Die NATO hat Libyen im Jahr 2011 zerstört; der Sturm Daniel erledigte den Rest.

Der achtunddreißigste Newsletter (2023)

Shefa Salem al-Baraesi (Libyen), Drown on Dry Land, 2019.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Drei Tage vor dem Einsturz der Abu-Mansur- und Al-Bilad-Dämme in Wadi Derna, Libyen, in der Nacht zum 10. Septem­ber nahm der Dich­ter Mustafa al-Trabelsi an einer Diskus­sion im Kultur­haus von Derna über die Vernach­läs­si­gung der grund­le­gen­den Infra­struk­tur in seiner Stadt teil. Bei dem Tref­fen warnte al-Trabelsi vor dem schlech­ten Zustand der Dämme. Am selben Tag schrieb er auf Face­book, seine geliebte Stadt sei in den letz­ten zehn Jahren «Peit­schen­hie­ben und Bomben­an­grif­fen ausge­setzt, und wurde dann von einer Mauer ohne Tür umschlos­sen, so dass sie in Angst und Depres­sion gehüllt war». Dann kam der Sturm Daniel von der Mittel­meer­küste, zog nach Libyen und brach die Dämme. Aufnah­men von Über­wa­chungs­ka­me­ras im Maghar-Vier­tel der Stadt zeig­ten das rasche Vordrin­gen der Fluten, die stark genug waren, um Gebäude zu zerstö­ren und Menschen­le­ben zu vernich­ten. Laut Berich­ten wurden 70% der Infra­struk­tur und 95% der Bildungs­in­sti­tu­tio­nen in den betrof­fe­nen Gebie­ten von den Fluten beschä­digt. Bis Montag, den 20. Septem­ber sind laut Schät­zun­gen zwischen 4.000 bis 11.000 Menschen in den Fluten gestor­ben – unter ihnen der Dich­ter Mustafa al-Trabelsi, dessen Warnun­gen über Jahre hinweg unge­hört blie­ben – und weitere 10.000 werden vermisst.

 

Hisham Chki­ouat, der Luft­fahrt­mi­nis­ter der liby­schen «Regie­rung der natio­na­len Stabi­li­tät» (mit Sitz in Sirte), besuchte Derna nach der Flut und sagte gegen­über BBC: «Ich war scho­ckiert von dem, was ich sah. Es ist wie bei einem Tsunami. Ein ganzes Stadt­vier­tel ist zerstört worden. Es gibt eine große Zahl von Opfern, die stünd­lich zunimmt.» Das Mittel­meer verschlang die antike Stadt, deren Wurzeln in der helle­nis­ti­schen Epoche (326 v. Chr. bis 30 v. Chr.) liegen. Hussein Sway­dan, Leiter der Stra­ßen- und Brücken­bau­be­hörde von Derna, gab an, dass die Fläche mit «schwe­ren Schä­den» insge­samt drei Millio­nen Quadrat­me­ter beträgt. «Die Situa­tion in dieser Stadt», so Sway­dan, «ist mehr als kata­stro­phal». Dr. Marga­ret Harris von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO) sagte, die Über­schwem­mung habe «epische Ausmaße». «So einen Sturm hat es in der Region seit Menschen­ge­den­ken nicht gege­ben», sagte sie, « deshalbt ist dies ein großer Schock».

 

Über ganz Libyen hinweg gab es einen Aufschrei der Angst zu Wut über die Zerstö­rung, der sich allmäh­lich in Forde­run­gen nach einer Unter­su­chung verwan­delte. Doch wer wird diese Unter­su­chung durch­füh­ren: die in Tripo­lis ansäs­sige Regie­rung der Natio­na­len Einheit unter Premier­mi­nis­ter Abdul Hamid Dbei­beh, die offi­zi­ell von den Verein­ten Natio­nen (UN) aner­kannt ist, oder die Regie­rung der Natio­na­len Stabi­li­tät unter Premier­mi­nis­ter Osama Hamada in Sirte? Diese beiden riva­li­sie­ren­den Regie­run­gen, die sich seit vielen Jahren bekrie­gen, haben die Poli­tik des Landes gelähmt, dessen staat­li­che Insti­tu­tio­nen durch die Bombar­die­rung der Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) im Jahr 2011 schwer beschä­digt wurden.

