Wenn heute über die Charta der Vereinten Nationen abgestimmt würde, würde sie angenommen werden?

Der neununddreißigste Newsletter (2021).

Rafael Tufiño Figue­roa (Puerto Rico), La plena, 1952–54.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Jedes Jahr im Septem­ber kommen die Regierungschef*innen zum Haupt­sitz der Verein­ten Natio­nen in New York City, um eine neue Sitzung der Gene­ral­ver­samm­lung zu eröff­nen. Die Umge­bung des Haupt­sit­zes wird bunt, Dele­gierte aus jedem der 193 Mitglieds­staa­ten tummeln sich im UN-Gebäude und gehen anschlie­ßend in den zahl­rei­chen Restau­rants in der Umge­bung essen, die die Pande­mie über­stan­den haben. Je nach den Konflik­ten, die es gibt, werden bestimmte Reden ernst genom­men; die Konflikte in diesem oder jenem Teil der Welt lenken Aufmerk­sam­keit auf die Worte ihrer Anführer*innen, aber ansons­ten gibt es eine Reihe von Reden, die gehal­ten und verges­sen werden.

 

Am 25. Septem­ber betrat die Premier­mi­nis­te­rin von Barba­dos, Mia Amor Mott­ley, die Bühne in einem fast leeren Saal der UN-Gene­ral­ver­samm­lung. «Wie viele Staats- und Regie­rungs­chefs müssen noch auf dieses Podium kommen und nicht gehört werden, bevor sie aufhö­ren zu kommen?», fragte sie mit Nach­druck. «Wie oft müssen wir noch vor einem leeren Saal vor Beamt*innen in einer Insti­tu­tion spre­chen, die eigent­lich für Staats- und Regie­rungs­chefs gedacht ist, um mit ihnen über die Fort­schritte zu disku­tie­ren, die notwen­dig sind, um einen weite­ren großen Krieg oder eine der ande­ren großen Heraus­for­de­run­gen der Mensch­heit zu verhin­dern?» Premier­mi­nis­te­rin Mott­ley verzich­tete auf ihre vorbe­rei­te­ten Bemer­kun­gen, da diese, wie sie sagte, «eine Wieder­ho­lung dessen wären, was Sie von ande­ren gehört haben». Statt­des­sen gab sie eine gehar­nischte Erklä­rung ab: «Wir haben die Mittel, um jedem Kind auf diesem Plane­ten ein Tablet zu geben. Und wir haben die Mittel, um jedem Erwach­se­nen einen Impf­stoff zu geben. Und wir haben die Mittel, um in den Schutz der Schwächs­ten auf unse­rem Plane­ten vor einem Klima­wan­del zu inves­tie­ren. Aber wir tun es nicht. Das liegt nicht daran, dass wir nicht genug haben. Es liegt daran, dass wir nicht willens sind, das, was wir haben, zu vertei­len … Wenn wir den Willen aufbrin­gen können, Menschen auf den Mond zu schi­cken und das Problem der männ­li­chen Kahl­köp­fig­keit zu lösen … können wir auch einfa­che Probleme lösen, wie zum Beispiel, dass unsere Leute zu erschwing­li­chen Prei­sen essen können».

Albin Egger-Lienz (Öster­reich), Nord­frank­reich, 1917.

Die Verein­ten Natio­nen wurden im Okto­ber 1945 gegrün­det, als 50 Länder in San Fran­cisco zusam­men­ka­men, um die UN-Charta zu rati­fi­zie­ren. «Wir schrei­ben das Jahr 2021», sagte Premier­mi­nis­te­rin Mott­ley, es gibt «viele Länder, die 1945 noch nicht exis­tier­ten und die sich ihren Völkern stel­len und auf deren Bedürf­nisse reagie­ren müssen». Viele dieser Länder waren einst Kolo­nien, deren Wohl­erge­hen von ihren Kolo­ni­al­her­ren in der UNO beisei­te­ge­scho­ben wurde. Heute, 76 Jahre später, wollen die Menschen in diesen Ländern – darun­ter auch Barba­dos – «wissen, welche Bedeu­tung eine inter­na­tio­nale Gemein­schaft hat, die zwar zusam­men­kommt, aber einan­der nicht zuhört, die nur redet, aber nicht mitein­an­der reden will», so Premier­mi­nis­te­rin Mottley.

