Mein Wunsch ist, dass ihr den Kampf um die Wahrheit gewinnt.

Der dritte Newsletter (2021).

Diego Rivera (Mexiko), The Upri­sing (Der Aufstand), 1931.

Liebe Freund*innen!

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 26. Januar, dem Tag der Indi­schen Repu­blik, werden Tausende von Bauern* und Landarbeiter*innen mit ihren Trak­to­ren in das Herz der Haupt­stadt Neu-Delhi fahren, um ihren Kampf vor die Türen der Regie­rung zu tragen. Seit zwei Mona­ten sind diese Bauern und Landarbeiter*innen Teil einer landes­wei­ten Revolte gegen eine Regie­rungs­po­li­tik, die darauf abzielt, alle Gewinne ihrer Arbeit an große Konzerne abzu­lie­fern, die oben­drein von der Pande­mie profi­tiert haben. Trotz des kalten Wetters und der Pande­mie haben die Bauern und Landarbeiter*innen in ihren Lagern eine sozia­lis­ti­sche Kultur geschaf­fen, mit Gemein­schafts­kü­chen und ‑wäsche­reien, Vertei­lungs­stel­len für kosten­lose lebens­not­wen­dige Güter, Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten und Orten für Diskus­sio­nen. Vereint fordern sie die Aufhe­bung von drei Geset­zen und ihr Recht auf einen größe­ren Anteil an ihrer Ernte.

Die drei Gesetze, die die indi­sche Regie­rung unter Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi verab­schie­det hat, unter­gra­ben – so sagen die Bauern und Landarbeiter*innen – ihre Verhand­lungs­po­si­tion in der natio­na­len und globa­len Rohstoff-(Lebensmittel-)Kette. Ohne jegli­chen staat­li­chen Schutz – einschließ­lich Preis­stüt­zun­gen und dem öffent­li­chen Vertei­lungs­sys­tem für Lebens­mit­tel – sind die Bauern und Landarbeiter*innen gezwun­gen, die von den großen Konzer­nen fest­ge­leg­ten Preise zu zahlen. Die Gesetze der Regie­rung verlan­gen von den Bauern und Landarbeiter*innen, sich der Macht der Konzerne voll­stän­dig zu unter­wer­fen, was sie in eine extreme Lage brin­gen und Verhand­lun­gen unmög­lich machen würde.

In dieser Patt­si­tua­tion erließ der Oberste Gerichts­hof Indi­ens die Anord­nung zur Bildung einer Kommis­sion, die die Lage bewer­ten soll. Der Oberste Rich­ter forderte aller­dings die Bauern – insbe­son­dere Frauen und ältere Menschen – auf, die Orte des Protes­tes zu räumen. Die Bauern und Landarbeiter*innen waren zu Recht empört über die respekt­lo­sen Worte des Obers­ten Rich­ters (Sata­rupa Chakra­borty, eine Forsche­rin am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, hat diese Aussa­gen ausge­wer­tet). Die Bäue­rin­nen und Land­ar­bei­te­rin­nen sind eine wesent­li­che Kraft der Revolte – was auch die massen­hafte Teil­nahme am Mahila Kisan Diwas (Tag der Bäue­rin­nen) bestä­tigte, der am 18. Januar an allen Lager­stand­or­ten gefei­ert wurde. «Wenn Bäue­rin­nen spre­chen», erklär­ten die Frauen auf einem Trans­pa­rent, «erbe­ben die Gren­zen Delhis».

«Frauen werden am meis­ten unter den neuen Land­wirt­schafts­ge­set­zen leiden. Obwohl sie umfas­send in der Land­wirt­schaft tätig sind, haben sie keine Entschei­dungs­be­fug­nis. Die Ände­run­gen im Essen­tial Commo­di­ties Act (Gesetz über lebens­wich­tige Güter) [zum Beispiel] werden zu einem Nahrungs­mit­tel­man­gel führen, und Frauen werden die Haupt­last tragen», sagt Mariam Dhawale, Gene­ral­se­kre­tä­rin der All-India Demo­cra­tic Women’s Asso­cia­tion (AIDWA).

Außer­dem besteht die vom Gericht einge­setzte Kommis­sion aus Perso­nen, die öffent­lich Stel­lung für die Gesetze der Regie­rung bezo­gen haben. Keiner der Führer der Bauern und der Landarbeiter*innenorganisationen ist vertre­ten, was einmal mehr zeigt, dass Gesetze und Verord­nun­gen über ihre Köpfe hinweg gemacht werden und nicht mit ihrer Bera­tung oder gar von ihnen.

