Wenn das Volk nichts mehr zu essen hat, wird es die Reichen fressen.

Der dritte Newsletter (2023).

Maruja Mallo (Spanien), La Verbena, 1927.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 8. Januar stürmte ein Mob, geklei­det in die Farben der brasi­lia­ni­schen Flagge, die Haupt­stadt des Landes, Brasí­lia. Sie dran­gen in Bundes­ge­bäude ein, darun­ter den Kongress, den Obers­ten Gerichts­hof und den Präsi­den­ten­pa­last, und verwüs­te­ten öffent­li­ches Eigen­tum. Der Angriff der Anhänger*innen des ehema­li­gen Präsi­den­ten Jair Bolso­n­aro kam nicht über­ra­schend, denn die Randa­lie­rer hatten in den sozia­len Medien seit Tagen «Wochen­end­de­mons­tra­tio­nen» ange­kün­digt. Als Luiz Inácio Lula da Silva (bekannt als Lula) eine Woche zuvor, am 1. Januar, offi­zi­ell als neuer brasi­lia­ni­scher Präsi­dent verei­digt wurde, kam es nicht zu Hand­ge­men­gen; es scheint, dass die Vanda­len gewar­tet haben, bis die Stadt ruhig und Lula selbst nicht mehr in der Stadt war. Dieser Angriff ein Akt extre­mer Feigheit.

 

Der besiegte Bolso­n­aro war zu diesem Zeit­punkt schon längst nicht mehr in Brasí­lia. Er floh schon vor der Amts­ein­füh­rung Lulas aus Brasi­lien – vermut­lich, um einer Straf­ver­fol­gung zu entge­hen – und suchte Zuflucht in Orlando, Florida (in den Verei­nig­ten Staa­ten). Auch wenn Bolso­n­aro nicht in Brasí­lia war, hinter­lie­ßen die Bolso­na­ris­tas, wie seine Anhän­ger genannt werden, über­all in der Stadt ihre Spuren. Noch bevor Bolso­n­aro im vergan­ge­nen Okto­ber die Wahl gegen Lula verlor, meinte Le Monde Diplo­ma­tique Brasil, dass Brasi­lien einen «Bolso­na­ris­mus ohne Bolso­n­aro» erle­ben werde. Diese Vorher­sage wird durch die Tatsa­che gestützt, dass die rechts­extreme Libe­rale Partei, die während der Präsi­dent­schaft Bolso­n­a­ros als poli­ti­sches Vehi­kel diente, den größ­ten Block in der Abge­ord­ne­ten­kam­mer und im Senat des Landes stellt, während der toxi­sche Einfluss des rech­ten Flügels sowohl in den gewähl­ten Gremien als auch im poli­ti­schen Klima Brasi­li­ens, insbe­son­dere in den sozia­len Medien, fortbesteht.

Mayo (Ägyp­ten), Un soir à Cannes, 1948.

Die beiden für die öffent­li­che Sicher­heit in Brasí­lia zustän­di­gen Männer – Ander­son Torres (Sekre­tär für öffent­li­che Sicher­heit des Bundes­di­strikts) und Iban­eis Rocha (Gouver­neur des Bundes­di­strikts) – stehen Bolso­n­aro nahe. Torres war in Bolso­n­a­ros Regie­rung Minis­ter für Justiz und öffent­li­che Sicher­heit, während Rocha Bolso­n­aro bei der Wahl offi­zi­ell unter­stützte. Als die Bolso­na­ris­tas ihren Angriff auf die Haupt­stadt vorbe­rei­te­ten, schie­nen sich beide Männer ihrer Verant­wor­tung zu entzie­hen: Torres befand sich im Urlaub in Orlando, während Rocha am letz­ten Arbeits­tag vor dem Putsch­ver­such den Nach­mit­tag frei nahm. Wegen der Mitschuld an der Gewalt wurde Torres von seinem Posten entlas­sen und ange­klagt, während Rocha suspen­diert wurde. Die Bundes­re­gie­rung hat Sicher­heits­vor­keh­run­gen getrof­fen und über tausend dieser «fana­ti­schen Nazis», wie Lula sie nannte, verhaf­tet. Man kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass diese «fana­ti­schen Nazis» keine Amnes­tie verdient haben.


