Krieg ist nicht die Antwort auf die tiefgreifende weltweite Unsicherheit.

Der siebenunddreißigste Newsletter (2022)

Monir Shah­roudy Farm­an­farm­aian (Iran), Sunset, 2015.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Eine ernste Nach­richt von den Verein­ten Natio­nen (UN) erreicht uns. Der jüngste Bericht über mensch­li­che Entwick­lung (2021–22) stellt fest, dass der Entwick­l­uns-Index zum ersten Mal seit zwei­und­drei­ßig Jahren  in zwei aufein­an­der­fol­gen­den Jahren gesun­ken ist. Die Errun­gen­schaf­ten, die in den vergan­ge­nen fünf Jahren in Berei­chen wie Gesund­heit und Bildung zu verzeich­nen waren, wurden durch diesen Umschwung zunichte gemacht. «Milli­ar­den von Menschen stehen vor der größ­ten Lebens­kos­ten­krise seit einer Gene­ra­tion», heißt es in dem Bericht. «Milli­ar­den von Menschen haben bereits mit Ernäh­rungs­un­si­cher­heit zu kämp­fen, was größ­ten­teils auf Ungleich­hei­ten in Bezug auf Reich­tum und Macht zurück­zu­füh­ren ist, die den Anspruch auf Nahrungs­mit­tel bestim­men. Eine globale Ernäh­rungs­krise wird sie am härtes­ten treffen».

 

Während der UN-Bericht die Pande­mie und den Krieg in der Ukraine als unmit­tel­bare Ursa­chen für diese Notlage nennt, stellt ein frühe­rer Bericht zur mensch­li­chen Sicher­heit fest, dass «mehr als sechs von sieben Menschen welt­weit kurz vor dem Ausbruch der COVID-19-Pande­mie anga­ben, sich mäßig oder sehr unsi­cher zu fühlen». Sicher­lich haben die Pande­mie und der jüngste Infla­ti­ons­druck aufgrund des Konflikts in Eura­sien das Leben härter gemacht, aber die Verun­si­che­rung ging beiden Ereig­nis­sen voraus. Das tiefere Problem ist das kapi­ta­lis­ti­sche Welt­sys­tem, das von Krise zu Krise taumelt und mehr als sechs Milli­ar­den Menschen das Leben sehr schwer macht.

 

Meri­ko­keb Berhanu (Äthio­pien), Untit­led XLIV, 2020.

 

Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch arbei­ten wir seit unse­rer Grün­dung vor fast fünf Jahren daran, das Wesen dieser Kaska­den von Krisen und ihre Ursa­chen zu verste­hen. In dieser Zeit haben wir beob­ach­tet, dass nicht die globale Zusam­men­ar­beit zur Bewäl­ti­gung von Hunger, Arbeits­lo­sig­keit, sozia­ler Not, Klima­ka­ta­stro­phe usw. zunimmt, sondern eine Menta­li­tät und Struk­tu­ren, die Krieg als Lösung propa­gie­ren. Führend in diesem Bereich sind zwei­fel­los die Verei­nig­ten Staa­ten. Gegen China zum Beispiel führen die USA einen Handels­krieg und versu­chen, mit Argu­men­ten der natio­na­len Sicher­heit die Fort­schritte in der chine­si­schen Spit­zen­tech­no­lo­gie zu diskre­di­tie­ren. Während die meis­ten Länder – ange­feu­ert von der wach­sen­den sozia­len Unruhe in ihrer Bevöl­ke­rung – auf inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit setzen, um die drän­gends­ten Probleme ihrer Länder zu lösen, verfol­gen die USA eine gefähr­li­che Stra­te­gie der poli­ti­schen Drohun­gen und mili­tä­ri­schen Konfron­ta­tion, um ihre wirt­schaft­li­chen Vorteile zu sichern, da sie diese mit kommer­zi­el­len Mittel nicht aufrecht­erhal­ten können.

 

Um die drän­gen­den Fragen unse­rer Zeit besser zu verste­hen, hat sich Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch mit der ange­se­he­nen sozia­lis­ti­schen Zeit­schrift Monthly Review und der Frie­dens­platt­form No Cold War zusam­men­ge­tan, um neue Entwick­lun­gen in der US-Mili­tär­stra­te­gie und in ihrem Arse­nal zu unter­su­chen. Das Ergeb­nis dieser Unter­su­chung ist die erste Veröf­fent­li­chung in einer neuen Reihe mit dem Titel Studies on Contem­po­rary Dilem­mas. Diese Studie mit dem Titel The United States Is Waging a New Cold War: A Socia­list Perspec­tive («Die Verei­nig­ten Staa­ten führen einen neuen Kalten Krieg: Eine sozia­lis­ti­sche Perspek­tive») enthält Aufsätze von John Bellamy Foster (Heraus­ge­ber des Monthly Review), John Ross (Mitglied von No Cold War) und Debo­rah Vene­ziale (Forsche­rin am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch). Der Rest dieses News­let­ters gibt den ersten Teil meiner Einfüh­rung in die Studie wieder.