Soad Abdel Rassoul (Ägyp­ten), My Last Meal, 2019.

Der geteilte Staat und seine ange­schla­ge­nen Insti­tu­tio­nen waren nicht in der Lage, die fast sieben Millio­nen Einwohner*innen Liby­ens in dem ölrei­chen, aber nun völlig verwüs­te­ten Land ange­mes­sen zu versor­gen. Vor der jüngs­ten Tragö­die leis­te­ten die Verein­ten Natio­nen bereits huma­ni­täre Hilfe für mindes­tens 300.000 Libyer*innen, doch infolge der Über­schwem­mun­gen werden nach ihren Schät­zun­gen mindes­tens 884.000 weitere Menschen Hilfe benö­ti­gen. Diese Zahl wird mit Sicher­heit auf mindes­tens 1,8 Millio­nen anstei­gen. Dr. Harris von der WHO berich­tet, dass einige Kran­ken­häu­ser «ausge­löscht» wurden und dass lebens­wich­tige medi­zi­ni­sche Hilfs­gü­ter, einschließ­lich Trauma-Kits und Leichen­sä­cke, benö­tigt werden. «Der huma­ni­täre Bedarf ist enorm und über­steigt die Möglich­kei­ten des liby­schen Roten Halb­monds und sogar die der Regie­rung», sagte Tamar Rama­dan, Leite­rin der Dele­ga­tion der Inter­na­tio­na­len Föde­ra­tion der Rotkreuz- und Rothalb­mond­ge­sell­schaf­ten in Libyen.

 

Der Hinweis auf die Limi­tie­run­gen des Staa­tes muss ernst genom­men werden. Der Gene­ral­se­kre­tär der Welt­or­ga­ni­sa­tion für Meteo­ro­lo­gie, Petteri Taalas, wies eben­falls darauf hin, dass trotz der beispiel­lo­sen Nieder­schlags­men­gen (eine Station zeich­nete 414,1 mm in 24 Stun­den auf) der Zusam­men­bruch der staat­li­chen Insti­tu­tio­nen zu der Kata­stro­phe beigetra­gen hat. Taalas stellte fest, dass das Natio­nale Meteo­ro­lo­gi­sche Zentrum Liby­ens «große Lücken in seinen Beob­ach­tungs­sys­te­men aufweist. Seine IT-Systeme funk­tio­nie­ren nicht gut und es herrscht chro­ni­scher Perso­nal­man­gel. Das Natio­nale Meteo­ro­lo­gi­sche Zentrum versucht zu funk­tio­nie­ren, aber die gesamte Kette des Kata­stro­phen­ma­nage­ments und der Gover­nance ist unter­bro­chen». Er fügte hinzu: «Die Zersplit­te­rung der Kata­stro­phen­ma­nage­ment- und ‑reak­ti­ons­me­cha­nis­men des Landes sowie die sich verschlech­ternde Infra­struk­tur verschlim­mer­ten die enor­men Heraus­for­de­run­gen noch. Die poli­ti­sche Lage ist ein Risikofaktor».

Faiza Rama­dan (Libyen), The Meeting, 2011.

