Ohne Kultur ist Freiheit unmöglich.
Der achtunddreißigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 2002 besuchte der kubanische Präsident Fidel Castro Ruz die Nationale Ballettschule des Landes, um das 18. Internationalen Ballettfestivals in Havanna zu eröffnen. Die Schule war 1948 von der Primaballerina Alicia Alonso (1920–2019) gegründet worden, aber sie hatte mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, bis im Zuge der kubanischen Revolution beschlossen wurde, dass das Ballett – wie andere Kunstformen auch – für alle zugänglich sein und daher von der Gesellschaft finanziert werden müssten. Im Jahr 2002 erinnerte Castro in der Schule daran, dass das erste Festival im Jahr 1960 «Kubas kulturelle Berufung, Identität und Nationalität bekräftigte, selbst unter den widrigsten Umständen, als große Gefahren und Bedrohungen das Land erschütterten».
Das Ballett war, wie so viele andere Kulturformen, der Partizipation und dem Vergnügen der breiteren Bevölkerung entzogen worden. Die kubanische Revolution wollte diese künstlerische Praxis dem Volk zurückgeben, als Teil ihrer Entschlossenheit, die Menschenwürde zu fördern. Um eine Revolution in einem Land aufzubauen, das von kolonialer Barbarei heimgesucht wurde, musste der neue revolutionäre Prozess sowohl die Souveränität des Landes als auch die Würde jedes einzelnen Volkes sicherstellen. Diese Doppelaufgabe ist der Zweck der nationalen Befreiung. «Ohne Kultur», sagte Castro, «ist Freiheit nicht möglich».
In vielen Sprachen hat das Wort «Kultur» mindestens zwei Bedeutungen. In der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet Kultur sowohl Raffinesse als auch hohe Kunst. Diese Kultur ist Eigentum der herrschenden Klassen und wird durch die Weitergabe von Sitten und höherer Bildung vererbt. Die zweite Bedeutung von Kultur ist die Lebensweise, einschließlich des Glaubens und der Praktiken eines Volkes, das Teil einer Gemeinschaft ist (vom Stamm bis zur Nation). Die Demokratisierung des Balletts und der klassischen Musik durch die kubanische Revolution war beispielsweise Teil des Versuchs, alle Formen des menschlichen Lebens, von der Wirtschaft bis zur Kultur, zu sozialisieren. Darüber hinaus versuchten die revolutionären Prozesse, das kulturelle Erbe des kubanischen Volkes vor dem schädlichen Einfluss der Kultur des Kolonialismus zu schützen. Schützen bedeutete jedoch nicht, die gesamte Kultur der Kolonialherren abzulehnen, denn das würde einem Volk, das Zugang zu allen Formen der Kultur haben muss, ein engstirniges Leben aufzwingen. Die kubanische Revolution hat sich beispielsweise den Baseball zu eigen gemacht, obwohl er seine Wurzeln in den Vereinigten Staaten hat, dem Land, das seit sechs Jahrzehnten versucht, Kuba zu ersticken.
Ein sozialistischer Ansatz für Kultur basiert daher auf vier Aspekten: der Demokratisierung von Hochkultur, dem Schutz des kulturellen Erbes ehemals kolonisierter Völker, der Förderung grundlegender Elemente kultureller Bildung und der Übernahme von kulturellen Formen, die auf die kolonisierende Macht zurückgehen.
