
Aus dem verwundeten Lateinamerika kommt die Forderung, den irrationalen Krieg gegen Drogen zu beenden.
Der neununddreißigste Newsletter (2022).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Jedes Jahr in den letzten Septemberwochen versammeln sich die führenden Politiker*innen aus aller Welt in New York City, um auf dem Podium der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu sprechen. Die Reden kann man in der Regel schon lange im Voraus einschätzen: Es sind entweder müde Bekundungen zu Grundsätzen, die dann nicht befolgt werden, oder aggressive Stimmen, die in einer Institution, die zur Verhinderung von Kriegen geschaffen wurde, mit Krieg drohen.
Doch hin und wieder sticht eine Rede heraus, dringt eine Stimme wegen ihrer Klarheit und Aufrichtigkeit aus dem Plenarsaal hinaus und findet in der ganzen Welt Widerhall. In diesem Jahr kam diese Stimme von dem kürzlich in sein Amt berufenen kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, der in seinen kurzen Ausführungen mit poetischer Präzision die Probleme unserer Welt und die Kaskaden von sozialem Elend, Geld- und Machtsucht, Klimakatastrophe und Umweltzerstörung auf den Punkt brachte. «Es ist Zeit für Frieden», sagte Präsident Petro. «Wir stehen auch mit unserem Planeten im Krieg. Ohne Frieden mit dem Planeten wird es keinen Frieden zwischen den Nationen geben. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es auch keinen sozialen Frieden».

Kolumbien wird seit seiner Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1810 von Gewalt heimgesucht. Diese Gewalt ging von den kolumbianischen Eliten aus, deren unersättliches Streben nach Reichtum zur absoluten Verarmung des Volkes führte und die Entwicklung des Landes verhinderte. Die jahrzehntelangen politischen Bemühungen, das Vertrauen der Bevölkerung in Kolumbien zu gewinnen, gipfelten in einem Zyklus von Protesten, der 2019 begann und zum Wahlsieg von Petro führte. Die neue Mitte-Links-Regierung hat sich verpflichtet, sozialdemokratische Institutionen in Kolumbien aufzubauen und das Land von der Gewaltkultur zu befreien. Obwohl die kolumbianische Armee, wie Streitkräfte auf der ganzen Welt, auf Krieg geeicht ist, sagte Präsident Petro im August 2022, sie solle sich nun «auf Frieden vorbereiten» und «eine Armee des Friedens» werden.
Wenn man über die Gewalt in einem Land wie Kolumbien nachdenkt, ist die Versuchung groß, sich auf Drogen, allen voran Kokain, zu konzentrieren. Die Gewalt, so wird oft behauptet, sei ein Auswuchs des illegalen Kokainhandels. Das ist jedoch eine ahistorische Einschätzung. Kolumbien erlebte schreckliches Blutvergießen, lange bevor hochverarbeitetes Kokain ab den 1960er Jahren immer beliebter wurde. Die Elite des Landes wandte mörderische Gewalt an, um jegliche Schwächung ihrer Macht zu verhindern, darunter auch die Ermordung von Jorge Gaitán, des Bürgermeisters der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, im Jahr 1948, auf welche eine Periode folgte, die als La Violencia («Die Gewalt») bekannt ist. Liberale Politiker*innen und aktive Kommunist*innen sahen sich der Gewalt der kolumbianischen Armee und Polizei ausgeliefert, die im Namen eines eisernen, von den Vereinigten Staaten unterstützten Machtblocks vorgingen, die Kolumbien nutzten, um ihren Einfluss in Südamerika auszuweiten. Feigenblätter verschiedener Art wurden verwendet, um die Ambitionen der kolumbianischen Elite und ihrer Gönner in Washington zu verschleiern. In den 1990er Jahren war eine solche Tarnung der Krieg gegen Drogen.

Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung und der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency (DEA) kommen die meisten Konsument*innen illegaler Drogen (Cannabis, Opioide und Kokain) aus Nordamerika und Westeuropa. Eine aktuelle UN-Studie zeigt, dass «der Kokainkonsum in den Vereinigten Staaten nach 2013 schwankte und anstieg, wobei 2019 ein stabilerer Trend zu beobachten war». Die von den Vereinigten Staaten und den westlichen Ländern initiierte Strategie des «War on Drugs» verfolgt einen zweigleisigen Ansatz zur Bewältigung der Drogenkrise: erstens die Kriminalisierung der Händler*innen in den westlichen Ländern und zweitens die Bekämpfung der Bäuer*innen, die in Ländern wie Kolumbien den Rohstoff für solche Drogen produzieren.
In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind fast zwei Millionen Menschen – unverhältnismäßig viele Schwarze und Latinxs – in Gefängniskomplexen gefangen. 400.000 von ihnen sind wegen gewaltfreier Drogendelikte inhaftiert oder haben eine Bewährungsstrafe erhalten (meist als kleine Dealer innerhalb eines äußerst profitablen Drogenimperiums). Die fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen in den Arbeitervierteln und die Verlockung der Einnahmen aus der Drogenökonomie treiben trotz der Gefahren dieses Jobs nach wie vor Angehörige der unteren Schichten in die globale Drogenhandelskette. Der Krieg gegen Drogen hat diese Spirale kaum beeinträchtigt, weshalb inzwischen viele Länder begonnen haben, den Drogenbesitz und den Drogenkonsum (insbesondere von Cannabis) zu entkriminalisieren.

Die Unnachgiebigkeit der kolumbianischen Elite, die von der US-Regierung unterstützt wird, hat dazu geführt, dass die Linke 1964 den bewaffneten Kampf aufnahm und erneut zur Waffe griff, als dieselbe Elite in den 1990er Jahren den versprochenen demokratischen Weg verwehrte. Im Zuge des Krieges gegen die bewaffnete Linke und des Krieges gegen Drogen haben das kolumbianische Militär und die Polizei jede abweichende Meinung im Lande niedergeschlagen. Trotz der nachgewiesenen finanziellen und politischen Verbindungen zwischen der kolumbianischen Elite, den paramilitärischen Narko-Einheiten und den Drogenkartellen initiierte die US-Regierung 1999 den Plan Colombia, als Teil welches sie verdeckt 12 Milliarden Dollar an das kolumbianische Militär leitet, um diesen Krieg zu stärken (2006, als Senator, enthüllte Petro die Verflechtung zwischen diesen teuflischen Kräften, woraufhin seiner Familie Gewalt angedroht wurde).
Im Rahmen dieses Krieges warfen die kolumbianischen Streitkräfte die schreckliche chemische Waffe Glyphosat auf die Landbevölkerung ab (2015 erklärte die Weltgesundheitsorganisation, dass diese Chemikalie «wahrscheinlich krebserregend für den Menschen» ist, und 2017 entschied das kolumbianische Verfassungsgericht, dass ihre Verwendung eingeschränkt werden muss). 2020 wurde in der Harvard International Review die folgende Einschätzung abgegeben: «Anstatt die Kokainproduktion zu reduzieren, hat der Kolumbien-Plan dazu geführt, dass sich die Kokainproduktion und der Kokaintransport in andere Gebiete verlagert haben. Darüber hinaus hat die Militarisierung des Krieges gegen Drogen zu einem Anstieg der Gewalt im Land geführt». Genau das sagte Präsident Petro der Welt bei den Vereinten Nationen.

