
Mein Wunsch ist, dass ihr den Kampf um die Wahrheit gewinnt.
Der dritte Newsletter (2021).

Liebe Freund*innen!
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 26. Januar, dem Tag der Indischen Republik, werden Tausende von Bauern* und Landarbeiter*innen mit ihren Traktoren in das Herz der Hauptstadt Neu-Delhi fahren, um ihren Kampf vor die Türen der Regierung zu tragen. Seit zwei Monaten sind diese Bauern und Landarbeiter*innen Teil einer landesweiten Revolte gegen eine Regierungspolitik, die darauf abzielt, alle Gewinne ihrer Arbeit an große Konzerne abzuliefern, die obendrein von der Pandemie profitiert haben. Trotz des kalten Wetters und der Pandemie haben die Bauern und Landarbeiter*innen in ihren Lagern eine sozialistische Kultur geschaffen, mit Gemeinschaftsküchen und ‑wäschereien, Verteilungsstellen für kostenlose lebensnotwendige Güter, Freizeitaktivitäten und Orten für Diskussionen. Vereint fordern sie die Aufhebung von drei Gesetzen und ihr Recht auf einen größeren Anteil an ihrer Ernte.
Die drei Gesetze, die die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi verabschiedet hat, untergraben – so sagen die Bauern und Landarbeiter*innen – ihre Verhandlungsposition in der nationalen und globalen Rohstoff-(Lebensmittel-)Kette. Ohne jeglichen staatlichen Schutz – einschließlich Preisstützungen und dem öffentlichen Verteilungssystem für Lebensmittel – sind die Bauern und Landarbeiter*innen gezwungen, die von den großen Konzernen festgelegten Preise zu zahlen. Die Gesetze der Regierung verlangen von den Bauern und Landarbeiter*innen, sich der Macht der Konzerne vollständig zu unterwerfen, was sie in eine extreme Lage bringen und Verhandlungen unmöglich machen würde.

In dieser Pattsituation erließ der Oberste Gerichtshof Indiens die Anordnung zur Bildung einer Kommission, die die Lage bewerten soll. Der Oberste Richter forderte allerdings die Bauern – insbesondere Frauen und ältere Menschen – auf, die Orte des Protestes zu räumen. Die Bauern und Landarbeiter*innen waren zu Recht empört über die respektlosen Worte des Obersten Richters (Satarupa Chakraborty, eine Forscherin am Tricontinental: Institute for Social Research, hat diese Aussagen ausgewertet). Die Bäuerinnen und Landarbeiterinnen sind eine wesentliche Kraft der Revolte – was auch die massenhafte Teilnahme am Mahila Kisan Diwas (Tag der Bäuerinnen) bestätigte, der am 18. Januar an allen Lagerstandorten gefeiert wurde. «Wenn Bäuerinnen sprechen», erklärten die Frauen auf einem Transparent, «erbeben die Grenzen Delhis».
«Frauen werden am meisten unter den neuen Landwirtschaftsgesetzen leiden. Obwohl sie umfassend in der Landwirtschaft tätig sind, haben sie keine Entscheidungsbefugnis. Die Änderungen im Essential Commodities Act (Gesetz über lebenswichtige Güter) [zum Beispiel] werden zu einem Nahrungsmittelmangel führen, und Frauen werden die Hauptlast tragen», sagt Mariam Dhawale, Generalsekretärin der All-India Democratic Women’s Association (AIDWA).
Außerdem besteht die vom Gericht eingesetzte Kommission aus Personen, die öffentlich Stellung für die Gesetze der Regierung bezogen haben. Keiner der Führer der Bauern und der Landarbeiter*innenorganisationen ist vertreten, was einmal mehr zeigt, dass Gesetze und Verordnungen über ihre Köpfe hinweg gemacht werden und nicht mit ihrer Beratung oder gar von ihnen.