 

Während sich die Staats- und Regierungschef*innen eine*r nach der*dem ande­ren aufs Podium folg­ten, stellte Sacha Llorenti, Gene­ral­se­kre­tär von ALBA-TCP – einer Orga­ni­sa­tion von neun Mitglied­staa­ten in Latein­ame­rika und der Kari­bik, die zur Förde­rung der regio­na­len Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung gegrün­det wurde – während eines Webi­nars von No Cold War zum Thema Multi­po­la­ri­tät eine grund­le­gende Frage: «Wenn heute über die UN-Charta abge­stimmt würde, würde sie ange­nom­men werden?»

 

Die Charta wurde von allen Mitglied­staa­ten der Verein­ten Natio­nen rati­fi­ziert, und dennoch wird sie von eini­gen ihrer mäch­tigs­ten Mitglie­der, allen voran den Verei­nig­ten Staa­ten von Amerika, Klau­sel um Klau­sel miss­ach­tet. Wenn ich alle Fälle der Miss­ach­tung der Insti­tu­tio­nen der Verein­ten Natio­nen und der UN-Charta durch die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten auflis­ten sollte, würde dieser Text endlos lang werden. In diese Liste müsste auch die Weige­rung der USA aufge­nom­men werden,

      • das UN-Seerechts­über­ein­kom­mens von 1982 zu unterzeichnen.
      • das Basler Über­ein­kom­men von 1989 über die Kontrolle der grenz­über­schrei­ten­den Verbrin­gung gefähr­li­cher Abfälle und ihrer Entsor­gung, das Über­ein­kom­mens über die biolo­gi­sche Viel­falt von 1992 oder das Rotter­da­mer Über­ein­kom­men von 1998 über das Verfah­ren der vorhe­ri­gen Zustim­mung nach Inkennt­nis­set­zung für bestimmte gefähr­li­che Chemi­ka­lien und Pesti­zide im inter­na­tio­na­len Handel und das Stock­hol­mer Über­ein­kom­mens über persis­tente orga­ni­sche Schad­stoffe anzuerkennen.
      • den Römi­schen Verträ­gen von 2002 (mit denen der Inter­na­tio­nale Straf­ge­richts­hof einge­rich­tet wurde) beizutreten.
      • am Global Compact on Migra­tion von 2016 teilzunehmen.

 

Diese Bestands­auf­nahme müsste auch die Anwen­dung einsei­ti­ger, rechts­wid­ri­ger Zwangs­sank­tio­nen gegen zwei Dutzend Mitglied­staa­ten der Verein­ten Natio­nen sowie die rechts­wid­rige Verfol­gung von Angriffs­krie­gen gegen mehrere Länder (einschließ­lich Irak) umfassen.

 

Würde die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten im UN-Sicher­heits­rat heute ihr Veto einle­gen, wenn die UN-Charta zur Abstim­mung käme? Ange­sichts des histo­ri­schen Verhal­tens der US-Regie­rung ist die Antwort einfach: sicher.

Käthe Koll­witz (Deutsch­land), Die Gefan­ge­nen, 1908.

Während der UN-Sitzung trafen sich die Außenminister*innen von 18 Ländern – unter der Leitung von Vene­zuela – zu einer Sitzung der Gruppe der Freunde zur Vertei­di­gung der UN-Charta. Einer von vier Menschen auf der Welt wohnt in diesen 18 Ländern, zu denen auch Alge­rien, China, Kuba, Paläs­tina und Russ­land gehö­ren. Die Gruppe, die vom neuen vene­zo­la­ni­schen Außen­mi­nis­ter Felix Plasen­cia gelei­tet wird, rief zu einem «wieder­be­leb­ten Multi­la­te­ra­lis­mus» auf. Das bedeu­tet nichts ande­res, als die UN-Charta aufrecht­zu­er­hal­ten: Nein zu ille­ga­len Krie­gen und einsei­ti­gen Sank­tio­nen und Ja zur Zusam­men­ar­beit bei der Bekämp­fung der COVID-19-Pande­mie, Ja zur Zusam­men­ar­beit gegen die Klima­ka­ta­stro­phe, Ja zur Zusam­men­ar­beit gegen Hunger, Analpha­be­tis­mus und Verzweiflung.

