Wenn heute über die Charta der Vereinten Nationen abgestimmt würde, würde sie angenommen werden?
Der neununddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Jedes Jahr im September kommen die Regierungschef*innen zum Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York City, um eine neue Sitzung der Generalversammlung zu eröffnen. Die Umgebung des Hauptsitzes wird bunt, Delegierte aus jedem der 193 Mitgliedsstaaten tummeln sich im UN-Gebäude und gehen anschließend in den zahlreichen Restaurants in der Umgebung essen, die die Pandemie überstanden haben. Je nach den Konflikten, die es gibt, werden bestimmte Reden ernst genommen; die Konflikte in diesem oder jenem Teil der Welt lenken Aufmerksamkeit auf die Worte ihrer Anführer*innen, aber ansonsten gibt es eine Reihe von Reden, die gehalten und vergessen werden.
Am 25. September betrat die Premierministerin von Barbados, Mia Amor Mottley, die Bühne in einem fast leeren Saal der UN-Generalversammlung. «Wie viele Staats- und Regierungschefs müssen noch auf dieses Podium kommen und nicht gehört werden, bevor sie aufhören zu kommen?», fragte sie mit Nachdruck. «Wie oft müssen wir noch vor einem leeren Saal vor Beamt*innen in einer Institution sprechen, die eigentlich für Staats- und Regierungschefs gedacht ist, um mit ihnen über die Fortschritte zu diskutieren, die notwendig sind, um einen weiteren großen Krieg oder eine der anderen großen Herausforderungen der Menschheit zu verhindern?» Premierministerin Mottley verzichtete auf ihre vorbereiteten Bemerkungen, da diese, wie sie sagte, «eine Wiederholung dessen wären, was Sie von anderen gehört haben». Stattdessen gab sie eine geharnischte Erklärung ab: «Wir haben die Mittel, um jedem Kind auf diesem Planeten ein Tablet zu geben. Und wir haben die Mittel, um jedem Erwachsenen einen Impfstoff zu geben. Und wir haben die Mittel, um in den Schutz der Schwächsten auf unserem Planeten vor einem Klimawandel zu investieren. Aber wir tun es nicht. Das liegt nicht daran, dass wir nicht genug haben. Es liegt daran, dass wir nicht willens sind, das, was wir haben, zu verteilen … Wenn wir den Willen aufbringen können, Menschen auf den Mond zu schicken und das Problem der männlichen Kahlköpfigkeit zu lösen … können wir auch einfache Probleme lösen, wie zum Beispiel, dass unsere Leute zu erschwinglichen Preisen essen können».
Die Vereinten Nationen wurden im Oktober 1945 gegründet, als 50 Länder in San Francisco zusammenkamen, um die UN-Charta zu ratifizieren. «Wir schreiben das Jahr 2021», sagte Premierministerin Mottley, es gibt «viele Länder, die 1945 noch nicht existierten und die sich ihren Völkern stellen und auf deren Bedürfnisse reagieren müssen». Viele dieser Länder waren einst Kolonien, deren Wohlergehen von ihren Kolonialherren in der UNO beiseitegeschoben wurde. Heute, 76 Jahre später, wollen die Menschen in diesen Ländern – darunter auch Barbados – «wissen, welche Bedeutung eine internationale Gemeinschaft hat, die zwar zusammenkommt, aber einander nicht zuhört, die nur redet, aber nicht miteinander reden will», so Premierministerin Mottley.
Während sich die Staats- und Regierungschef*innen eine*r nach der*dem anderen aufs Podium folgten, stellte Sacha Llorenti, Generalsekretär von ALBA-TCP – einer Organisation von neun Mitgliedstaaten in Lateinamerika und der Karibik, die zur Förderung der regionalen Zusammenarbeit und Entwicklung gegründet wurde – während eines Webinars von No Cold War zum Thema Multipolarität eine grundlegende Frage: «Wenn heute über die UN-Charta abgestimmt würde, würde sie angenommen werden?»
Die Charta wurde von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert, und dennoch wird sie von einigen ihrer mächtigsten Mitglieder, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika, Klausel um Klausel missachtet. Wenn ich alle Fälle der Missachtung der Institutionen der Vereinten Nationen und der UN-Charta durch die Regierung der Vereinigten Staaten auflisten sollte, würde dieser Text endlos lang werden. In diese Liste müsste auch die Weigerung der USA aufgenommen werden,
- das UN-Seerechtsübereinkommens von 1982 zu unterzeichnen.
- das Basler Übereinkommen von 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, das Übereinkommens über die biologische Vielfalt von 1992 oder das Rotterdamer Übereinkommen von 1998 über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien und Pestizide im internationalen Handel und das Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe anzuerkennen.
- den Römischen Verträgen von 2002 (mit denen der Internationale Strafgerichtshof eingerichtet wurde) beizutreten.
- am Global Compact on Migration von 2016 teilzunehmen.
