Ohne Kultur ist Freiheit unmöglich.

Der achtunddreißigste Newsletter (2022).

Roberto Matta (Chile), Cuba es la capi­tal, 1963.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Im Jahr 2002 besuchte der kuba­ni­sche Präsi­dent Fidel Castro Ruz die Natio­nale Ballett­schule des Landes, um das 18. Inter­na­tio­na­len Ballett­fes­ti­vals in Havanna zu eröff­nen. Die Schule war 1948 von der Prima­bal­le­rina Alicia Alonso (1920–2019) gegrün­det worden, aber sie hatte mit finan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen, bis im Zuge der kuba­ni­schen Revo­lu­tion beschlos­sen wurde, dass das Ballett – wie andere Kunst­for­men auch – für alle zugäng­lich sein und daher von der Gesell­schaft finan­ziert werden müss­ten. Im Jahr 2002 erin­nerte Castro in der Schule daran, dass das erste Festi­val im Jahr 1960 «Kubas kultu­relle Beru­fung, Iden­ti­tät und Natio­na­li­tät bekräf­tigte, selbst unter den widrigs­ten Umstän­den, als große Gefah­ren und Bedro­hun­gen das Land erschütterten».

 

Das Ballett war, wie so viele andere Kultur­for­men, der Parti­zi­pa­tion und dem Vergnü­gen der brei­te­ren Bevöl­ke­rung entzo­gen worden. Die kuba­ni­sche Revo­lu­tion wollte diese künst­le­ri­sche Praxis dem Volk zurück­ge­ben, als Teil ihrer Entschlos­sen­heit, die Menschen­würde zu fördern. Um eine Revo­lu­tion in einem Land aufzu­bauen, das von kolo­nia­ler Barba­rei heim­ge­sucht wurde, musste der neue revo­lu­tio­näre Prozess sowohl die Souve­rä­ni­tät des Landes als auch die Würde jedes einzel­nen Volkes sicher­stel­len. Diese Doppel­auf­gabe ist der Zweck der natio­na­len Befrei­ung. «Ohne Kultur», sagte Castro, «ist Frei­heit nicht möglich».

Enri­que Tábara (Ecua­dor), Colo­quio de frívo­los, 1982.

In vielen Spra­chen hat das Wort «Kultur» mindes­tens zwei Bedeu­tun­gen. In der bürger­li­chen Gesell­schaft bedeu­tet Kultur sowohl Raffi­nesse als auch hohe Kunst. Diese Kultur ist Eigen­tum der herr­schen­den Klas­sen und wird durch die Weiter­gabe von Sitten und höhe­rer Bildung vererbt. Die zweite Bedeu­tung von Kultur ist die Lebens­weise, einschließ­lich des Glau­bens und der Prak­ti­ken eines Volkes, das Teil einer Gemein­schaft ist (vom Stamm bis zur Nation). Die Demo­kra­ti­sie­rung des Balletts und der klas­si­schen Musik durch die kuba­ni­sche Revo­lu­tion war beispiels­weise Teil des Versuchs, alle Formen des mensch­li­chen Lebens, von der Wirt­schaft bis zur Kultur, zu sozia­li­sie­ren. Darüber hinaus versuch­ten die revo­lu­tio­nä­ren Prozesse, das kultu­relle Erbe des kuba­ni­schen Volkes vor dem schäd­li­chen Einfluss der Kultur des Kolo­nia­lis­mus zu schüt­zen. Schüt­zen bedeu­tete jedoch nicht, die gesamte Kultur der Kolo­ni­al­her­ren abzu­leh­nen, denn das würde einem Volk, das Zugang zu allen Formen der Kultur haben muss, ein engstir­ni­ges Leben aufzwin­gen. Die kuba­ni­sche Revo­lu­tion hat sich beispiels­weise den Base­ball zu eigen gemacht, obwohl er seine Wurzeln in den Verei­nig­ten Staa­ten hat, dem Land, das seit sechs Jahr­zehn­ten versucht, Kuba zu ersticken.

 

Ein sozia­lis­ti­scher Ansatz für Kultur basiert daher auf vier Aspek­ten: der Demo­kra­ti­sie­rung von Hoch­kul­tur, dem Schutz des kultu­rel­len Erbes ehemals kolo­ni­sier­ter Völker, der Förde­rung grund­le­gen­der Elemente kultu­rel­ler Bildung und der Über­nahme von kultu­rel­len Formen, die auf die  kolo­ni­sie­rende Macht zurückgehen.

Violeta Parra (Chile). Ohne Titel (unvoll­endet), 1966.

