Hinter der Polykrise steht das singuläre Dilemma der Menschheit: Kapitalismus.

Der siebenunddreißigste Newsletter (2023)

Tshe­rin Sherpa (Nepal), Lost Spirits, 2014.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Die Dilem­mata der Mensch­heit sind zahl­reich. Es bedarf kaum eines Blicks auf statis­ti­sche Daten, um zu wissen, dass wir uns in einer Krisen­spi­rale befin­den, von der Umwelt- und Klima­krise bis hin zu den Krisen der Armut und des Hungers. 1993 verwen­de­ten die Philosoph*innen Edgar Morin und Anne-Brigitte Kern in ihrem Buch Terre-Patrie («Heimat­land Erde») den Begriff «Poly­krise». Morin und Kern vertra­ten die Auffas­sung, dass «es kein einzel­nes lebens­wich­ti­ges Problem gibt, sondern viele lebens­wich­tige Probleme, und es ist diese komplexe Inter­so­li­da­ri­tät von Proble­men, Antago­nis­men, Krisen, unkon­trol­lier­ten Prozes­sen und die allge­meine Krise des Plane­ten, die das wich­tigste lebens­wich­tige Problem bleib». Dieser Gedanke – dass das Problem nicht eine Anein­an­der­rei­hung von Krisen ist, sondern dass sich die Krisen gegen­sei­tig umhül­len und ihre Auswir­kun­gen auf den Plane­ten verstär­ken – wurde 2016 in einer Rede des dama­li­gen Präsi­den­ten der Euro­päi­schen Kommis­sion, Jean-Claude Juncker, wieder popu­lär. Die verschie­de­nen Krisen in der Welt, so sagte er, «nähren sich gegen­sei­tig und schaf­fen ein Gefühl des Zwei­fels und der Unsi­cher­heit in den Köpfen unse­rer Menschen». Dieses Gefühl der Unge­heu­er­lich­keit der Anein­an­der­rei­hung von Krisen (ökolo­gi­scher, wirt­schaft­li­cher, sozia­ler und poli­ti­scher Art) wird durch den Begriff «Poly­krise» ausge­drückt – eine einzelne Krise, die sich aus vielen Krisen zusammensetzt.

 

Aus marxis­ti­scher Sicht hat der Begriff «Poly­krise» natür­lich seine Tücken, da er sugge­riert, dass diese vielen Krisen nichts mitein­an­der zu tun haben und nicht letzt­lich in dem Versa­gen des kapi­ta­lis­ti­schen Systems wurzeln, und dass sie nicht sowohl nach­ein­an­der als auch in ihrer Gesamt­heit anzu­ge­hen sind. So gab es beispiels­weise seit dem Erdgip­fel von Rio 1992 mehrere ganz klare Vorschläge zur Bewäl­ti­gung der Umwelt­krise, einschließ­lich des Stopps der Zerstö­rung des Regen­wal­des im Amazo­nas­ge­biet, aber keiner von ihnen wurde umge­setzt, weil das kapi­ta­lis­ti­sche Privat­ei­gen­tum die wesent­li­chen Ressour­cen des Plane­ten und die Archi­tek­tur der öffent­li­chen Poli­tik sowohl welt­weit beherrscht als auch in den verschie­de­nen Staa­ten, die am Amazo­nas­ge­biet betei­ligt sind.

Daiara Tukano (Brasi­lien), Mahá – arara vermelha, 2021.