Diese Bestandsaufnahme müsste auch die Anwendung einseitiger, rechtswidriger Zwangssanktionen gegen zwei Dutzend Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sowie die rechtswidrige Verfolgung von Angriffskriegen gegen mehrere Länder (einschließlich Irak) umfassen.
Würde die Regierung der Vereinigten Staaten im UN-Sicherheitsrat heute ihr Veto einlegen, wenn die UN-Charta zur Abstimmung käme? Angesichts des historischen Verhaltens der US-Regierung ist die Antwort einfach: sicher.
Während der UN-Sitzung trafen sich die Außenminister*innen von 18 Ländern – unter der Leitung von Venezuela – zu einer Sitzung der Gruppe der Freunde zur Verteidigung der UN-Charta. Einer von vier Menschen auf der Welt wohnt in diesen 18 Ländern, zu denen auch Algerien, China, Kuba, Palästina und Russland gehören. Die Gruppe, die vom neuen venezolanischen Außenminister Felix Plasencia geleitet wird, rief zu einem «wiederbelebten Multilateralismus» auf. Das bedeutet nichts anderes, als die UN-Charta aufrechtzuerhalten: Nein zu illegalen Kriegen und einseitigen Sanktionen und Ja zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, Ja zur Zusammenarbeit gegen die Klimakatastrophe, Ja zur Zusammenarbeit gegen Hunger, Analphabetismus und Verzweiflung.
Diese Länder haben nie die Möglichkeit zu definieren, was die «internationale Gemeinschaft» denkt, denn dieser Begriff wird nur in Bezug auf die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Verbündeten verwendet, die entscheiden, was zu tun ist und wie es für den Rest der Welt getan werden muss. Nur dann sprechen wir mit feierlicher Stimme von der «internationalen Gemeinschaft»; nicht, wenn die Gruppe der Freunde – die 25 % der Weltbevölkerung vertritt – oder die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit – die 40 % der Weltbevölkerung vertritt – sprechen, und auch nicht, wenn die Bewegung der Blockfreien mit ihren 120 Mitgliedern spricht.
In der UNO sagte US-Präsident Joe Biden: «Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg». Das ist eine begrüßenswerte Nachricht. Aber sie ist auch widersprüchlich. Premierministerin Mottley forderte Klarheit und Ehrlichkeit. Bidens Kommentar schien weder klar noch ehrlich zu sein, da die USA um die Zeit des UN-Treffens herum ein neues Rüstungsabkommen mit Australien und dem Vereinigten Königreich (AUKUS) schlossen, das sich als Militärpakt tarnte, und ein Treffen der Quad (Australien, Indien und Japan) abhielten. Beide haben militärische Implikationen, mit denen China unter Druck gesetzt werden soll.
Darüber hinaus wird in US-Regierungsdokumenten immer wieder das Verlangen geäußert, das US-Militär auszubauen, um «in einem künftigen Konflikt mit China zu kämpfen und zu siegen»; dazu gehört auch eine Neugestaltung der militärischen Aktivitäten auf dem afrikanischen Kontinent, die auf die Zurückdrängung chinesischer wirtschaftlicher und politischer Interessen abzielt. In Bidens zusätzlichem Haushaltsantrag für das US-Militär heißt es, dies sei notwendig, «um der zunehmenden Bedrohung durch China zu begegnen».
Diese Bedrohung geht nicht von China aus, sondern ist eine Bedrohung für China. Wenn die USA ihr Militär weiter ausbauen, ihre Bündnisse im pazifischen Raum vertiefen und ihre Rhetorik verschärfen, dann ist das nichts anderes als ein Neuer Kalter Krieg – eine weitere gefährliche Aktion, die der UN-Charta Hohn spricht.
Auf dem No Cold War-Webinar zum Thema Multipolarität, «Towards a Multipolar World: An International Peace Forum», sagte Fred M’membe von der Sozialistischen Partei Zambias, er sei zwar in einer Welt aufgewachsen, in der der bipolare Kalte Krieg eine existenzielle Bedrohung darstellte, aber «die unipolare Welt ist gefährlicher als die bipolare Welt». Das System, in dem wir heute leben und das von den westlichen Mächten dominiert wird, «untergräbt die globale Solidarität in einer Zeit, in der menschliche Solidarität notwendig ist», sagte er.
Man kann die UN-Charta nicht essen. Aber wenn man lesen lernt und die Charta liest, kann man sie nutzen, um für sein Recht auf menschliche Würde zu kämpfen. Wenn wir 7,9 Milliarden Menschen uns zusammentun und beschließen, eine Menschenkette zu bilden, um für unsere Rechte einzutreten – jeder von uns steht einen Meter auseinander –, würden wir eine Kette bilden, die 6,5 Millionen Kilometer lang wäre. Diese Kette würde 261 mal um den Äquator reichen. Wir würden diese Kette ziehen, um unser Recht, Mensch zu sein, zu verteidigen, um unsere Menschlichkeit zu verteidigen und um die Natur zu schützen.
Herzlichst,
Vijay