Im Juli 2022 hielt ich in der kuba­ni­schen Casa de las Améri­cas, einer wich­ti­gen Insti­tu­tion im kultu­rel­len Leben Havan­nas und dem Herz­stück kultu­rel­ler Entwick­lun­gen von Chile bis Mexiko, einen Vortrag über zehn Thesen zu Marxis­mus und Deko­lo­ni­sie­rung. Einige Tage später berief der Direk­tor der Casa, Abel Prieto, ehema­li­ger Kultur­mi­nis­ter, ein Semi­nar ein, um einige dieser Themen zu erör­tern, vor allem die Frage, wie sich die kuba­ni­sche Gesell­schaft sowohl gegen den Ansturm impe­ria­lis­ti­scher Kultur­for­men als auch gegen das schäd­li­che Erbe von Rassis­mus und Patri­ar­chat vertei­di­gen kann. Diese Diskus­sion führte zu einer Reihe von Über­le­gun­gen über den Prozess des von Präsi­dent Miguel Díaz-Canel im Novem­ber 2019 ange­kün­dig­ten Natio­na­len Programms gegen Rassis­mus und Rassen­dis­kri­mi­nie­rung und über den Prozess, der zum Refe­ren­dum über das Fami­li­en­ge­setz­buch 2022 führte (über das am 25. Septem­ber abge­stimmt wird) – zwei Vorstösse, die das Poten­zial haben, die kuba­ni­sche Gesell­schaft in eine anti­ko­lo­niale Rich­tung zu verändern.

 

Das Dossier Nr. 56 (Septem­ber 2022) von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch und Casa de las Améri­cas trägt den Titel Ten Theses on Marxism and Deco­lo­ni­sa­tion und es enthält eine erwei­terte Fassung dieses Vortrags mit einem Vorwort von Abel Prieto. Um euch einen Vorge­schmack zu geben, hier die neunte These über den Kampf der Emotionen:

Anto­nio Berni (Argen­ti­nien), Juanito Laguna, ohne Datum

Neunte These: Der Kampf der Emotio­nen. Fidel Castro löste in den 1990er Jahren eine Debatte über das Konzept des Kamp­fes der Ideen aus, des Klas­sen­kamp­fes im Denken gegen die Bana­li­tä­ten der neoli­be­ra­len Vorstel­lun­gen vom mensch­li­chen Leben. Ein wesent­li­cher Bestand­teil von Fidels Reden aus dieser Zeit war nicht nur das, was er sagte, sondern auch die Art und Weise, wie er es sagte, wobei jedes Wort von großem Mitge­fühl durch­drun­gen war. Hier sprach ein Mann,  der sich für die Befrei­ung der Mensch­heit von den Tenta­keln des Eigen­tums, der Privi­le­gien und der Macht einsetzte. In der Tat ging es beim Kampf der Ideen nicht nur um die Ideen selbst, sondern auch um einen «Kampf der Emotio­nen», einen Versuch, Gefühle von der Fixie­rung auf Gier zu Empfin­dun­gen der Empa­thie und Hoff­nung zu verschieben.

 

Eine der wahren Heraus­for­de­run­gen unse­rer Zeit besteht darin, dass die Bour­geoi­sie die Kultur­in­dus­trie sowie die Bildungs- und Glau­bens­in­sti­tu­tio­nen benutzt, um die Aufmerk­sam­keit weg von substan­zi­el­len Diskus­sio­nen über reale Probleme – und die Suche nach gemein­sa­men Lösun­gen für soziale Dilem­mas – lenkt und statt­des­sen in die Rich­tung von Fanta­sie­pro­ble­men, die die Mensch­heit ablen­ken. Der marxis­ti­sche Philo­soph Ernst Bloch bezeich­nete dies 1935 als «Erfül­lungs­schwin­del», als das Aussäen einer Reihe von Fanta­sien, deren unmög­li­che Verwirk­li­chung verschlei­ert ist. Der Nutzen der gesell­schaft­li­chen Produk­tion, schrieb Bloch, «wird von der groß­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ober­schicht geern­tet, die goti­sche Träume gegen prole­ta­ri­sche Reali­tä­ten einsetzt». Die Unter­hal­tungs­in­dus­trie unter­gräbt die prole­ta­ri­sche Kultur mit der Säure von Sehn­süch­ten, die im kapi­ta­lis­ti­schen System nicht erfüllt werden können. Aber diese Sehn­süchte reichen aus, um jedes Projekt der Arbei­ter­klasse zu schwächen.

 

Eine degra­dierte Gesell­schaft im Kapi­ta­lis­mus bringt ein sozia­les Leben hervor, das von Atomi­sie­rung und Entfrem­dung, Verzweif­lung und Angst, Wut und Hass, Ressen­ti­ments und Versa­gen durch­drun­gen ist. Dies sind häss­li­che Emotio­nen, die von der Kultur­in­dus­trie («Du kannst es auch haben! »), den Bildungs­ein­rich­tun­gen («Gier ist der Haupt­an­trieb») und dem Neofa­schis­mus («Hasse Einwan­de­rer, sexu­elle Minder­hei­ten und alle, die dir deine Träume verweh­ren») geformt und geför­dert werden. Der Einfluss dieser Emotio­nen auf die Gesell­schaft ist nahezu voll­kom­men, und der Aufstieg der Neofa­schis­ten beruht maßgeb­lich auf dieser Tatsa­che. Sinn­ent­leert wird Gesell­schaft zum Spektakel.