Der jüngste DEA-Bericht stellt fest, dass der Kokainkonsum in den Vereinigten Staaten konstant bleibt und dass «die Zahl der Todesfälle durch Drogenvergiftungen im Zusammenhang mit Kokain seit 2013 jedes Jahr zugenommen hat». Die US-Drogenpolitik konzentriert sich auf die Strafverfolgung und zielt lediglich darauf ab, die inländische Verfügbarkeit von Kokain zu verringern. Washington gibt 45 % seines Drogenbudgets für die Strafverfolgung aus, 49 % für die Behandlung von Drogenabhängigen und nur 6 % für die Prävention. Dass der Schwerpunkt gerade nicht auf der Prävention liegt, ist aufschlussreich. Anstatt die Drogenkrise als ein nachfrageseitiges Problem anzugehen, geben die USA und andere westliche Regierungen vor, dass es sich um ein angebotsseitiges Problem handelt, das durch den Einsatz militärischer Gewalt gegen kleine Drogenhändler*innen und Bäuer*innen, die die Kokapflanze anbauen, gelöst werden kann. Petros Aufschrei vor den Vereinten Nationen war ein Versuch, die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Ursachen der Drogenkrise zu lenken:
«Der irrationalen Macht der Welt zufolge ist nicht der Markt schuld, der die Existenz vernichtet, sondern der Dschungel und die Menschen, die in ihm leben. Die Bankkonten sind unerschöpflich geworden; das Geld, das die mächtigsten Menschen der Erde gehortet haben, könnten sie nicht einmal im Laufe von Jahrhunderten ausgeben. Das leere Dasein, das durch den erzwungenen Konkurrenzkampf erzeugt wird, ist von Lärm und Drogen erfüllt. Die Sucht nach Geld und Besitz hat noch ein anderes Gesicht: die Drogensucht der Menschen, die den Konkurrenzkampf in diesem unnatürlichen Wettbewerb der Menschheit verlieren. Die Krankheit der Einsamkeit wird nicht dadurch geheilt, dass man Glyphosat auf die Wälder sprüht; der Wald ist nicht schuld. Schuld ist eure Gesellschaft, die zum endlosen Konsum erzogen wird wegen der törichten Verwechslung von Konsum und Glück, und die es den Mächtigen erlaubt, ihre Taschen mit Geld zu füllen.»
Der Krieg gegen Drogen, so Petro, ist ein Krieg gegen die kolumbianische Bauernschaft und ein Krieg gegen die prekären Armen in den westlichen Ländern. Wir brauchen diesen Krieg nicht, sagte er; stattdessen müssen wir für den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft kämpfen, die den Menschen, die in der Gesellschaftslogik als Überschuss betrachtet werden, nicht den Sinn aus den Herzen reißt.

Als junger Mann gehörte Petro der Guerillabewegung M‑19 an, einer der Organisationen, die versuchten, den Würgegriff in dem die kolumbianischen Eliten die Demokratie des Landes hielten zu brechen. Eine seiner Mitstreiterinnen war die Dichterin María Mercedes Carranza (1945–2003), die in ihrem Buch Hola, Soledad («Hallo, Einsamkeit») (1987) die Gewalt, die ihrem Land angetan wurde, auf erschütternde Weise beschrieb und die Verwüstung in ihrem Gedicht La Patria («Das Vaterland») festhielt:
In diesem Haus liegt alles in Trümmern,
in Trümmern liegen Umarmungen und Musik,
jeder Morgen, das Schicksal, das Lachen liegen in Trümmern,
Tränen, Stille, Träume.
Die Fenster zeigen zerstörte Landschaften,
Fleisch und Asche in den Gesichtern der Menschen,
Worte verbinden sich mit Angst in ihren Mündern.
In diesem Haus sind wir alle lebendig begraben.
Carranza nahm sich das Leben, als die Höllenfeuer über Kolumbien hinwegfegten.
Ein Friedensabkommen im Jahr 2016, ein Zyklus von Protesten ab 2019 und nun die Wahl von Petro und Francia Márquez im Jahr 2022 haben die Asche von den Gesichtern der kolumbianischen Bevölkerung gewischt und ihnen die Möglichkeit gegeben, zu versuchen, ihr Haus wieder aufzubauen. Das Ende des Krieges gegen Drogen, d.h. des Krieges gegen die kolumbianische Bauernschaft, wird den zerbrechlichen Kampf Kolumbiens um Frieden und Demokratie nur voranbringen.
Herzlichst,
Vijay