Junckers Fest­stel­lung, dass die Poly­krise «Zwei­fel und Unge­wiss­heit» hervor­ruft, ist sowohl rich­tig als auch unauf­rich­tig: Während diese Analyse das Gefühl des Zwei­fels, das den Plane­ten durch­dringt, aner­kennt, versäumt sie es, irgend­et­was zu bieten, das einer Erklä­rung für die Entste­hung der Poly­krise ähnelt, und lässt damit Milli­ar­den von Menschen mit einer Analyse darüber im Unkla­ren, was diese vielen Krisen verur­sacht und wie wir zusam­men­ar­bei­ten können, um sie zu been­den. In dieser Rede von 2016 sagte Juncker aus der Perspek­tive der euro­päi­schen christ­li­chen Rech­ten, dass der neue Vorschlag der Euro­päi­schen Union für Europa, aber nicht für den Globus, darin bestehe, Inves­ti­tio­nen für den Aufbau von Infra­struk­tu­ren und die Verbes­se­rung der allge­mei­nen Lebens­be­din­gun­gen zu mobi­li­sie­ren, anstatt eine «Welt der blin­den, dummen Spar­sam­keit zu schaf­fen, von der viele Menschen weiter­hin träu­men». Ein solches Projekt kam nicht zustande. «Europa ist auf dem Weg der Besse­rung», sagte er damals. Aber jetzt, wie Peter Mertens, der Gene­ral­se­kre­tär der belgi­schen Arbei­ter­par­tei, mir Anfang dieses Jahres sagte, «erstickt der neoli­be­rale Konsens» Europa weit­hin und hat den Konti­nent in eine von Infla­tion geprägte Verzweif­lung gestürzt, die – im Moment – die extreme Rechte begünstigt.

Behjat Sadr (Iran), Ohne Titel, 1956.

Eines der Elemente der Poly­krise ist die Verschär­fung der Probleme der Geschlech­ter­un­gleich­heit und der Gewalt gegen Frauen. Ein neuer Bericht von UN Women, Progress on the Sustainable Deve­lo­p­ment Goals: The Gender Snapshot 2023, enthält einige sehr beun­ru­hi­gende Zahlen. Der Bericht geht davon aus, dass bis 2030 342,4 Millio­nen Frauen und Mädchen – schät­zungs­weise acht Prozent der weib­li­chen Welt­be­völ­ke­rung – in extre­mer Armut leben werden und fast jede vierte Frau von mäßi­ger oder schwe­rer Ernäh­rungs­un­si­cher­heit betrof­fen sein wird. Bei den derzei­ti­gen Raten werden der Studie zufolge 110 Millio­nen Mädchen und junge Frauen nicht zur Schule gehen. Auffal­lend ist, dass trotz des jahre­lan­gen Kamp­fes für glei­chen Lohn für glei­che Arbeit – der übri­gens von der Sowjet­union in ihrem Dekret über Lohn­ta­rife vom Juni 1920 ange­stos­sen wurde – das Lohn­ge­fälle zwischen Männern und Frauen nach wie vor «anhal­tend hoch» ist. Wie der Bericht fest­stellt, «verdie­nen Frauen für jeden Dollar, den Männer welt­weit an Arbeits­ein­kom­men erzie­len, nur 51 Cent. Nur 61,4 Prozent der Frauen im Haupt­er­werbs­al­ter sind erwerbs­tä­tig, vergli­chen mit 90 Prozent der Männer im Haupt­er­werbs­al­ter». UN Women, die sich in ihrem Bericht 2023 mit Frauen ab 65 Jahren beschäf­tigt hat, zeigt, dass in 28 der 116 Länder, die Daten vorge­legt haben, weni­ger als die Hälfte der älte­ren Frauen eine Rente haben. Das ist wirk­lich erschre­ckend. Und die Tendenz ist durch­weg rückläufig.

 

Im August veran­stal­te­ten die Inter­na­tio­nale Arbeits­or­ga­ni­sa­tion (ILO) und UN Women in Nepal ein Semi­nar zum Thema menschen­wür­dige Beschäf­ti­gung für Frauen in der Pfle­ge­öko­no­mie. Wie Frauen in vielen Teilen der Welt verrich­ten auch nepa­le­si­sche Frauen 85 Prozent der tägli­chen unbe­zahl­ten Betreu­ungs­ar­beit und verbrin­gen damit insge­samt 29 Millio­nen Stun­den pro Tag, vergli­chen mit fünf Millio­nen Stun­den, die Männer damit verbrin­gen. Die Zahlen der IAO zeigen, dass «welt­weit 76,2 Prozent der gesam­ten unbe­zahl­ten Betreu­ungs­ar­beit von Frauen geleis­tet wird». In Nepal gaben nach Anga­ben der Regie­rung fast 40 Prozent der Frauen an, dass sie keine Arbeit finden können, weil es keine Alter­na­ti­ven zu ihrer unbe­zahl­ten Betreu­ungs­ar­beit gibt, wie etwa staat­li­che Kinderkrippen.