Im Juli 2022 hielt ich in der kubanischen Casa de las Américas, einer wichtigen Institution im kulturellen Leben Havannas und dem Herzstück kultureller Entwicklungen von Chile bis Mexiko, einen Vortrag über zehn Thesen zu Marxismus und Dekolonisierung. Einige Tage später berief der Direktor der Casa, Abel Prieto, ehemaliger Kulturminister, ein Seminar ein, um einige dieser Themen zu erörtern, vor allem die Frage, wie sich die kubanische Gesellschaft sowohl gegen den Ansturm imperialistischer Kulturformen als auch gegen das schädliche Erbe von Rassismus und Patriarchat verteidigen kann. Diese Diskussion führte zu einer Reihe von Überlegungen über den Prozess des von Präsident Miguel Díaz-Canel im November 2019 angekündigten Nationalen Programms gegen Rassismus und Rassendiskriminierung und über den Prozess, der zum Referendum über das Familiengesetzbuch 2022 führte (über das am 25. September abgestimmt wird) – zwei Vorstösse, die das Potenzial haben, die kubanische Gesellschaft in eine antikoloniale Richtung zu verändern.
Das Dossier Nr. 56 (September 2022) von Tricontinental: Institute for Social Research und Casa de las Américas trägt den Titel Ten Theses on Marxism and Decolonisation und es enthält eine erweiterte Fassung dieses Vortrags mit einem Vorwort von Abel Prieto. Um euch einen Vorgeschmack zu geben, hier die neunte These über den Kampf der Emotionen:
Neunte These: Der Kampf der Emotionen. Fidel Castro löste in den 1990er Jahren eine Debatte über das Konzept des Kampfes der Ideen aus, des Klassenkampfes im Denken gegen die Banalitäten der neoliberalen Vorstellungen vom menschlichen Leben. Ein wesentlicher Bestandteil von Fidels Reden aus dieser Zeit war nicht nur das, was er sagte, sondern auch die Art und Weise, wie er es sagte, wobei jedes Wort von großem Mitgefühl durchdrungen war. Hier sprach ein Mann, der sich für die Befreiung der Menschheit von den Tentakeln des Eigentums, der Privilegien und der Macht einsetzte. In der Tat ging es beim Kampf der Ideen nicht nur um die Ideen selbst, sondern auch um einen «Kampf der Emotionen», einen Versuch, Gefühle von der Fixierung auf Gier zu Empfindungen der Empathie und Hoffnung zu verschieben.
Eine der wahren Herausforderungen unserer Zeit besteht darin, dass die Bourgeoisie die Kulturindustrie sowie die Bildungs- und Glaubensinstitutionen benutzt, um die Aufmerksamkeit weg von substanziellen Diskussionen über reale Probleme – und die Suche nach gemeinsamen Lösungen für soziale Dilemmas – lenkt und stattdessen in die Richtung von Fantasieproblemen, die die Menschheit ablenken. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch bezeichnete dies 1935 als «Erfüllungsschwindel», als das Aussäen einer Reihe von Fantasien, deren unmögliche Verwirklichung verschleiert ist. Der Nutzen der gesellschaftlichen Produktion, schrieb Bloch, «wird von der großkapitalistischen Oberschicht geerntet, die gotische Träume gegen proletarische Realitäten einsetzt». Die Unterhaltungsindustrie untergräbt die proletarische Kultur mit der Säure von Sehnsüchten, die im kapitalistischen System nicht erfüllt werden können. Aber diese Sehnsüchte reichen aus, um jedes Projekt der Arbeiterklasse zu schwächen.
Eine degradierte Gesellschaft im Kapitalismus bringt ein soziales Leben hervor, das von Atomisierung und Entfremdung, Verzweiflung und Angst, Wut und Hass, Ressentiments und Versagen durchdrungen ist. Dies sind hässliche Emotionen, die von der Kulturindustrie («Du kannst es auch haben! »), den Bildungseinrichtungen («Gier ist der Hauptantrieb») und dem Neofaschismus («Hasse Einwanderer, sexuelle Minderheiten und alle, die dir deine Träume verwehren») geformt und gefördert werden. Der Einfluss dieser Emotionen auf die Gesellschaft ist nahezu vollkommen, und der Aufstieg der Neofaschisten beruht maßgeblich auf dieser Tatsache. Sinnentleert wird Gesellschaft zum Spektakel.