 

 

Auf dem Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos (Schweiz) am 23. Mai 2022 machte der ehema­lige US-Außen­mi­nis­ter Henry Kissin­ger einige Bemer­kun­gen zur Ukraine, die einen Nerv trafen. Anstatt sich von der «Stim­mung des Augen­blicks» anste­cken zu lassen, so Kissin­ger, müsse der Westen – ange­führt von den Verei­nig­ten Staa­ten – ein Frie­dens­ab­kom­men ermög­li­chen, das die Russen zufrie­den stellt. «Den Krieg über diesen Punkt hinaus fort­zu­set­zen», so Kissin­ger, «würde nicht die Frei­heit der Ukraine bedeu­ten, sondern einen neuen Krieg gegen Russ­land selbst». Die meis­ten Kommentator*innen des west­li­chen außen­po­li­ti­schen Estab­lish­ments roll­ten nur mit den Augen und taten Kissin­gers Äuße­run­gen ab. Kissin­ger, kein Pazi­fist, wies jedoch auf die große Gefahr einer Eska­la­tion hin, die nicht nur zur Errich­tung eines neuen Eiser­nen Vorhangs um Asien, sondern mögli­cher­weise zu einem offe­nen – und tödli­chen – Krieg zwischen dem Westen und Russ­land sowie China führen könnte. Diese Art von unvor­stell­ba­rem Ausgang war selbst für Kissin­ger zu viel, dessen Chef, der ehema­lige Präsi­dent Richard Nixon, häufig von der «Wahn­sinns­theo­rie» der inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen sprach; Nixon sagte zu seinem dama­li­gen Stabs­chef Bob Halde­man, er habe seinen «Finger auf dem Atom­knopf», um somit Ho Chi Minh zur Kapi­tu­la­tion zu treiben.

 

Im Vorfeld der ille­ga­len US-Inva­sion im Irak im Jahr 2003 sprach ich mit einem hoch­ran­gi­gen Mitar­bei­ter des US-Außen­mi­nis­te­ri­ums, der mir sagte, dass die vorherr­schende Theo­rie in Washing­ton auf ein einfa­ches Motto hinaus­läuft: kurz­fris­ti­ger Schmerz für lang­fris­ti­gen Gewinn. Er erklärte, dass die Eliten des Landes bereit seien, kurz­fris­tige Schmer­zen für andere Länder und viel­leicht auch für die arbei­tende Bevöl­ke­rung in den Verei­nig­ten Staa­ten in Kauf zu nehmen, die aufgrund der durch den Krieg verur­sach­ten Unter­bre­chun­gen und Blut­bä­der in wirt­schaft­li­che Schwie­rig­kei­ten gera­ten könn­ten. Wenn jedoch alles gut geht, wird dieser Preis zu einem lang­fris­ti­gen Gewinn führen, da die Verei­nig­ten Staa­ten in der Lage wären, das aufrecht­zu­er­hal­ten, was sie seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs anstre­ben, nämlich ihre Vormacht­stel­lung. «Wenn alles gut geht» – das ist die Prämisse, die mir einen Schauer über den Rücken jagte, als er es aussprach, und was mich ebenso erschüt­terte, war die Herzens­lo­sig­keit wenn es darum ging, wer den Schmerz ertra­gen müsste und wer den Gewinn genie­ßen könnte. In Washing­ton wurde ganz zynisch gesagt, es sei den Preis wert, dass Iraker*innen und US-Soldat*innen aus der Arbei­ter­klasse in Mitlei­den­schaft gezo­gen werden (und ster­ben), solange die großen Öl- und Finanz­un­ter­neh­men die Früchte eines erober­ten Irak genie­ßen könn­ten. Die Haltung «kurz­fris­ti­ger Schmerz, lang­fris­ti­ger Gewinn» ist die alles bestim­mende Hallu­zi­na­tion der Eliten in den Verei­nig­ten Staa­ten, die nicht bereit sind, das Projekt des Aufbaus der Menschen­würde und der Lang­le­big­keit der Natur zu tolerieren.

 

Bošt­jan Jurečič Vega (Slowe­nien), Ameri­kana, 2011.

 