Bei den Slogans und Schil­dern, die am 8. Januar in Brasí­lia zu sehen waren, ging es weni­ger um Bolso­n­aro als viel­mehr um den Hass der Randa­lie­rer auf Lula und das Poten­zial seiner volks­na­hen Regie­rung. Diese Stim­mung wird von großen Wirt­schafts­zwei­gen – vor allem der Agrar­in­dus­trie – geteilt, die über die von Lula vorge­schla­ge­nen Refor­men verär­gert sind. Der Angriff war zum Teil das Ergeb­nis der aufge­stau­ten Frus­tra­tion der Menschen, die durch gezielte Fehl­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und den Einsatz des Justiz­sys­tems, um Lulas Partei, die Arbei­ter­par­tei (PT), durch «lawfare» zu stür­zen, zu der Über­zeu­gung gelangt sind, dass Lula ein Krimi­nel­ler sei – obwohl die Gerichte dies für falsch erklärt haben. Es war auch eine Warnung der brasi­lia­ni­schen Eliten. Der wider­sprüch­li­che Charak­ter des Angriffs auf Brasí­lia ähnelt dem Angriff von Anhän­gern des ehema­li­gen US-Präsi­den­ten Donald Trump auf das US-Kapi­tol am 6. Januar 2021. In beiden Fällen symbo­li­sie­ren rechts­extreme Illu­sio­nen – sei es über die Gefah­ren des «Sozia­lis­mus» von US-Präsi­dent Joe Biden oder des «Kommu­nis­mus» von Lula – den feind­se­li­gen Wider­stand der Eliten gegen jede noch so vorsich­tige Abkehr von der neoli­be­ra­len Austerität.

Kartick Chandra Pyne (Indien), Workers, 1965.

Die Anschläge auf Regie­rungs­ge­bäude in den Verei­nig­ten Staa­ten (2021) und Brasi­lien (2023) sowie der jüngste Putsch in Peru (2022) sind keine zufäl­li­gen Ereig­nisse; dahin­ter steckt ein Muster, das es zu unter­su­chen gilt. Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch beschäf­ti­gen wir uns seit unse­rer Grün­dung vor fünf Jahren mit dieser Unter­su­chung; in unse­rer ersten Veröf­fent­li­chung, In the Ruins of the Present (März 2018), haben wir eine vorläu­fige Analyse dieses Musters vorge­legt, die ich im Folgen­den weiter ausfüh­ren werde.

 

Nach­dem die Sowjet­union 1991 zusam­men­brach und das Dritte-Welt-Projekt infolge der Schul­den­krise verküm­merte, setzte sich die US-gesteu­erte Agenda der neoli­be­ra­len Globa­li­sie­rung durch. Dieses Programm war durch den Rück­zug des Staa­tes aus der Regu­lie­rung des Kapi­tals und durch die Aushöh­lung der Sozi­al­po­li­tik gekenn­zeich­net. Der neoli­be­rale Rahmen hatte zwei wesent­li­che Folgen: erstens einen rasan­ten Anstieg der sozia­len Ungleich­heit mit der Zunahme der Milli­ar­däre auf der einen und der Armut auf der ande­ren Seite sowie einer Verschär­fung der Ungleich­heit zwischen Nord und Süd; und zwei­tens die Konso­li­die­rung einer «zentris­ti­schen» poli­ti­schen Kraft, die so tat, als sei die Geschichte und damit die Poli­tik zu Ende, so dass nur noch die Verwal­tung (die in Brasi­lien tref­fend als centrão oder «Zentrum» bezeich­net wird) übrig blieb. Die meis­ten Länder der Welt fielen sowohl der neoli­be­ra­len Spar­po­li­tik als auch dieser Ideo­lo­gie vom «Ende der Poli­tik» zum Opfer, die zuneh­mend anti­de­mo­kra­tisch wurde und dafür sorgte, dass Tech­no­kra­ten das Sagen hatten. Diese Austeri­täts­po­li­tik, die die Menschen bis ins Mark trifft, führte jedoch zu einer neuen Poli­tik auf der Straße, die sich in den «IWF-Unru­hen» und den «Brot­un­ru­hen» der 1980er Jahre ankün­digte und später in die «Anti­glo­ba­li­sie­rungs­pro­teste» mündete. Die von den USA voran­ge­trie­bene Globa­li­sie­rungs­agenda brachte neue Wider­sprü­che hervor, die das Argu­ment wider­leg­ten, die Poli­tik sei am Ende.