Soly Cissé (Sene­gal), Men and Lives V (Menschen und Leben V), 2018.

Dieser jüngste Angriff auf indi­sche Bauern und Landarbeiter*innen ist Teil einer Serie von Über­grif­fen. Am 10. Januar sprach P. Sainath, Grün­der des People’s Archive for Rural India und Senior Fellow am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, bei einem Tref­fen in Chan­di­garh über den Kontext. «Es geht nicht nur um diese Gesetze, die zurück­ge­nom­men werden müssen», sagte Sainath. «Dieser Kampf geht nicht nur um Punjab und Haryana; er geht darüber hinaus. Wollen wir eine gemein­schaft­li­che oder eine konzern­ge­führte Land­wirt­schaft? Die Bauern sind direkt mit diesem Unter­neh­mens­mo­dell konfron­tiert. Indien ist heute ein von Unter­neh­men domi­nier­ter Staat, in dem sozio-reli­giö­ser Funda­men­ta­lis­mus und Markt­fun­da­men­ta­lis­mus unser Leben bestim­men. Der Protest dient der Vertei­di­gung der Demo­kra­tie; wir fordern die Repu­blik zurück.»

 

Die Proteste finden in einer Zeit großer, inter­na­tio­na­ler Besorg­nis über die Situa­tion des Hungers und der Nahrungs­mit­tel­pro­duk­tion durch multi­la­te­rale Konzer­nen statt. Ismahane Elouafi, Chef­wis­sen­schaft­le­rin der UN-Ernäh­rungs- und Land­wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tion (FAO), sagte kürz­lich gegen­über Reuters, dass Bauern und arme Stadtbewohner*innen die Last dieser Pande­mie tragen. «Abge­schnit­ten von den Märk­ten und mit einem Einbruch der Kunden­nach­frage hatten die Landwirt*innen Mühe, ihre Produkte zu verkau­fen, während die prekär Beschäf­tig­ten in den Städ­ten, die von der Hand in den Mund leben, durch die Abrie­ge­lun­gen arbeits­los wurden», sagte sie. Elouafi hätte durch­aus auch von Indien spre­chen können, wo die Landarbeiter*innen und die Armen in den Städ­ten darum kämp­fen, über die Runden zu kommen. Elouafi weist auf eine gene­relle Krise im inter­na­tio­na­len Nahrungs­mit­tel­sys­tem hin, die auf globa­ler Ebene, aber auch inner­halb der Länder ernst­hafte Über­le­gun­gen erfor­dert. Jede fünfte Kalo­rie, die Menschen zu sich nehmen, hat eine inter­na­tio­nale Grenze über­quert, ein Anstieg von 50 % in den letz­ten vier Jahr­zehn­ten; das bedeu­tet, dass der inter­na­tio­nale Lebens­mit­tel­han­del extrem zuge­nom­men hat, obwohl vier von fünf Kalo­rien immer noch inner­halb der natio­na­len Gren­zen verzehrt werden. Eine ange­mes­sene inter­na­tio­nale und natio­nale Poli­tik für die Lebens­mit­tel­pro­duk­tion ist sowohl auf globa­ler als auch auf natio­na­ler Ebene notwen­dig. Aber in den letz­ten Jahr­zehn­ten hat es keine wirk­li­che inter­na­tio­nale Debatte über diese Fragen gege­ben, vor allem weil einige große Lebens­mit­tel­kon­zerne die Richt­li­nien der Poli­tik diktieren.

Ayanda Mabulu (Südafrika), Mari­kana Widows (Mari­kana Witwen), 2011.

Die Logik des Profits hat dazu geführt, dass in den Nahrungs­mit­tel­sys­te­men bevor­zugt Güter produ­ziert werden, die rela­tiv billig herzu­stel­len und gut zu trans­por­tie­ren sind. Das beste Beispiel dafür ist die Getrei­de­pro­duk­tion: «billige Kalo­rien» (wie Reis, Mais und Weizen) werden nähr­stoff­rei­chen Pflan­zen (wie afri­ka­ni­schen Bambara-Erdnüs­sen, Fonio, Quinoa) vorge­zo­gen, weil erstere leich­ter in großem Maßstab anzu­bauen und leich­ter zu trans­por­tie­ren sind. Der «Kalo­rien­wett­lauf», den dieser Prozess hervor­ruft, ermög­licht es eini­gen weni­gen Ländern, die Nahrungs­mit­tel­pro­duk­tion zu domi­nie­ren und den Rest der Welt zu Netto­im­por­teu­ren von Nahrungs­mit­teln zu machen.

