihre Lebensgrundlage verbessern.
- Stärkung des Lebensmittelsystems, indem sichergestellt wird, dass lokale, regionale und nationale Netzwerke mit denjenigen zusammenarbeiten, die Lebensmittel produzieren, und denjenigen, die Lebensmittel konsumieren. Das würde die Beteiligung von Lebensmittelerzeuger*innen und ‑verbraucher*innen an der Schaffung und Reproduktion von Lebensmittelsystemen stärken und sicherstellen, dass der Versuch, gerechte Lebensmittelmärkte zu schaffen, nicht von minderwertigen und ungesunden Lebensmitteln erdrückt wird.
- Die Kontrolle der Lebensmittelproduktion zu lokalisieren, d.h. denjenigen, die Lebensmittel produzieren, das Recht zur Bestimmung darüber zu geben, wie das Land und die Ressourcen organisiert werden.
- Der Aufbau von Wissen und Fähigkeiten, die das lokale Wissen über die Lebensmittelproduktion ernst nehmen und wissenschaftlich weiterentwickeln.
- Im Einklang mit der Natur zu arbeiten und die Schädigung der Ökosysteme durch landwirtschaftliche Praktiken, die die Natur zerstören, zu minimieren.
Die Idee des «Lokalen» erfordert genaues Hinschauen auf die Hierarchien von Klasse, Ethnie und Geschlecht; es gibt keine «lokale Gemeinschaft» oder «lokale Wirtschaft», die nicht durch die Ausbeutung und Gewalt dieser Hierarchien betroffen ist. Ebenso muss das lokale Wissen neben den Fortschritten der modernen Wissenschaft gesehen werden, deren Durchbrüche im Bereich der Landwirtschaft nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Was die Plattform der Ernährungssouveränität eint, ist die scharfe Linie, die sie zur Abgrenzung von der kapitalistischen Form der Nahrungsmittelproduktion zieht.
Der liberalisierte Handel und die Spekulation bei der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln führen zu schwerwiegenden Verzerrungen. Die Liberalisierung des Handels birgt nicht nur die Gefahr billigerer Importe, die die Preise für Nahrungsmittel drücken, sondern führt auch zu einer stärkeren Preisvolatilität, da die internationalen Preise auf die heimischen Märkte durchschlagen. Eine solche Liberalisierung droht auch die Anbaumuster in den Entwicklungsländern zu verändern, um den Anforderungen reicherer Staaten gerecht zu werden, und untergräbt damit die Ernährungssouveränität. Im Jahr 2010 warnte der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, vor der Art und Weise, wie Hedgefonds, Pensionsfonds und Investmentbanken durch Spekulationen mit Rohstoffderivaten der Landwirtschaft zusetzen. Diese Finanzmethoden, schrieb er, geschähen «prinzipiell ohne Rücksicht auf die Grundlagen des Agrarmarktes». Finanzspekulationen in der Landwirtschaft sind ein Beispiel für die Missachtung eines ausgewogenen Lebensmittelproduktionssystems, das sowohl den Erzeuger*innen als auch den Verbraucher*innen zugute kommt. Sie ermutigen, mit der Macht des Geldes das Lebensmittelproduktionssystem zu verfälschen.
Das Konzept der Ernährungssouveränität ist ein Argument gegen diese Art von Verzerrung, die auf der Landnahme durch Agrarkonzerne beruht. Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben Agrarkonzerne wie Unilever und Monsanto die große globale Konsolidierung der Agrarkonzerne und ihrer Besitzungen vorangetrieben, die größte Massenbewegung der Geschichte ausgelöst und dabei die Beziehung zwischen Menschen und Land zerstört.
Zwei Resolutionen der Vereinten Nationen – eine zur Erklärung des Rechts auf Wasser (2010) und die andere zur Bekräftigung der Rechte der Bauern und Bäuerinnen (2018) – werden uns helfen, ein neues Agrarsystem zu gestalten, das die Rechte der Erzeuger*innen (einschließlich des Zugangs zu Land) und den Respekt vor der Natur in den Mittelpunkt stellt und das Wasser als Gemeingut und nicht als Ware behandelt.
Wie schaffen wir ein gerechtes System der Lebensmittelproduktion und ‑verteilung?