 

Natür­lich ist der Grund für das Lohn­ge­fälle zwischen den Geschlech­tern und für die unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit der anhal­tende Griff des Patri­ar­chats, das in einer konzer­tier­ten Aktion bekämpft werden muss. Hier können wir von den insti­tu­tio­nel­len Verän­de­run­gen in den sozia­lis­ti­schen Staa­ten lernen, die einen Teil ihres sozia­len Reich­tums für den Aufbau von Struk­tu­ren zur Verge­sell­schaf­tung der Pfle­ge­ar­beit verwen­den, wie z. B. Kinder­ta­ges­stät­ten, Horte und Sozi­al­zen­tren für ältere Menschen. Kinder­be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen über­neh­men nicht nur einen Teil der unbe­zahl­ten häus­li­chen Pfle­ge­ar­beit, sondern vermit­teln den Kindern auch die notwen­di­gen sozia­len und erzie­he­ri­schen Fähig­kei­ten für ihre späte­ren Jahre. Anfang dieses Jahres forderte das UN-Kinder­hilfs­werk (UNICEF) mehr Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­teme, die auch Kinder­be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen umfas­sen. Jahr­zehn­te­lange neoli­be­rale Spar­maß­nah­men haben in den kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten jeden noch so grund­le­gen­den sozia­len Schutz ausge­höhlt, während die Behaup­tun­gen der Rech­ten, «fami­li­en­freund­lich» zu sein, ledig­lich den Druck auf Frauen, zu Hause zu blei­ben und unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit zu leis­ten, erhöht hat. An der Wurzel der erschre­cken­den Zahlen liegt nicht nur das Patri­ar­chat, sondern auch das, was viele der Elemente der Poly­krise gemein­sam haben: dass das soziale System des Kapi­ta­lis­mus von der Klasse ange­trie­ben wird, die das Eigen­tum privat kontrol­liert und sich weigert, den gesell­schaft­li­chen Reich­tum zur Eman­zi­pa­tion der Mensch­heit zu nutzen.

Saur­ganga Darshand­hari (Nepal), Delight, 2015.

Während des Bürger­kriegs in Nepal (1996–2006) schloss sich Nibha Shah, eine junge Frau aus einer aris­to­kra­ti­schen Fami­lie, den Maois­ten in den Wäldern an. Dort kämpfte sie für Gerech­tig­keit in ihrem Land und schrieb eine Reihe von Gedich­ten, darun­ter im Jahr 2005 eines über die Hart­nä­ckig­keit der Vögel. Es ist ein Gedicht, das uns lehrt, dass es nicht genügt, die Hoff­nung auf eine bessere Zukunft zu hegen, sondern dass wir sicher sein müssen, dass wir diese Poly­krise, diese Kata­stro­phe des Kapi­ta­lis­mus, durch kühnen Kampf über­win­den werden.

 

Die Menschen haben nur den Baum fallen sehen.

Wer hat das Nest des klei­nen Vogels fallen sehen?

Armes Ding!

Ein Haus, das sie Zweig für Zweig gebaut hat.

Wer hat die Tränen in ihren Augen gesehen?

Selbst wenn man ihre Tränen gese­hen hätte, wer hätte ihren Schmerz verstanden?

 

Der Vogel hat nicht aufgegeben,

hörte nicht auf zu hoffen,

hörte nicht auf zu fliegen.

Viel­mehr verließ sie ihr altes Zuhause

um ein neues zu schaf­fen, sammelte wieder

einen Zweig, einen ande­ren Zweig.

Sie baut ihr Nest in einem Mammutbaum.

Sie bewacht ihre Eier.

 

Der Vogel weiß nicht, wie verlieren.

 

Sie brei­tet die Flügel in neue Lüfte aus.

Sie brei­tet die Flüpel in neue Himmel aus.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.