Die NATO hat Libyen im Jahr 2011 zerstört; der Sturm Daniel erledigte den Rest.
Der achtunddreißigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Drei Tage vor dem Einsturz der Abu-Mansur- und Al-Bilad-Dämme in Wadi Derna, Libyen, in der Nacht zum 10. September nahm der Dichter Mustafa al-Trabelsi an einer Diskussion im Kulturhaus von Derna über die Vernachlässigung der grundlegenden Infrastruktur in seiner Stadt teil. Bei dem Treffen warnte al-Trabelsi vor dem schlechten Zustand der Dämme. Am selben Tag schrieb er auf Facebook, seine geliebte Stadt sei in den letzten zehn Jahren «Peitschenhieben und Bombenangriffen ausgesetzt, und wurde dann von einer Mauer ohne Tür umschlossen, so dass sie in Angst und Depression gehüllt war». Dann kam der Sturm Daniel von der Mittelmeerküste, zog nach Libyen und brach die Dämme. Aufnahmen von Überwachungskameras im Maghar-Viertel der Stadt zeigten das rasche Vordringen der Fluten, die stark genug waren, um Gebäude zu zerstören und Menschenleben zu vernichten. Laut Berichten wurden 70% der Infrastruktur und 95% der Bildungsinstitutionen in den betroffenen Gebieten von den Fluten beschädigt. Bis Montag, den 20. September sind laut Schätzungen zwischen 4.000 bis 11.000 Menschen in den Fluten gestorben – unter ihnen der Dichter Mustafa al-Trabelsi, dessen Warnungen über Jahre hinweg ungehört blieben – und weitere 10.000 werden vermisst.
Hisham Chkiouat, der Luftfahrtminister der libyschen «Regierung der nationalen Stabilität» (mit Sitz in Sirte), besuchte Derna nach der Flut und sagte gegenüber BBC: «Ich war schockiert von dem, was ich sah. Es ist wie bei einem Tsunami. Ein ganzes Stadtviertel ist zerstört worden. Es gibt eine große Zahl von Opfern, die stündlich zunimmt.» Das Mittelmeer verschlang die antike Stadt, deren Wurzeln in der hellenistischen Epoche (326 v. Chr. bis 30 v. Chr.) liegen. Hussein Swaydan, Leiter der Straßen- und Brückenbaubehörde von Derna, gab an, dass die Fläche mit «schweren Schäden» insgesamt drei Millionen Quadratmeter beträgt. «Die Situation in dieser Stadt», so Swaydan, «ist mehr als katastrophal». Dr. Margaret Harris von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagte, die Überschwemmung habe «epische Ausmaße». «So einen Sturm hat es in der Region seit Menschengedenken nicht gegeben», sagte sie, « deshalbt ist dies ein großer Schock».
Über ganz Libyen hinweg gab es einen Aufschrei der Angst zu Wut über die Zerstörung, der sich allmählich in Forderungen nach einer Untersuchung verwandelte. Doch wer wird diese Untersuchung durchführen: die in Tripolis ansässige Regierung der Nationalen Einheit unter Premierminister Abdul Hamid Dbeibeh, die offiziell von den Vereinten Nationen (UN) anerkannt ist, oder die Regierung der Nationalen Stabilität unter Premierminister Osama Hamada in Sirte? Diese beiden rivalisierenden Regierungen, die sich seit vielen Jahren bekriegen, haben die Politik des Landes gelähmt, dessen staatliche Institutionen durch die Bombardierung der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) im Jahr 2011 schwer beschädigt wurden.
Der geteilte Staat und seine angeschlagenen Institutionen waren nicht in der Lage, die fast sieben Millionen Einwohner*innen Libyens in dem ölreichen, aber nun völlig verwüsteten Land angemessen zu versorgen. Vor der jüngsten Tragödie leisteten die Vereinten Nationen bereits humanitäre Hilfe für mindestens 300.000 Libyer*innen, doch infolge der Überschwemmungen werden nach ihren Schätzungen mindestens 884.000 weitere Menschen Hilfe benötigen. Diese Zahl wird mit Sicherheit auf mindestens 1,8 Millionen ansteigen. Dr. Harris von der WHO berichtet, dass einige Krankenhäuser «ausgelöscht» wurden und dass lebenswichtige medizinische Hilfsgüter, einschließlich Trauma-Kits und Leichensäcke, benötigt werden. «Der humanitäre Bedarf ist enorm und übersteigt die Möglichkeiten des libyschen Roten Halbmonds und sogar die der Regierung», sagte Tamar Ramadan, Leiterin der Delegation der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Libyen.