Kurz­fris­ti­ger Schmerz, lang­fris­ti­ger Gewinn – so lässt sich die gefähr­li­che Eska­la­tion der Verei­nig­ten Staa­ten und ihrer west­li­chen Verbün­de­ten gegen Russ­land und China beschrei­ben. Auffal­lend an der Haltung der Verei­nig­ten Staa­ten ist, dass sie versu­chen, einen histo­ri­schen Prozess zu verhin­dern, der unver­meid­lich sein wird, nämlich den Prozess der eura­si­schen Inte­gra­tion. Nach dem Zusam­men­bruch des US-Immo­bi­li­en­mark­tes und der großen Kredit­krise im west­li­chen Banken­sek­tor bemühte sich die chine­si­sche Regie­rung zusam­men mit ande­ren Ländern des Globa­len Südens um den Aufbau von Platt­for­men, die nicht von den Märk­ten in Nord­ame­rika und Europa abhän­gig waren. Zu diesen Platt­for­men gehör­ten die Grün­dung der BRICS (Brasi­lien, Russ­land, Indien, China und Südafrika) im Jahr 2009 und die Ankün­di­gung von One Belt, One Road (später die Belt and Road Initia­tive oder BRI) im Jahr 2013. Russ­lands Ener­gie­lie­fe­run­gen und seine massi­ven Metall- und Mine­ra­li­en­vor­kom­men sowie Chinas indus­tri­elle und tech­no­lo­gi­sche Kapa­zi­tä­ten haben viele Länder dazu veran­lasst, sich der BRI anzu­schlie­ßen, unge­ach­tet ihrer poli­ti­schen Ausrich­tung, wobei Russ­lands Ener­gie­ex­port die Grund­lage für diese Verbin­dung bildet. Zu diesen Ländern gehör­ten Polen, Italien, Bulga­rien und Portu­gal, während Deutsch­land heute Chinas größ­ter Handels­part­ner für Waren ist.

 

Die histo­ri­sche Tatsa­che der eura­si­schen Inte­gra­tion bedrohte die Vormacht­stel­lung der Verei­nig­ten Staa­ten und der atlan­ti­schen Eliten. Diese Bedro­hung ist der Grund für den gefähr­li­chen Versuch der Verei­nig­ten Staa­ten, Russ­land und China mit allen Mitteln zu «schwä­chen». Alte Gewohn­hei­ten herr­schen vor in Washing­ton, wo seit langem eine nukleare Vormacht­stel­lung ange­strebt wird, um der Theo­rie der Abrüs­tung entge­gen­zu­wir­ken. Die Verei­nig­ten Staa­ten haben eine nukleare Kapa­zi­tät und Haltung entwi­ckelt, die es ihnen erlau­ben würde, den Plane­ten zu zerstö­ren, um ihre Hege­mo­nie aufrecht­zu­er­hal­ten. Zu den Stra­te­gien zur Schwä­chung Russ­lands und Chinas gehö­ren der Versuch, diese Länder durch die Eska­la­tion des von den USA ange­zet­tel­ten hybri­den Krie­ges (z.B. Sank­tio­nen und Infor­ma­ti­ons­krieg) zu isolie­ren, und die Absicht, diese Länder zu zerstü­ckeln, um sie dann auf Dauer zu beherrschen.

 

Ludwig Meid­ner (Deutsch­land), Apoka­lyp­ti­sche Land­schaft, 1913.

 

The United States Is Waging a New Cold War ist ein erschre­cken­des Doku­ment, von dem wir hoffen, dass es von besorg­ten Menschen auf der ganzen Welt gele­sen wird und dazu beiträgt, eine drin­gende globale Frie­dens­kam­pa­gne zu mobi­li­sie­ren. Frie­den ist wich­tig, nicht zuletzt in der Ukraine. In der Septem­ber/Ok­to­ber-Ausgabe von Foreign Affairs schrie­ben Fiona Hill (ehema­lige stell­ver­tre­tende Assis­ten­tin von Präsi­dent Donald Trump) und Profes­sor Angela Stent, dass sich die russi­schen und ukrai­ni­schen Unter­händ­ler im April offen­bar vorläu­fig auf die Umrisse einer ausge­han­del­ten Zwischen­lö­sung geei­nigt hätten, bei der sich Russ­land auf die vor dem 23. Februar bestehen­den Gren­zen zurück­zie­hen und die Ukraine zusa­gen würde, keine NATO-Mitglied­schaft anzu­stre­ben. Der dama­lige briti­sche Premier­mi­nis­ter Boris John­son traf jedoch in Kiew ein und forderte den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolo­dymyr Zelen­s­kij auf, die Verhand­lun­gen abzu­bre­chen, was die Agenda des Westens verriet. Selbst wenn die Ukraine bereit wäre, ein Sicher­heits­ab­kom­men mit Russ­land zu unter­zeich­nen, so John­son, würde der Westen dies nicht unter­stüt­zen. Darauf­hin brach Zelen­sky die Verhand­lun­gen ab, und der Krieg ging weiter. Der Hill-Stent-Arti­kel enthüllt den gefähr­li­chen Schach­zug des Westens, einen Konflikt zu verlän­gern, der das ukrai­ni­sche und russi­sche Leid vergrö­ßert und Insta­bi­li­tät auf der ganzen Welt verbrei­tet hat, um seinen Neuen Kalten Krieg sowohl gegen China als auch gegen Russ­land fortzusetzen.

 

Am 17. Septem­ber werden die Autor*innen der Studie im Mittel­punkt des von No Cold War veran­stal­te­ten Inter­na­tio­na­len Frie­dens­fo­rums stehen. Bitte nehmt teil.

 

Der UN-Bericht über die mensch­li­che Entwick­lung weist darauf hin, dass «die Brücken, die verschie­dene Grup­pen mitein­an­der verbin­den, zu unse­rem wich­tigs­ten Kapi­tal gehö­ren». Dem können wir nur zustim­men. Es müssen mehr Brücken gebaut als bombar­diert werden.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.