Hinter der Polykrise steht das singuläre Dilemma der Menschheit: Kapitalismus.
Der siebenunddreißigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Die Dilemmata der Menschheit sind zahlreich. Es bedarf kaum eines Blicks auf statistische Daten, um zu wissen, dass wir uns in einer Krisenspirale befinden, von der Umwelt- und Klimakrise bis hin zu den Krisen der Armut und des Hungers. 1993 verwendeten die Philosoph*innen Edgar Morin und Anne-Brigitte Kern in ihrem Buch Terre-Patrie («Heimatland Erde») den Begriff «Polykrise». Morin und Kern vertraten die Auffassung, dass «es kein einzelnes lebenswichtiges Problem gibt, sondern viele lebenswichtige Probleme, und es ist diese komplexe Intersolidarität von Problemen, Antagonismen, Krisen, unkontrollierten Prozessen und die allgemeine Krise des Planeten, die das wichtigste lebenswichtige Problem bleib». Dieser Gedanke – dass das Problem nicht eine Aneinanderreihung von Krisen ist, sondern dass sich die Krisen gegenseitig umhüllen und ihre Auswirkungen auf den Planeten verstärken – wurde 2016 in einer Rede des damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, wieder populär. Die verschiedenen Krisen in der Welt, so sagte er, «nähren sich gegenseitig und schaffen ein Gefühl des Zweifels und der Unsicherheit in den Köpfen unserer Menschen». Dieses Gefühl der Ungeheuerlichkeit der Aneinanderreihung von Krisen (ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Art) wird durch den Begriff «Polykrise» ausgedrückt – eine einzelne Krise, die sich aus vielen Krisen zusammensetzt.
Aus marxistischer Sicht hat der Begriff «Polykrise» natürlich seine Tücken, da er suggeriert, dass diese vielen Krisen nichts miteinander zu tun haben und nicht letztlich in dem Versagen des kapitalistischen Systems wurzeln, und dass sie nicht sowohl nacheinander als auch in ihrer Gesamtheit anzugehen sind. So gab es beispielsweise seit dem Erdgipfel von Rio 1992 mehrere ganz klare Vorschläge zur Bewältigung der Umweltkrise, einschließlich des Stopps der Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet, aber keiner von ihnen wurde umgesetzt, weil das kapitalistische Privateigentum die wesentlichen Ressourcen des Planeten und die Architektur der öffentlichen Politik sowohl weltweit beherrscht als auch in den verschiedenen Staaten, die am Amazonasgebiet beteiligt sind.
Junckers Feststellung, dass die Polykrise «Zweifel und Ungewissheit» hervorruft, ist sowohl richtig als auch unaufrichtig: Während diese Analyse das Gefühl des Zweifels, das den Planeten durchdringt, anerkennt, versäumt sie es, irgendetwas zu bieten, das einer Erklärung für die Entstehung der Polykrise ähnelt, und lässt damit Milliarden von Menschen mit einer Analyse darüber im Unklaren, was diese vielen Krisen verursacht und wie wir zusammenarbeiten können, um sie zu beenden. In dieser Rede von 2016 sagte Juncker aus der Perspektive der europäischen christlichen Rechten, dass der neue Vorschlag der Europäischen Union für Europa, aber nicht für den Globus, darin bestehe, Investitionen für den Aufbau von Infrastrukturen und die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zu mobilisieren, anstatt eine «Welt der blinden, dummen Sparsamkeit zu schaffen, von der viele Menschen weiterhin träumen». Ein solches Projekt kam nicht zustande. «Europa ist auf dem Weg der Besserung», sagte er damals. Aber jetzt, wie Peter Mertens, der Generalsekretär der belgischen Arbeiterpartei, mir Anfang dieses Jahres sagte, «erstickt der neoliberale Konsens» Europa weithin und hat den Kontinent in eine von Inflation geprägte Verzweiflung gestürzt, die – im Moment – die extreme Rechte begünstigt.
Eines der Elemente der Polykrise ist die Verschärfung der Probleme der Geschlechterungleichheit und der Gewalt gegen Frauen. Ein neuer Bericht von UN Women, Progress on the Sustainable Development Goals: The Gender Snapshot 2023, enthält einige sehr beunruhigende Zahlen. Der Bericht geht davon aus, dass bis 2030 342,4 Millionen Frauen und Mädchen – schätzungsweise acht Prozent der weiblichen Weltbevölkerung – in extremer Armut leben werden und fast jede vierte Frau von mäßiger oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sein wird. Bei den derzeitigen Raten werden der Studie zufolge 110 Millionen Mädchen und junge Frauen nicht zur Schule gehen. Auffallend ist, dass trotz des jahrelangen Kampfes für gleichen Lohn für gleiche Arbeit – der übrigens von der Sowjetunion in ihrem Dekret über Lohntarife vom Juni 1920 angestossen wurde – das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen nach wie vor «anhaltend hoch» ist. Wie der Bericht feststellt, «verdienen Frauen für jeden Dollar, den Männer weltweit an Arbeitseinkommen erzielen, nur 51 Cent. Nur 61,4 Prozent der Frauen im Haupterwerbsalter sind erwerbstätig, verglichen mit 90 Prozent der Männer im Haupterwerbsalter». UN Women, die sich in ihrem Bericht 2023 mit Frauen ab 65 Jahren beschäftigt hat, zeigt, dass in 28 der 116 Länder, die Daten vorgelegt haben, weniger als die Hälfte der älteren Frauen eine Rente haben. Das ist wirklich erschreckend. Und die Tendenz ist durchweg rückläufig.