Der Hinweis auf die Limitierungen des Staates muss ernst genommen werden. Der Generalsekretär der Weltorganisation für Meteorologie, Petteri Taalas, wies ebenfalls darauf hin, dass trotz der beispiellosen Niederschlagsmengen (eine Station zeichnete 414,1 mm in 24 Stunden auf) der Zusammenbruch der staatlichen Institutionen zu der Katastrophe beigetragen hat. Taalas stellte fest, dass das Nationale Meteorologische Zentrum Libyens «große Lücken in seinen Beobachtungssystemen aufweist. Seine IT-Systeme funktionieren nicht gut und es herrscht chronischer Personalmangel. Das Nationale Meteorologische Zentrum versucht zu funktionieren, aber die gesamte Kette des Katastrophenmanagements und der Governance ist unterbrochen». Er fügte hinzu: «Die Zersplitterung der Katastrophenmanagement- und ‑reaktionsmechanismen des Landes sowie die sich verschlechternde Infrastruktur verschlimmerten die enormen Herausforderungen noch. Die politische Lage ist ein Risikofaktor».
Abdel Moneim al-Arfi, Mitglied des libyschen Parlaments (im östlichen Teil), schloss sich seinen Kolleg*innen an und forderte eine Untersuchung der Ursachen der Katastrophe. In seiner Erklärung wies al-Arfi auf grundlegende Probleme der politischen Klasse Libyens nach 2011 hin. Im Jahr 2010, dem Jahr vor dem NATO-Krieg, hatte die libysche Regierung Gelder für die Wiederherstellung der Wadi-Derna-Dämme (beide zwischen 1973 und 1977 gebaut) bereitgestellt. Dieses Projekt sollte von einem türkischen Unternehmen durchgeführt werden, das jedoch während des Krieges das Land verließ. Das Projekt wurde nie abgeschlossen, und die dafür bereitgestellten Mittel sind verschwunden. Nach Angaben von al-Arfi empfahlen Ingenieur*innen im Jahr 2020, die Dämme zu sanieren, da sie nicht mehr in der Lage waren, normale Regenfälle zu bewältigen, aber diese Empfehlungen wurden nicht beachtet. Das Geld verschwand weiter, und die Arbeiten wurden einfach nicht ausgeführt.
Seit dem Sturz des von Muammar al-Gaddafi (1942–2011) geführten Regimes herrscht in Libyen Straffreiheit. Im Februar und März 2011 begannen Zeitungen aus den arabischen Golfstaaten zu behaupten, dass die libyschen Regierungstruppen einen Völkermord an der libyschen Bevölkerung begehen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete zwei Resolutionen: die Resolution 1970 (Februar 2011), um die Gewalt zu verurteilen und ein Waffenembargo gegen das Land zu verhängen, und die Resolution 1973 (März 2011), um den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, «gemäß Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen» zu handeln, was Streitkräften ermöglichen würde, einen Waffenstillstand zu schließen und eine Lösung für die Krise zu finden. Unter der Führung Frankreichs und der Vereinigten Staaten verhinderte die NATO, dass eine Delegation der Afrikanischen Union diese Resolutionen umsetzte und Friedensgespräche mit allen Parteien in Libyen führte. Die westlichen Länder ignorierten auch das Treffen mit fünf afrikanischen Staatschefs in Addis Abeba im März 2011, bei dem al-Gaddafi dem Waffenstillstand zustimmte, ein Vorschlag, den er während einer Delegation der Afrikanischen Union nach Tripolis im April wiederholte. Dies war ein unnötiger Krieg, den der Westen und die arabischen Golfstaaten nutzten, um Rache an al-Gaddafi zu üben. Der grausame Konflikt hat Libyen, das auf dem Index für menschliche Entwicklung von 2010 auf Platz 53 von 169 Ländern lag (der höchste Rang auf dem afrikanischen Kontinent), in ein Land verwandelt, das sich durch schlechte Indikatoren für die menschliche Entwicklung auszeichnet und heute auf allen derartigen Listen deutlich weiter unten steht.