Abdel Moneim al-Arfi, Mitglied des liby­schen Parla­ments (im östli­chen Teil), schloss sich seinen Kolleg*innen an und forderte eine Unter­su­chung der Ursa­chen der Kata­stro­phe. In seiner Erklä­rung wies al-Arfi auf grund­le­gende Probleme der poli­ti­schen Klasse Liby­ens nach 2011 hin. Im Jahr 2010, dem Jahr vor dem NATO-Krieg, hatte die liby­sche Regie­rung Gelder für die Wieder­her­stel­lung der Wadi-Derna-Dämme (beide zwischen 1973 und 1977 gebaut) bereit­ge­stellt. Dieses Projekt sollte von einem türki­schen Unter­neh­men durch­ge­führt werden, das jedoch während des Krie­ges das Land verließ. Das Projekt wurde nie abge­schlos­sen, und die dafür bereit­ge­stell­ten Mittel sind verschwun­den. Nach Anga­ben von al-Arfi empfah­len Ingenieur*innen im Jahr 2020, die Dämme zu sanie­ren, da sie nicht mehr in der Lage waren, normale Regen­fälle zu bewäl­ti­gen, aber diese Empfeh­lun­gen wurden nicht beach­tet. Das Geld verschwand weiter, und die Arbei­ten wurden einfach nicht ausgeführt.

 

Seit dem Sturz des von Muammar al-Gaddafi (1942–2011) geführ­ten Regimes herrscht in Libyen Straf­frei­heit. Im Februar und März 2011 began­nen Zeitun­gen aus den arabi­schen Golf­staa­ten zu behaup­ten, dass die liby­schen Regie­rungs­trup­pen einen Völker­mord an der liby­schen Bevöl­ke­rung bege­hen. Der Sicher­heits­rat der Verein­ten Natio­nen verab­schie­dete zwei Reso­lu­tio­nen: die Reso­lu­tion 1970 (Februar 2011), um die Gewalt zu verur­tei­len und ein Waffen­em­bargo gegen das Land zu verhän­gen, und die Reso­lu­tion 1973 (März 2011), um den Mitglied­staa­ten die Möglich­keit zu geben, «gemäß Kapi­tel VII der Charta der Verein­ten Natio­nen» zu handeln, was Streit­kräf­ten ermög­li­chen würde, einen Waffen­still­stand zu schlie­ßen und eine Lösung für die Krise zu finden. Unter der Führung Frank­reichs und der Verei­nig­ten Staa­ten verhin­derte die NATO, dass eine Dele­ga­tion der Afri­ka­ni­schen Union diese Reso­lu­tio­nen umsetzte und Frie­dens­ge­sprä­che mit allen Parteien in Libyen führte. Die west­li­chen Länder igno­rier­ten auch das Tref­fen mit fünf afri­ka­ni­schen Staats­chefs in Addis Abeba im März 2011, bei dem al-Gaddafi dem Waffen­still­stand zustimmte, ein Vorschlag, den er während einer Dele­ga­tion der Afri­ka­ni­schen Union nach Tripo­lis im April wieder­holte. Dies war ein unnö­ti­ger Krieg, den der Westen und die arabi­schen Golf­staa­ten nutz­ten, um Rache an al-Gaddafi zu üben. Der grau­same Konflikt hat Libyen, das auf dem Index für mensch­li­che Entwick­lung von 2010 auf Platz 53 von 169 Ländern lag (der höchste Rang auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent), in ein Land verwan­delt, das sich durch schlechte Indi­ka­to­ren für die mensch­li­che Entwick­lung auszeich­net und heute auf allen derar­ti­gen Listen deut­lich weiter unten steht.

Tewa Barnosa (Libyen), War Love, 2016.

Anstatt einen von der Afri­ka­ni­schen Union geführ­ten Frie­dens­plan zuzu­las­sen, begann die NATO mit einem Bombar­de­ment, dass 9.600 Angriffe auf liby­sche Ziele umfasste, wobei sie sich beson­ders auf staat­li­che Einrich­tun­gen konzen­trierte. Als die Verein­ten Natio­nen die NATO später auffor­der­ten, Rechen­schaft über die von ihr ange­rich­te­ten Schä­den abzu­le­gen, schrieb der Rechts­be­ra­ter der NATO, Peter Olson, dass eine Unter­su­chung nicht erfor­der­lich sei, da «die NATO in Libyen nicht absicht­lich Zivilist[*inn]en ins Visier genom­men und keine Kriegs­ver­bre­chen began­gen habe». Die mutwil­lige Zerstö­rung wich­ti­ger liby­scher staat­li­cher Infra­struk­tur, die nie wieder aufge­baut wurde und deren Fehlen ein Schlüs­sel­fak­tor ist, um das Massa­ker in Derna zu verste­hen, inter­es­sierte niemanden.