Die Bäuer*innen- und Landarbeiter*innenorganisationen haben hinreichende Kenntnisse über das Versagen der kapitalistischen Form der Nahrungsmittelproduktion gewonnen. Sie fordern eine andere Form, die auf einer breiteren demokratischen Beteiligung am Aufbau und an der Reproduktion von Nahrungsmittelsystemen besteht, eine Beteiligung, die das Eingreifen der Regierungen einschließt und das der Hilfsorganisationen oder des Privatsektors ausschliesst. Aus ihren zahlreichen Forderungen haben wir die folgenden Punkte herausdestilliert:
- Den Menschen wirtschaftliche Macht geben durch:
a) die Durchführung einer Agrarreform für Bäuerinnen und Bauern, damit sie Zugang zu Land und Ressourcen haben, um das Land zu bewirtschaften.
b) Entwicklung geeigneter Produktionsformen, die – unter anderem – Formen kollektiven Handelns fördern, um Größenvorteile zu nutzen.
c) Einführung der lokalen Selbstverwaltung in ländlichen Gebieten, in denen die Bauern und Bäuerinnen die notwendige politische Macht haben, um eine Politik zu gestalten, die ihrem Leben und dem Schutz des Ökosystems zugutekommt.
d) Stärkung der sozialen Sicherungssysteme, damit die Bäuerinnen und Bauern in schlechten Zeiten (schlechtes Wetter, schlechte Ernten usw.) geschützt sind.
e) Aufbau öffentlicher Verteilungssysteme mit besonderem Schwerpunkt auf der Beseitigung des Hungers.
f) Sicherstellung der Versorgung der öffentlichen Schulen und Kinderkrippen mit gesunden Lebensmitteln.
- Maßnahmen zur Rentabilität der Landwirtschaft entwickeln und umsetzen, die dazu dienen
a) das Dumping durch billigere Lebensmittel aus den landwirtschaftlichen Systemen des globalen Nordens, die von massiven Subventionen profitieren, zu verhindern.
b) den Zugang ländlicher Erzeuger*innen zu erschwinglichen Bankkrediten auszuweiten und von informellen Kreditgebern zu entlasten.
c) eine Politik zu schaffen, die Mindestpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse gewährleistet.
d) öffentlich finanzierte, nachhaltige Bewässerungssysteme, Transportsysteme, Lagereinrichtungen und damit verbundene Infrastruktur zu entwickeln.
e) Lebensmittelproduktion des Genossenschaftssektors zu stärken und die Beteiligung der Bevölkerung an der Lebensmittelproduktion und den Vertriebssystemen zu fördern.
f) wissenschaftliche und technische Kapazitäten für eine nachhaltige und ökologische Landwirtschaft aufzubauen.
g) Patente auf Saatgut abzuschaffen und die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz einheimischen Saatguts vor der Kommerzialisierung durch die Agroindustrie zu fördern.
h) moderne landwirtschaftliche Betriebsmittel zu erschwinglichen Preisen bereitzustellen.
- Gestaltung eines demokratischen internationalen Handelssystems durch
a) Demokratisierung der Welthandelsorganisation, was Folgendes beinhalten würde:
- Stärkere nationale Beteiligung der Länder des Globalen Südens an der Ausarbeitung der Verhandlungsregeln, größere Offenheit des Verhandlungsprozesses (einschließlich der Veröffentlichung von Berichten und der Aushandlung von Texten) und stärkere Beteiligung von Bäuer*innenorganisationen am Prozess der Regelsetzung.
- Mehr Transparenz bei den Mechanismen für Handelsstreitigkeiten. Dazu gehört die rechtzeitige Bekanntgabe von Streitfällen und der Form der Schlichtung sowie die öffentliche Bekanntgabe von gerichtlichen Entscheidungen.
b) Geringere Abhängigkeit bei der Gestaltung der Politik und der Beilegung von Streitigkeiten von mächtigen Plattformen des globalen Nordens wie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten der Weltbank. Diese Gremien werden vom Globalen Norden kontrolliert und arbeiten fast ausschließlich im Interesse der im Globalen Norden ansässigen multinationalen Konzerne.
Diese Vorschläge finden sich auch in der politischen Plattform der IPA wieder; folgt unbedingt ihren verschiedenen Social-Media-Kanälen auf Facebook, Twitter und Instagram, wo weitere Informationen über die Aktivitäten rund um die Kampagne zur Beendigung des Hungers bekannt gegeben werden.
Herzlichst,
Vijay