 

Diese Länder haben nie die Möglich­keit zu defi­nie­ren, was die «inter­na­tio­nale Gemein­schaft» denkt, denn dieser Begriff wird nur in Bezug auf die Verei­nig­ten Staa­ten und ihre west­li­chen Verbün­de­ten verwen­det, die entschei­den, was zu tun ist und wie es für den Rest der Welt getan werden muss. Nur dann spre­chen wir mit feier­li­cher Stimme von der «inter­na­tio­na­len Gemein­schaft»; nicht, wenn die Gruppe der Freunde – die 25 % der Welt­be­völ­ke­rung vertritt – oder die Schang­haier Orga­ni­sa­tion für Zusam­men­ar­beit – die 40 % der Welt­be­völ­ke­rung vertritt – spre­chen, und auch nicht, wenn die Bewe­gung der Block­freien mit ihren 120 Mitglie­dern spricht.

Mahmoud Sabri (Irak), The Hero, 1963.

In der UNO sagte US-Präsi­dent Joe Biden: «Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg». Das ist eine begrü­ßens­werte Nach­richt. Aber sie ist auch wider­sprüch­lich. Premier­mi­nis­te­rin Mott­ley forderte Klar­heit und Ehrlich­keit. Bidens Kommen­tar schien weder klar noch ehrlich zu sein, da die USA um die Zeit des UN-Tref­fens herum ein neues Rüstungs­ab­kom­men mit Austra­lien und dem Verei­nig­ten König­reich (AUKUS) schlos­sen, das sich als Mili­tär­pakt tarnte, und ein Tref­fen der Quad (Austra­lien, Indien und Japan) abhiel­ten. Beide haben mili­tä­ri­sche Impli­ka­tio­nen, mit denen China unter Druck gesetzt werden soll.

 

Darüber hinaus wird in US-Regie­rungs­do­ku­men­ten immer wieder das Verlan­gen geäu­ßert, das US-Mili­tär auszu­bauen, um «in einem künf­ti­gen Konflikt mit China zu kämp­fen und zu siegen»; dazu gehört auch eine Neuge­stal­tung der mili­tä­ri­schen Akti­vi­tä­ten auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent, die auf die Zurück­drän­gung chine­si­scher wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Inter­es­sen abzielt. In Bidens zusätz­li­chem Haus­halts­an­trag für das US-Mili­tär heißt es, dies sei notwen­dig, «um der zuneh­men­den Bedro­hung durch China zu begegnen».

 

Diese Bedro­hung geht nicht von China aus, sondern ist eine Bedro­hung für China. Wenn die USA ihr Mili­tär weiter ausbauen, ihre Bünd­nisse im pazi­fi­schen Raum vertie­fen und ihre Rheto­rik verschär­fen, dann ist das nichts ande­res als ein Neuer Kalter Krieg – eine weitere gefähr­li­che Aktion, die der UN-Charta Hohn spricht.

 

Auf dem No Cold War-Webi­nar zum Thema Multi­po­la­ri­tät, «Towards a Multi­po­lar World: An Inter­na­tio­nal Peace Forum», sagte Fred M’membe von der Sozia­lis­ti­schen Partei Zambias, er sei zwar in einer Welt aufge­wach­sen, in der der bipo­lare Kalte Krieg eine exis­ten­zi­elle Bedro­hung darstellte, aber «die unipo­lare Welt ist gefähr­li­cher als die bipo­lare Welt». Das System, in dem wir heute leben und das von den west­li­chen Mäch­ten domi­niert wird, «unter­gräbt die globale Soli­da­ri­tät in einer Zeit, in der mensch­li­che Soli­da­ri­tät notwen­dig ist», sagte er.

Roberto Matta (Chile), El primer gol del pueblo chileno, 1971.

Man kann die UN-Charta nicht essen. Aber wenn man lesen lernt und die Charta liest, kann man sie nutzen, um für sein Recht auf mensch­li­che Würde zu kämp­fen. Wenn wir 7,9 Milli­ar­den Menschen uns zusam­men­tun und beschlie­ßen, eine Menschen­kette zu bilden, um für unsere Rechte einzu­tre­ten – jeder von uns steht einen Meter ausein­an­der –, würden wir eine Kette bilden, die 6,5 Millio­nen Kilo­me­ter lang wäre. Diese Kette würde 261 mal um den Äqua­tor reichen. Wir würden diese Kette ziehen, um unser Recht, Mensch zu sein, zu vertei­di­gen, um unsere Mensch­lich­keit zu vertei­di­gen und um die Natur zu schützen.

 

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.