Leonora Carri­ng­ton (Mexiko), Figu­ras fantá­sti­cas a caballo, 2011.

Die Große Rezes­sion, die mit der globa­len Finanz­krise 2007-08 einsetzte, entkräf­tete zuneh­mend die poli­ti­sche Glaub­wür­dig­keit der «Zentris­ten», die das Spar­maß­nah­men­re­gime verwal­tet hatten. Der World Inequa­lity Report 2022 ist eine Anklage gegen das Erbe des Neoli­be­ra­lis­mus. Die Vermö­gens­un­gleich­heit ist heute genauso groß wie in den ersten Jahren des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts: Die ärmste Hälfte der Welt­be­völ­ke­rung besitzt im Durch­schnitt nur 4.100 Dollar pro Erwach­se­nem (in Kauf­kraft­pa­ri­tät), während die reichs­ten 10 Prozent 771.300 Dollar besit­zen – etwa 190 Mal so viel Vermö­gen. Die Einkom­mens­un­gleich­heit ist ebenso gravie­rend: Die reichs­ten 10 Prozent verfü­gen über 52 Prozent des Welt­ein­kom­mens, während den ärms­ten 50 Prozent nur 8,5 Prozent des Welt­ein­kom­mens verblei­ben. Noch schlim­mer wird es, wenn man sich die Super­rei­chen ansieht. Zwischen 1995 und 2021 wuchs der Reich­tum des obers­ten einen Prozent astro­no­misch an und verein­nahmte 38 Prozent des welt­wei­ten Reich­tums, während auf die unte­ren 50 Prozent nur «erschre­ckende zwei Prozent» entfal­len, schrei­ben die Autoren des Berichts. Im glei­chen Zeit­raum stieg der Anteil der obers­ten 0,1 Prozent am welt­wei­ten Reich­tum von 7 Prozent auf 11 Prozent. Dieser obszöne Reich­tum – der größ­ten­teils nicht besteu­ert wird – verschafft diesem winzi­gen Teil der Welt­be­völ­ke­rung einen unver­hält­nis­mä­ßig großen Einfluss auf das poli­ti­sche Leben und die Infor­ma­tion und schränkt die Möglich­kei­ten der Armen zum Über­le­ben immer mehr ein.

 

Der Bericht Global Econo­mic Pros­pects der Welt­bank (Januar 2023) prognos­ti­ziert, dass das Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) in 92 der ärme­ren Länder der Welt Ende 2024 um 6 Prozent unter dem Niveau liegen wird, das am Vorabend der Pande­mie erwar­tet wurde. Zwischen 2020 und 2024 werden diese Länder voraus­sicht­lich einen kumu­la­ti­ven BIP-Verlust in Höhe von etwa 30 Prozent ihres BIP von 2019 erlei­den. Da die Zentral­ban­ken der reichs­ten Länder ihre Geld­po­li­tik straf­fen, trock­net das Kapi­tal für Inves­ti­tio­nen in den ärme­ren Ländern aus, und die Kosten für bereits bestehende Schul­den sind gestie­gen. Die Welt­bank stellt fest, dass die Gesamt­ver­schul­dung in diesen ärme­ren Ländern «ein 50-Jahres-Hoch» erreicht hat. Etwa jedes fünfte dieser Länder ist «effek­tiv von den globa­len Schul­den­märk­ten ausge­sperrt», 2019 war es noch jedes fünf­zehnte. Alle diese Länder – mit Ausnahme Chinas – muss­ten während der Pande­mie einen beson­ders star­ken Inves­ti­ti­ons­rück­gang von mehr als 8 Prozent hinneh­men, einen stär­ke­ren Rück­gang als im Jahr 2009, als die Große Rezes­sion herrschte. Der Bericht schätzt, dass die Gesamt­in­ves­ti­tio­nen in diesen Ländern im Jahr 2024 um 8 Prozent nied­ri­ger sein werden als 2020 erwar­tet. Ange­sichts dieser Reali­tät stellt die Welt­bank folgende Prognose auf: «Schlep­pende Inves­ti­tio­nen schwä­chen die Wachs­tums­rate des Produk­ti­ons­po­ten­zi­als und verrin­gern die Fähig­keit der Volks­wirt­schaf­ten, das mitt­lere Einkom­men zu erhö­hen, den gemein­sa­men Wohl­stand zu fördern und Schul­den zurück­zu­zah­len». Mit ande­ren Worten: Die ärme­ren Länder werden tiefer in eine Schul­den­krise und in einen dauer­haf­ten Zustand sozia­ler Not schlittern.