Dies hat gleich mehrere Schat­ten­sei­ten: Die Produk­tion der billi­gen Kalo­rien geht einher mit einem enor­men Verbrauch von Süßwas­ser, mit hohen Treib­haus­gas­emis­sio­nen durch den Trans­port (30 % aller derar­ti­gen Emis­sio­nen), mit der Abhol­zung komple­xer Ökosys­teme und mit einem staat­li­chen Subven­ti­ons­sys­tem in Höhe von 601 Milli­ar­den Dollar in Europa und Nord­ame­rika (die Regie­run­gen im Globa­len Süden sind unter­des­sen gezwun­gen, ihre Subven­tio­nen zu kürzen). Dieses gesamte System der Nahrungs­mit­tel­pro­duk­tion rich­tet sich nicht nur gegen die Arbeit der Bauern und Land­ar­bei­ter, sondern auch gegen Gesund­heit und Nach­hal­tig­keit, denn der über­mä­ßige Konsum dieser einfa­chen Kohlen­hy­drate hat nega­tive gesund­heit­li­che Auswirkungen.

Li Fenglan (China), Plea­sant Work (Ange­nehme Arbeit), 2008.

Es gibt keinen Rück­stand in der Nahrungs­mit­tel­pro­duk­tion. Es wird ausrei­chend Nahrung produ­ziert. Aber die Lebens­mit­tel, die produ­ziert werden, sind nicht die beste Art von Lebens­mit­teln mit der für eine gesunde Ernäh­rung erfor­der­li­chen Nähr­stoff­viel­falt; und selbst diese Lebens­mit­tel gehen nicht an dieje­ni­gen, die einfach nicht das Einkom­men haben, um sich satt­zu­es­sen. Die Hunger­ra­ten waren schon vor der Pande­mie drama­tisch hoch und stei­gen jetzt sprung­haft an; zu den Hungern­den gehö­ren auch die Bauern und Landarbeiter*innen, die Lebens­mit­tel anbauen, sich aber ihren Verzehr nicht leis­ten können.

 

Eine kürz­lich in der Fach­zeit­schrift The Lancet veröf­fent­lichte Studie liefert scho­ckie­rende Fakten über das Ausmaß des Hungers unter jungen Menschen. Die Forscher unter­such­ten Größe und Gewicht von 65 Millio­nen Kindern und Jugend­li­chen auf der ganzen Welt vor der Pande­mie – und fanden einen durch­schnitt­li­chen Größen­un­ter­schied von 20 Zenti­me­tern aufgrund des Mangels an gesun­der Ernäh­rung. Das Welt­ernäh­rungs­pro­gramm sagt, dass für 320 Millio­nen Kinder die Mahl­zeit, die sie norma­ler­weise in der Schule erhal­ten, in der Pande­mie ersatz­los entfällt. Laut UNICEF sind infol­ge­des­sen weitere 6,7 Millio­nen Kinder unter fünf Jahren von Auszeh­rung bedroht. Die in den meis­ten Ländern nur spär­li­che Einkom­mens­un­ter­stüt­zung kann diese Entwick­lung nicht aufhal­ten. Wenn Nahrungs­mit­tel in redu­zier­tem Umfang in die Haus­halte gelan­gen, hat das kata­stro­phale Auswir­kun­gen auch nach Geschlecht, da Mütter in der Regel weni­ger essen oder auf Nahrung verzich­ten, um alle ande­ren in der Fami­lie satt zu bekommen.