Dieser jüngste Angriff auf indische Bauern und Landarbeiter*innen ist Teil einer Serie von Übergriffen. Am 10. Januar sprach P. Sainath, Gründer des People’s Archive for Rural India und Senior Fellow am Tricontinental: Institute for Social Research, bei einem Treffen in Chandigarh über den Kontext. «Es geht nicht nur um diese Gesetze, die zurückgenommen werden müssen», sagte Sainath. «Dieser Kampf geht nicht nur um Punjab und Haryana; er geht darüber hinaus. Wollen wir eine gemeinschaftliche oder eine konzerngeführte Landwirtschaft? Die Bauern sind direkt mit diesem Unternehmensmodell konfrontiert. Indien ist heute ein von Unternehmen dominierter Staat, in dem sozio-religiöser Fundamentalismus und Marktfundamentalismus unser Leben bestimmen. Der Protest dient der Verteidigung der Demokratie; wir fordern die Republik zurück.»
Die Proteste finden in einer Zeit großer, internationaler Besorgnis über die Situation des Hungers und der Nahrungsmittelproduktion durch multilaterale Konzernen statt. Ismahane Elouafi, Chefwissenschaftlerin der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), sagte kürzlich gegenüber Reuters, dass Bauern und arme Stadtbewohner*innen die Last dieser Pandemie tragen. «Abgeschnitten von den Märkten und mit einem Einbruch der Kundennachfrage hatten die Landwirt*innen Mühe, ihre Produkte zu verkaufen, während die prekär Beschäftigten in den Städten, die von der Hand in den Mund leben, durch die Abriegelungen arbeitslos wurden», sagte sie. Elouafi hätte durchaus auch von Indien sprechen können, wo die Landarbeiter*innen und die Armen in den Städten darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Elouafi weist auf eine generelle Krise im internationalen Nahrungsmittelsystem hin, die auf globaler Ebene, aber auch innerhalb der Länder ernsthafte Überlegungen erfordert. Jede fünfte Kalorie, die Menschen zu sich nehmen, hat eine internationale Grenze überquert, ein Anstieg von 50 % in den letzten vier Jahrzehnten; das bedeutet, dass der internationale Lebensmittelhandel extrem zugenommen hat, obwohl vier von fünf Kalorien immer noch innerhalb der nationalen Grenzen verzehrt werden. Eine angemessene internationale und nationale Politik für die Lebensmittelproduktion ist sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene notwendig. Aber in den letzten Jahrzehnten hat es keine wirkliche internationale Debatte über diese Fragen gegeben, vor allem weil einige große Lebensmittelkonzerne die Richtlinien der Politik diktieren.

Die Logik des Profits hat dazu geführt, dass in den Nahrungsmittelsystemen bevorzugt Güter produziert werden, die relativ billig herzustellen und gut zu transportieren sind. Das beste Beispiel dafür ist die Getreideproduktion: «billige Kalorien» (wie Reis, Mais und Weizen) werden nährstoffreichen Pflanzen (wie afrikanischen Bambara-Erdnüssen, Fonio, Quinoa) vorgezogen, weil erstere leichter in großem Maßstab anzubauen und leichter zu transportieren sind. Der «Kalorienwettlauf», den dieser Prozess hervorruft, ermöglicht es einigen wenigen Ländern, die Nahrungsmittelproduktion zu dominieren und den Rest der Welt zu Nettoimporteuren von Nahrungsmitteln zu machen.
Dies hat gleich mehrere Schattenseiten: Die Produktion der billigen Kalorien geht einher mit einem enormen Verbrauch von Süßwasser, mit hohen Treibhausgasemissionen durch den Transport (30 % aller derartigen Emissionen), mit der Abholzung komplexer Ökosysteme und mit einem staatlichen Subventionssystem in Höhe von 601 Milliarden Dollar in Europa und Nordamerika (die Regierungen im Globalen Süden sind unterdessen gezwungen, ihre Subventionen zu kürzen). Dieses gesamte System der Nahrungsmittelproduktion richtet sich nicht nur gegen die Arbeit der Bauern und Landarbeiter, sondern auch gegen Gesundheit und Nachhaltigkeit, denn der übermäßige Konsum dieser einfachen Kohlenhydrate hat negative gesundheitliche Auswirkungen.