Roberto Matta (Chile), Inva­sion der Nacht, 1942.

Die Welt­bank hat Alarm geschla­gen, aber die Kräfte der «Mitte» – die der Milli­ar­därs­klasse und der Austeri­täts­po­li­tik verpflich­tet sind – verwei­gern weiter­hin eine Abkehr von der neoli­be­ra­len Kata­stro­phe. Wenn ein Führer der linken Mitte oder der Linken versucht, sein Land aus der anhal­ten­den sozia­len Ungleich­heit und der pola­ri­sier­ten Wohl­stands­ver­tei­lung heraus­zu­ho­len, sieht er sich nicht nur dem Zorn der «Zentris­ten» ausge­setzt, sondern auch dem der reichen Anlei­he­gläu­bi­ger im Norden, des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds und der west­li­chen Staa­ten. Nach­dem Pedro Castillo im Juli 2021 die Präsi­dent­schaft in Peru errun­gen hatte, durfte er nicht einmal eine skan­di­na­vi­sche Form der Sozi­al­de­mo­kra­tie verfol­gen; die Putsch­ver­su­che gegen ihn began­nen bereits vor seiner Amts­ein­füh­rung. Die zivi­li­sierte Poli­tik, die Hunger und Analpha­be­tis­mus been­den würde, wird von der Milli­ar­därs­klasse einfach nicht zuge­las­sen, die riesige Geld­sum­men für Denk­fa­bri­ken und Medien ausgibt, um jedes Projekt des Anstands zu unter­gra­ben und die gefähr­li­chen Kräfte der extre­men Rech­ten zu finan­zie­ren, die die Schuld für das soziale Chaos von den steu­er­freien Super­rei­chen und dem kapi­ta­lis­ti­schen System auf die Armen und Ausge­grenz­ten abschieben.

 

Der wahn­wit­zige Aufstand in Brasí­lia ist aus dersel­ben Dyna­mik entstan­den, die auch den Putsch in Peru hervor­ge­bracht hat: ein Prozess, bei dem «zentris­ti­sche» poli­ti­sche Kräfte im globa­len Süden finan­ziert und an die Macht gebracht werden, um sicher­zu­stel­len, dass ihre eige­nen Bürger am Ende der Schlange stehen, während die wohl­ha­ben­den steu­er­freien Anlei­he­gläu­bi­ger des globa­len Nordens an der Spitze stehen.

Ivan Sagita (Indo­ne­sien), Ein Gericht für das Leben, 2014.

Auf den Barri­ka­den von Paris am 14. Okto­ber 1793 zitierte Pierre Gaspard Chau­mette, der Präsi­dent der Pari­ser Kommune, der selbst auf der Guil­lo­tine landete, auf die er viele andere schickte, diese schö­nen Worte von Jean-Jacques Rous­seau: »Wenn das Volk nichts mehr zu essen hat, wird es die Reichen fressen».

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.