Aus marxistischer Sicht wird die Kultur nicht als isolierter und zeitloser Aspekt der menschlichen Realität betrachtet, und auch Emotionen werden nicht als eine eigene Welt oder als außerhalb der geschichtlichen Entwicklungen stehend angesehen. Da menschlichen Erfahrungen durch die Bedingungen des materiellen Lebens bestimmt werden, werden Schicksalsvorstellungen so lange fortbestehen, wie die Armut ein Merkmal des menschlichen Lebens ist. Wenn die Armut überwunden wird, hat der Fatalismus eine weniger sichere ideologische Grundlage, aber er wird nicht automatisch verdrängt. Kulturen sind widersprüchlich, sie bringen eine Reihe von Elementen auf ungleiche Weise aus dem sozialen Gefüge einer ungleichen Gesellschaft zusammen, die zwischen der Reproduktion der Klassenhierarchie und dem Widerstand gegen Elemente der sozialen Hierarchie schwankt. Die herrschenden Ideologien durchdringen die Kultur durch die Tentakel der ideologischen Apparate und überwältigen tatsächliche Erfahrungen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft. Neue Kultur wird durch den Klassenkampf und durch neue soziale Formationen, die durch sozialistische Projekte entstehen, geschaffen – und nicht nur durch Wunschdenken.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass in den Anfangsjahren jedes revolutionären Prozesses – von Russland 1917 bis Kuba 1959 – das kulturelle Aufblühen von den Gefühlen der Freude und unendlicher Möglichkeiten, von intensiver Kreativität und Experimentierfreude durchdrungen war. Es ist diese Sensibilität, die ein Fenster zu etwas anderem als den schauerlichen Gefühlen von Gier und Hass öffnet.
In den ersten Jahren nach 1959 erlebte Kuba eine wahre Welle der Kreativität. Nicolás Guillén (1902–1969), ein revolutionärer Dichter, in Haft unter der Diktatur von Fulgencio Batista, hat die Härte des Lebens und die große Sehnsucht nach der revolutionären Befreiung des kubanischen Volkes vom Elend des Hungers und der sozialen Hierarchien eingefangen. Sein Gedicht «Tengo» («Ich habe») aus dem Jahr 1964 erzählt uns, dass die neue Kultur ein fundamentales Element der Revolution war – das Gefühl, dass man sich vor einem Vorgesetzten nicht verbeugen muss, dass man zu den Arbeitern in den Büros sagen kann, dass auch sie Genoss*innen sind und nicht «Sir» und «Ma’am», dass man als Schwarze*r in ein Hotel gehen kann, ohne an der Tür aufgefordert zu werden, stehen zu bleiben. Sein großes antikoloniales Gedicht macht uns auf die materiellen Grundlagen der Kultur aufmerksam:
Ich habe, sehen wir mal,
ich habe gelernt, zu lesen,
zu zählen.
Ich habe gelernt, zu schreiben,
und zu denken,
und zu lachen.
Ich habe, ja, ich habe
einen Platz zum Arbeiten
und um zu verdienen
was ich zum Essen habe.
Ich habe, sehen wir mal,
ich habe, was ich haben muss.
Am Ende seines Vorworts zum Dossier schreibt Abel Prieto: «Wir müssen die Bedeutung des Antikolonialen in einen Instinkt verwandeln». Denkt einen Moment darüber nach: Anti-Kolonialismus ist nicht nur die Beendigung der formalen kolonialen Herrschaft, sondern ein tiefgreifender Prozess, der sich auf der Instinkt-Ebene verankern muss, damit wir die Fähigkeit entwickeln können, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen (wie zum Beispiel die Überwindung von Hunger und Analphabetismus) und unser Bewusstsein für die Notwendigkeit von Kulturen zu schärfen, die uns emanzipieren und uns nicht an die schillernde Welt unbezahlbarer Waren binden.
Herzlichst,
Vijay