 

Inno­va­tio­nen in der öffent­li­chen Versor­gung mit Lebens­mit­teln sind uner­läss­lich. 1988 führte die chine­si­sche Regie­rung das «Gemü­se­korb­pro­gramm» ein, bei dem die Bürger­meis­ter alle zwei Jahre Rechen­schaft über die Verfüg­bar­keit von erschwing­li­chen und siche­ren getrei­de­freien Nahrungs­mit­teln able­gen (Frisch­ware ist hier der Schlüs­sel). Städte und Gemein­den müssen Acker­flä­chen in ihrem Hinter­land sichern, damit getrei­de­freie Nahrungs­mit­tel in der Nähe ange­baut werden können. So war zum Beispiel Nanjing mit seinen acht Millio­nen Einwoh­nern im Jahr 2012 zu 90 % Selbst­ver­sor­ger mit frischem Gemüse. Durch das «Gemü­se­korb-Programm» konn­ten Chinas Städte und Gemein­den während der COVID-19-Abrie­ge­lung die Versor­gung der Bevöl­ke­rung mit frischen Produk­ten sicher­stel­len. Solche Programme müssen auch in ande­ren Ländern entwi­ckelt werden, wo die Lebens­mit­tel­in­dus­trie mit dem Verkauf billi­ger Kalo­rien Profit erzielt; diese billi­gen Kalo­rien kommen die Gesell­schaft teuer zu stehen.

Die Revolte der indi­schen Bauern und Bäue­rin­nen zielt zual­ler­erst auf die Aufhe­bung der drei Anti-Bauern-Gesetze. Aber der Kampf geht um weit­aus mehr. Es ist ein Kampf für die Land­ar­bei­ter – welt­weit sind ein Vier­tel von ihnen Migran­ten –, die keine siche­ren Arbeits­plätze und äußerst geringe Einkom­men haben. Es ist auch ein Kampf für die Mensch­lich­keit, ein Kampf für eine vernünf­tige Lebens­mit­tel­po­li­tik, die sowohl den Bauern als auch denen, die die Lebens­mit­tel verzeh­ren, zugute kommt.

 

Die Protest­orte rund um Delhi, von denen aus die Bauern und Land­ar­bei­ter am 26. Januar in die Stadt ziehen werden, sind mit Freude und Kultur erfüllt. Dich­ter sind gekom­men und rezi­tie­ren ihre Verse vor dem Volk. Einer der berühm­tes­ten Dich­ter des Punjab, Surjit Patar, schrieb ein Gedicht und beschloss dann, eine Auszeich­nung (Padma Shri) zurück­zu­ge­ben, die er von der Regie­rung erhal­ten hatte. Sein Gedicht schallt über das Land und lässt die Kraft der Revolte erklingen:

 

Dies ist ein Fest.

So weit ich blicken kann

Jenseits von dem, was ich sehe

sind Menschen versammelt.

Dies ist ein Fest,

von Menschen und Land, Bäumen, Wasser und Luft.

Es umfasst unser Lachen, unsere Tränen, unsere Lieder.

Und du weißt nicht, wer dazugehört.

 

Das Gedicht beschreibt, wie ein junges Mädchen einem Bauern begeg­net. Das Mädchen sagt, wenn die Bauern gehen, wird es keine Freude mehr geben auf der Welt. «Was sollen wir dann tun?», fragt sie. Und als die Bauern weinen, sagt sie: «Mein Wunsch ist, dass ihr den Kampf um die Wahr­heit gewinnt».

 

Das ist auch unser Wunsch.

 

Herz­lichst

Vijay

Ich bin Tricontinental

Luiz Felipe Albqueque

Kommu­ni­ka­ti­ons­spe­zia­list, Büro São Paolo

 

Eine der Haupt­in­ter­ven­ti­ons­li­nien unse­rer Arbeit ist der Kampf der Ideen. Wir haben die Aufgabe, die Arbeits­er­geb­nisse des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch zu verbrei­ten.  Wir tun das auf viel­fät­lige Weise, ange­fan­gen bei Social Media hin zu tief­grei­fen­de­ren Methoden.

Noch über den Kampf der Ideen hinaus halten wir es für wich­tig, Menschen wieder zu inspi­rie­ren, von einer ande­ren Welt zu träu­men, sich Utopien zu schaf­fen. Darum sind Kommu­ni­ka­tion, Agita­tion und Popaganda so wich­tig, und wir bauen sie in den Prozess ein. Es ist essen­ti­ell, dass unsere Kommu­ni­ka­tion in Menschen ein Gefühl für Trans­for­ma­tion erweckt und dasss wir einen klei­nen Ausblick auf diese neue Welt – die erst noch entste­hen muss – zeigen.

* Aus Grün­den der besse­ren Lesbar­keit wird bei “Bauern” das gene­ri­sche Masku­li­num verwen­det. Die Perso­nen­be­zeich­nung gilt aber glei­cher­ma­ßen für alle Geschlechter.

 

Aus dem Engli­schen über­setzt von Claire Louise Blaser.