 

Aus marxis­ti­scher Sicht wird die Kultur nicht als isolier­ter und zeit­lo­ser Aspekt der mensch­li­chen Reali­tät betrach­tet, und auch Emotio­nen werden nicht als eine eigene Welt oder als außer­halb der geschicht­li­chen Entwick­lun­gen stehend ange­se­hen. Da mensch­li­chen Erfah­run­gen durch die Bedin­gun­gen des mate­ri­el­len Lebens bestimmt werden, werden Schick­sals­vor­stel­lun­gen so lange fort­be­stehen, wie die Armut ein Merk­mal des mensch­li­chen Lebens ist. Wenn die Armut über­wun­den wird, hat der Fata­lis­mus eine weni­ger sichere ideo­lo­gi­sche Grund­lage, aber er wird nicht auto­ma­tisch verdrängt. Kultu­ren sind wider­sprüch­lich, sie brin­gen eine Reihe von Elemen­ten auf unglei­che Weise aus dem sozia­len Gefüge einer unglei­chen Gesell­schaft zusam­men, die zwischen der Repro­duk­tion der Klas­sen­hier­ar­chie und dem Wider­stand gegen Elemente der sozia­len Hier­ar­chie schwankt. Die herr­schen­den Ideo­lo­gien durch­drin­gen die Kultur durch die Tenta­kel der ideo­lo­gi­schen Appa­rate und über­wäl­ti­gen tatsäch­li­che Erfah­run­gen der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft. Neue Kultur wird durch den Klas­sen­kampf und durch neue soziale Forma­tio­nen, die durch sozia­lis­ti­sche Projekte entste­hen, geschaf­fen – und nicht nur durch Wunschdenken.

 

Es ist wich­tig, sich daran zu erin­nern, dass in den Anfangs­jah­ren jedes revo­lu­tio­nä­ren Prozes­ses – von Russ­land 1917 bis Kuba 1959 – das kultu­relle Aufblü­hen von den Gefüh­len der Freude und unend­li­cher Möglich­kei­ten, von inten­si­ver Krea­ti­vi­tät und Expe­ri­men­tier­freude durch­drun­gen war. Es ist diese Sensi­bi­li­tät, die ein Fens­ter zu etwas ande­rem als den schau­er­li­chen Gefüh­len von Gier und Hass öffnet.

Nicolás Guil­lén ehrt Alicia Alonso in der Unión Nacio­nal de Escri­to­res y Artis­tas de Cuba (Natio­na­ler Schrift­stel­ler- und Künst­ler­ver­band Kubas), Havanna, 1961.

In den ersten Jahren nach 1959 erlebte Kuba eine wahre Welle der Krea­ti­vi­tät. Nicolás Guil­lén (1902–1969), ein revo­lu­tio­nä­rer Dich­ter, in Haft unter der Dikta­tur von Fulgen­cio Batista, hat die Härte des Lebens und die große Sehn­sucht nach der revo­lu­tio­nä­ren Befrei­ung des kuba­ni­schen Volkes vom Elend des Hungers und der sozia­len Hier­ar­chien einge­fan­gen. Sein Gedicht «Tengo» («Ich habe») aus dem Jahr 1964 erzählt uns, dass die neue Kultur ein funda­men­ta­les Element der Revo­lu­tion war – das Gefühl, dass man sich vor einem Vorge­setz­ten nicht verbeu­gen muss, dass man zu den Arbei­tern in den Büros sagen kann, dass auch sie Genoss*innen sind und nicht «Sir» und «Ma’am», dass man als Schwarze*r in ein Hotel gehen kann, ohne an der Tür aufge­for­dert zu werden, stehen zu blei­ben. Sein großes anti­ko­lo­nia­les Gedicht macht uns auf die mate­ri­el­len Grund­la­gen der Kultur aufmerksam:

 

Ich habe, sehen wir mal,

ich habe gelernt, zu lesen,

zu zählen.

Ich habe gelernt, zu schreiben,

und zu denken,

und zu lachen.

Ich habe, ja, ich habe

einen Platz zum Arbeiten

und um zu verdienen

was ich zum Essen habe.

Ich habe, sehen wir mal,

ich habe, was ich haben muss.

 

Am Ende seines Vorworts zum Dossier schreibt Abel Prieto: «Wir müssen die Bedeu­tung des Anti­ko­lo­nia­len in einen Instinkt verwan­deln». Denkt einen Moment darüber nach: Anti-Kolo­nia­lis­mus ist nicht nur die Been­di­gung der forma­len kolo­nia­len Herr­schaft, sondern ein tief­grei­fen­der Prozess, der sich auf der Instinkt-Ebene veran­kern muss, damit wir die Fähig­keit entwi­ckeln können, unsere Grund­be­dürf­nisse zu befrie­di­gen (wie zum Beispiel die Über­win­dung von Hunger und Analpha­be­tis­mus) und unser Bewusst­sein für die Notwen­dig­keit von Kultu­ren zu schär­fen, die uns eman­zi­pie­ren und uns nicht an die schil­lernde Welt unbe­zahl­ba­rer Waren binden.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.