 

Die Zerstö­rung Liby­ens durch die NATO setzte eine Kette von Ereig­nis­sen in Gang: den Zusam­men­bruch des liby­schen Staa­tes, den Bürger­krieg, der bis heute andau­ert, die Ausbrei­tung isla­mi­scher Radi­ka­ler über ganz Nord­afrika und in die Sahel­zone, deren jahr­zehn­te­lange Desta­bi­li­sie­rung zu einer Reihe von Putschen von Burkina Faso bis Niger geführt hat. In der Folge entstan­den neue Migra­ti­ons­rou­ten nach Europa, die zum Tod von Migrant*innen in der Wüste Sahara und im Mittel­meer sowie zu einem noch nie dage­we­se­nen Ausmaß des Menschen­han­dels in der Region führ­ten. Zu dieser Liste von Gefah­ren kommen nicht nur die Toten in Derna und natür­lich die Todes­fälle aufgrund des Sturms Daniel, sondern auch die Opfer eines Krie­ges, von dem sich das liby­sche Volk nie erholt hat.

Najla Shaw­kat Fitouri (Libyen), Sea Woun­ded, 2021.

Kurz vor der Flut in Libyen erschüt­terte ein Erdbe­ben das benach­barte marok­ka­ni­sche Hohe Atlas­ge­birge, das Dörfer wie Tenzirt auslöschte und etwa 3.000 Menschen tötete. «Ich kann nichts für das Erdbe­ben», schrieb der marok­ka­ni­sche Dich­ter Ahmad Bara­kat (1960–1994), «ich werde immer den Staub in meinem Mund tragen, der die Welt zerstört hat». Es ist, als hätte die Tragö­die in der vergan­ge­nen Woche beschlos­sen, mit riesi­gen Schrit­ten über den südli­chen Rand des Mittel­meers zu trampeln.

 

Der Dich­ter Mustafa al-Trabelsi war von einer tragi­schen Stim­mung ergrif­fen. Am 10. Septem­ber, bevor er von den Flut­wel­len mitge­ris­sen wurde, schrieb er: «[W]ir haben nur einan­der in dieser schwie­ri­gen Situa­tion. Lasst uns zusam­men­hal­ten, bis wir ertrin­ken». Diese Stim­mung wurde jedoch von ande­ren Gefüh­len unter­bro­chen: Frus­tra­tion über das «doppelte liby­sche Gefüge», wie er es nannte, mit einer Regie­rung in Tripo­lis und einer in Sirte; die gespal­tene Bevöl­ke­rung; und die poli­ti­schen Hinter­las­sen­schaf­ten eines andau­ern­den Krie­ges um den kaput­ten Körper des liby­schen Staa­tes. «Wer hat gesagt, dass Libyen nicht eins ist?», beklagte Al-Trabelsi. Als das Wasser stieg, hinter­ließ Al-Trabelsi ein Gedicht, das von Flücht­lin­gen aus seiner Stadt und Libyer*innen im ganzen Land gele­sen wird und sie daran erin­nert, dass die Tragö­die nicht alles ist, dass die Güte der Menschen, die einan­der zu Hilfe kommen, das «Verspre­chen der Hilfe» ist, die Hoff­nung auf Zukunft.

 

Der Regen

stellt die durch­näss­ten Stra­ßen bloß,

den betrü­ge­ri­schen Bauunternehmer,

und den geschei­ter­ten Staat.

Er wäscht alles,

Vogel­schwin­gen

und das Fell der Katzen.

Erin­nert die Armen

an ihre brüchi­gen Dächer

und ihre zerlump­ten Kleider.

Er erweckt die Täler,

schüt­telt ihren gähnen­den Staub ab

und trockene Krusten.

Der Regen

ein Zeichen der Güte,

ein Verspre­chen der Hilfe,

eine Alarm­glo­cke.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.