Es gibt keinen Rückstand in der Nahrungsmittelproduktion. Es wird ausreichend Nahrung produziert. Aber die Lebensmittel, die produziert werden, sind nicht die beste Art von Lebensmitteln mit der für eine gesunde Ernährung erforderlichen Nährstoffvielfalt; und selbst diese Lebensmittel gehen nicht an diejenigen, die einfach nicht das Einkommen haben, um sich sattzuessen. Die Hungerraten waren schon vor der Pandemie dramatisch hoch und steigen jetzt sprunghaft an; zu den Hungernden gehören auch die Bauern und Landarbeiter*innen, die Lebensmittel anbauen, sich aber ihren Verzehr nicht leisten können.
Eine kürzlich in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie liefert schockierende Fakten über das Ausmaß des Hungers unter jungen Menschen. Die Forscher untersuchten Größe und Gewicht von 65 Millionen Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt vor der Pandemie – und fanden einen durchschnittlichen Größenunterschied von 20 Zentimetern aufgrund des Mangels an gesunder Ernährung. Das Welternährungsprogramm sagt, dass für 320 Millionen Kinder die Mahlzeit, die sie normalerweise in der Schule erhalten, in der Pandemie ersatzlos entfällt. Laut UNICEF sind infolgedessen weitere 6,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren von Auszehrung bedroht. Die in den meisten Ländern nur spärliche Einkommensunterstützung kann diese Entwicklung nicht aufhalten. Wenn Nahrungsmittel in reduziertem Umfang in die Haushalte gelangen, hat das katastrophale Auswirkungen auch nach Geschlecht, da Mütter in der Regel weniger essen oder auf Nahrung verzichten, um alle anderen in der Familie satt zu bekommen.
Innovationen in der öffentlichen Versorgung mit Lebensmitteln sind unerlässlich. 1988 führte die chinesische Regierung das «Gemüsekorbprogramm» ein, bei dem die Bürgermeister alle zwei Jahre Rechenschaft über die Verfügbarkeit von erschwinglichen und sicheren getreidefreien Nahrungsmitteln ablegen (Frischware ist hier der Schlüssel). Städte und Gemeinden müssen Ackerflächen in ihrem Hinterland sichern, damit getreidefreie Nahrungsmittel in der Nähe angebaut werden können. So war zum Beispiel Nanjing mit seinen acht Millionen Einwohnern im Jahr 2012 zu 90 % Selbstversorger mit frischem Gemüse. Durch das «Gemüsekorb-Programm» konnten Chinas Städte und Gemeinden während der COVID-19-Abriegelung die Versorgung der Bevölkerung mit frischen Produkten sicherstellen. Solche Programme müssen auch in anderen Ländern entwickelt werden, wo die Lebensmittelindustrie mit dem Verkauf billiger Kalorien Profit erzielt; diese billigen Kalorien kommen die Gesellschaft teuer zu stehen.
Die Revolte der indischen Bauern und Bäuerinnen zielt zuallererst auf die Aufhebung der drei Anti-Bauern-Gesetze. Aber der Kampf geht um weitaus mehr. Es ist ein Kampf für die Landarbeiter – weltweit sind ein Viertel von ihnen Migranten –, die keine sicheren Arbeitsplätze und äußerst geringe Einkommen haben. Es ist auch ein Kampf für die Menschlichkeit, ein Kampf für eine vernünftige Lebensmittelpolitik, die sowohl den Bauern als auch denen, die die Lebensmittel verzehren, zugute kommt.
Die Protestorte rund um Delhi, von denen aus die Bauern und Landarbeiter am 26. Januar in die Stadt ziehen werden, sind mit Freude und Kultur erfüllt. Dichter sind gekommen und rezitieren ihre Verse vor dem Volk. Einer der berühmtesten Dichter des Punjab, Surjit Patar, schrieb ein Gedicht und beschloss dann, eine Auszeichnung (Padma Shri) zurückzugeben, die er von der Regierung erhalten hatte. Sein Gedicht schallt über das Land und lässt die Kraft der Revolte erklingen:
Dies ist ein Fest.
So weit ich blicken kann
Jenseits von dem, was ich sehe
sind Menschen versammelt.
Dies ist ein Fest,
von Menschen und Land, Bäumen, Wasser und Luft.
Es umfasst unser Lachen, unsere Tränen, unsere Lieder.
Und du weißt nicht, wer dazugehört.
Das Gedicht beschreibt, wie ein junges Mädchen einem Bauern begegnet. Das Mädchen sagt, wenn die Bauern gehen, wird es keine Freude mehr geben auf der Welt. «Was sollen wir dann tun?», fragt sie. Und als die Bauern weinen, sagt sie: «Mein Wunsch ist, dass ihr den Kampf um die Wahrheit gewinnt».
Das ist auch unser Wunsch.
Herzlichst
Vijay

Ich bin Tricontinental
Luiz Felipe Albqueque
Kommunikationsspezialist, Büro São Paolo
Eine der Hauptinterventionslinien unserer Arbeit ist der Kampf der Ideen. Wir haben die Aufgabe, die Arbeitsergebnisse des Tricontinental: Institute for Social Research zu verbreiten. Wir tun das auf vielfätlige Weise, angefangen bei Social Media hin zu tiefgreifenderen Methoden.
Noch über den Kampf der Ideen hinaus halten wir es für wichtig, Menschen wieder zu inspirieren, von einer anderen Welt zu träumen, sich Utopien zu schaffen. Darum sind Kommunikation, Agitation und Popaganda so wichtig, und wir bauen sie in den Prozess ein. Es ist essentiell, dass unsere Kommunikation in Menschen ein Gefühl für Transformation erweckt und dasss wir einen kleinen Ausblick auf diese neue Welt – die erst noch entstehen muss – zeigen.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei “Bauern” das generische Maskulinum verwendet. Die Personenbezeichnung gilt aber gleichermaßen für alle Geschlechter.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.