Im August veranstalteten die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und UN Women in Nepal ein Seminar zum Thema menschenwürdige Beschäftigung für Frauen in der Pflegeökonomie. Wie Frauen in vielen Teilen der Welt verrichten auch nepalesische Frauen 85 Prozent der täglichen unbezahlten Betreuungsarbeit und verbringen damit insgesamt 29 Millionen Stunden pro Tag, verglichen mit fünf Millionen Stunden, die Männer damit verbringen. Die Zahlen der IAO zeigen, dass «weltweit 76,2 Prozent der gesamten unbezahlten Betreuungsarbeit von Frauen geleistet wird». In Nepal gaben nach Angaben der Regierung fast 40 Prozent der Frauen an, dass sie keine Arbeit finden können, weil es keine Alternativen zu ihrer unbezahlten Betreuungsarbeit gibt, wie etwa staatliche Kinderkrippen.
Natürlich ist der Grund für das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern und für die unbezahlte Betreuungsarbeit der anhaltende Griff des Patriarchats, das in einer konzertierten Aktion bekämpft werden muss. Hier können wir von den institutionellen Veränderungen in den sozialistischen Staaten lernen, die einen Teil ihres sozialen Reichtums für den Aufbau von Strukturen zur Vergesellschaftung der Pflegearbeit verwenden, wie z. B. Kindertagesstätten, Horte und Sozialzentren für ältere Menschen. Kinderbetreuungseinrichtungen übernehmen nicht nur einen Teil der unbezahlten häuslichen Pflegearbeit, sondern vermitteln den Kindern auch die notwendigen sozialen und erzieherischen Fähigkeiten für ihre späteren Jahre. Anfang dieses Jahres forderte das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) mehr Sozialversicherungssysteme, die auch Kinderbetreuungseinrichtungen umfassen. Jahrzehntelange neoliberale Sparmaßnahmen haben in den kapitalistischen Staaten jeden noch so grundlegenden sozialen Schutz ausgehöhlt, während die Behauptungen der Rechten, «familienfreundlich» zu sein, lediglich den Druck auf Frauen, zu Hause zu bleiben und unbezahlte Betreuungsarbeit zu leisten, erhöht hat. An der Wurzel der erschreckenden Zahlen liegt nicht nur das Patriarchat, sondern auch das, was viele der Elemente der Polykrise gemeinsam haben: dass das soziale System des Kapitalismus von der Klasse angetrieben wird, die das Eigentum privat kontrolliert und sich weigert, den gesellschaftlichen Reichtum zur Emanzipation der Menschheit zu nutzen.
Während des Bürgerkriegs in Nepal (1996–2006) schloss sich Nibha Shah, eine junge Frau aus einer aristokratischen Familie, den Maoisten in den Wäldern an. Dort kämpfte sie für Gerechtigkeit in ihrem Land und schrieb eine Reihe von Gedichten, darunter im Jahr 2005 eines über die Hartnäckigkeit der Vögel. Es ist ein Gedicht, das uns lehrt, dass es nicht genügt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu hegen, sondern dass wir sicher sein müssen, dass wir diese Polykrise, diese Katastrophe des Kapitalismus, durch kühnen Kampf überwinden werden.
Die Menschen haben nur den Baum fallen sehen.
Wer hat das Nest des kleinen Vogels fallen sehen?
Armes Ding!
Ein Haus, das sie Zweig für Zweig gebaut hat.
Wer hat die Tränen in ihren Augen gesehen?
Selbst wenn man ihre Tränen gesehen hätte, wer hätte ihren Schmerz verstanden?
Der Vogel hat nicht aufgegeben,
hörte nicht auf zu hoffen,
hörte nicht auf zu fliegen.
Vielmehr verließ sie ihr altes Zuhause
um ein neues zu schaffen, sammelte wieder
einen Zweig, einen anderen Zweig.
Sie baut ihr Nest in einem Mammutbaum.
Sie bewacht ihre Eier.
Der Vogel weiß nicht, wie verlieren.
Sie breitet die Flügel in neue Lüfte aus.
Sie breitet die Flüpel in neue Himmel aus.
Herzlichst,
Vijay