Anstatt einen von der Afrikanischen Union geführten Friedensplan zuzulassen, begann die NATO mit einem Bombardement, dass 9.600 Angriffe auf libysche Ziele umfasste, wobei sie sich besonders auf staatliche Einrichtungen konzentrierte. Als die Vereinten Nationen die NATO später aufforderten, Rechenschaft über die von ihr angerichteten Schäden abzulegen, schrieb der Rechtsberater der NATO, Peter Olson, dass eine Untersuchung nicht erforderlich sei, da «die NATO in Libyen nicht absichtlich Zivilist[*inn]en ins Visier genommen und keine Kriegsverbrechen begangen habe». Die mutwillige Zerstörung wichtiger libyscher staatlicher Infrastruktur, die nie wieder aufgebaut wurde und deren Fehlen ein Schlüsselfaktor ist, um das Massaker in Derna zu verstehen, interessierte niemanden.
Die Zerstörung Libyens durch die NATO setzte eine Kette von Ereignissen in Gang: den Zusammenbruch des libyschen Staates, den Bürgerkrieg, der bis heute andauert, die Ausbreitung islamischer Radikaler über ganz Nordafrika und in die Sahelzone, deren jahrzehntelange Destabilisierung zu einer Reihe von Putschen von Burkina Faso bis Niger geführt hat. In der Folge entstanden neue Migrationsrouten nach Europa, die zum Tod von Migrant*innen in der Wüste Sahara und im Mittelmeer sowie zu einem noch nie dagewesenen Ausmaß des Menschenhandels in der Region führten. Zu dieser Liste von Gefahren kommen nicht nur die Toten in Derna und natürlich die Todesfälle aufgrund des Sturms Daniel, sondern auch die Opfer eines Krieges, von dem sich das libysche Volk nie erholt hat.
Kurz vor der Flut in Libyen erschütterte ein Erdbeben das benachbarte marokkanische Hohe Atlasgebirge, das Dörfer wie Tenzirt auslöschte und etwa 3.000 Menschen tötete. «Ich kann nichts für das Erdbeben», schrieb der marokkanische Dichter Ahmad Barakat (1960–1994), «ich werde immer den Staub in meinem Mund tragen, der die Welt zerstört hat». Es ist, als hätte die Tragödie in der vergangenen Woche beschlossen, mit riesigen Schritten über den südlichen Rand des Mittelmeers zu trampeln.
Der Dichter Mustafa al-Trabelsi war von einer tragischen Stimmung ergriffen. Am 10. September, bevor er von den Flutwellen mitgerissen wurde, schrieb er: «[W]ir haben nur einander in dieser schwierigen Situation. Lasst uns zusammenhalten, bis wir ertrinken». Diese Stimmung wurde jedoch von anderen Gefühlen unterbrochen: Frustration über das «doppelte libysche Gefüge», wie er es nannte, mit einer Regierung in Tripolis und einer in Sirte; die gespaltene Bevölkerung; und die politischen Hinterlassenschaften eines andauernden Krieges um den kaputten Körper des libyschen Staates. «Wer hat gesagt, dass Libyen nicht eins ist?», beklagte Al-Trabelsi. Als das Wasser stieg, hinterließ Al-Trabelsi ein Gedicht, das von Flüchtlingen aus seiner Stadt und Libyer*innen im ganzen Land gelesen wird und sie daran erinnert, dass die Tragödie nicht alles ist, dass die Güte der Menschen, die einander zu Hilfe kommen, das «Versprechen der Hilfe» ist, die Hoffnung auf Zukunft.
Der Regen
stellt die durchnässten Straßen bloß,
den betrügerischen Bauunternehmer,
und den gescheiterten Staat.
Er wäscht alles,
Vogelschwingen
und das Fell der Katzen.
Erinnert die Armen
an ihre brüchigen Dächer
und ihre zerlumpten Kleider.
Er erweckt die Täler,
schüttelt ihren gähnenden Staub ab
und trockene Krusten.
Der Regen
ein Zeichen der Güte,
ein Versprechen der Hilfe,
eine Alarmglocke.
Herzlichst,
Vijay