Das Geräusch seiner nahenden Schritte weckt mich, und ich sehe, was mein Land entbehrt.
Der siebenunddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am Mittwoch, dem 8. September, griffen Parteimitglieder der Bharatiya Janata Party (BJP), Indiens regierender politischer Partei, drei Gebäude im Stadtteil Melarmath von Agartala (Tripura) an. Ziel der Angriffe waren die Büros der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch), die kommunistische Zeitung Daily Deshar Katha und zwei private Medienhäuser, Pratibadi Kalam und PN-24. Die Gewalttaten fanden am helllichten Tag statt, während die Polizei untätig zusah. In ganz Tripura wurden vierundfünfzig weitere Büros der Kommunistischen Partei angegriffen.
Die Kommunistische Partei, kurz CPI(M), und die Medienhäuser hatten sich kritisch über die BJP-geführte Regierung des Bundesstaates geäußert. Die CPI(M) und andere Organisationen gingen auf die Straße, um gegen eine Reihe politischer Maßnahmen zu protestieren; diese Proteste fanden in der Bevölkerung große Unterstützung. Die CPI(M) war eine wichtige Kraft in der Linksfront, die den Bundesstaat von 1978 bis 1988 und von 1993 bis 2018 regierte.
Wenige Tage vor den Anschlägen sollte der ehemalige Ministerpräsident Manik Sarkar, ein Führungsmitglied der CPI(M), in seinem Wahlkreis in Dhanpur (Sepahijala) sprechen. BJP-Mitglieder versuchten, Sarkars Auto an der Einfahrt nach Dhanpur zu hindern. Sarkar, der von CPI(M)-Kadern begleitet wurde, legte sechs Kilometer durch zwei BJP-Barrikaden zu Fuß zurück. Sarkars öffentliche Versammlung ist Teil der breit angelegten kommunistischen Kampagne gegen die BJP.
Seit 2018 sind die Angriffe auf die CPI(M) zur Routine geworden. Die Kommunist*innen in Tripura berichten, dass zwischen März 2018 und September 2020 139 Parteibüros in Brand gesetzt, 346 Parteibüros verwüstet, 200 Büros von Massenorganisationen demoliert, 190 Wohnungen von CPI(M)-Kadern zerstört, 2.871 Wohnungen von Parteimitarbeitern angegriffen, 2.656 Parteimitarbeiter körperlich attackiert und 18 CPI(M)-Führer und ‑Kader getötet wurden.
Engagierte Menschen und Organisationen aus der ganzen Welt, darunter die International Peoples Assembly, verurteilten die Angriffe auf Indiens Linke.
Was sich in Tripura, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens mit fast 3,6 Millionen Einwohner*innen, ereignet hat, ist in der Demokratie unserer Zeit zu einer Alltäglichkeit geworden. Politische Gewalt des rechten Flügels gegen diejenigen, die den Stimmen des Volkes Gehör verschaffen wollen, ist inzwischen Routine.
Nur wenige Wochen vor diesem Angriff in Tripura wurde durch einen abscheulichen Gewaltakt ein Gewerkschaftsführer in Südafrika zum Schweigen gebracht. Am 19. August wurde Malibongwe Mdazo in Rustenburg (Südafrika) erschossen, als er an der Eingangstür der Kommission für Schlichtung, Mediation und Schiedsverfahren stand. Mdazo, ein führender Vertreter der National Union of Metalworkers of South Africa (NUMSA), hatte nur einen Monat zuvor einen Streik von 7.000 Arbeitnehmer*innen gegen Impala Platinum Holdings, den zweitgrößten Platinproduzenten der Welt, angeführt.
Der politische Mord an Mdazo ereignete sich neun Jahre nach dem schrecklichen Massaker in Marikana, bei dem 34 Bergleute aus den Platinminen des britischen Bergbauunternehmens Lonmin getötet wurden. Der Platingürtel in Südafrika ist nicht nur wegen der Ermordung von Mdazo und des Massakers von Marikana voller Spannungen, sondern wegen der selbstverständlichen Weise, mit der die Partner der Bergbauunternehmen – einschließlich rivalisierender Gewerkschaften –, Arbeitskämpfe mittels grausamer Gewalt beilegen.
Im Dossier Nr. 31 (August 2020), ‘The Politic of Blood’: Political Repression in South Africa haben wir die politische Gewalt, die in Südafrika alltäglich geworden ist, katalogisiert. Zwei Absätze aus diesem Bericht sollen hier zitiert werden:
Die Ermordung von Gewerkschaftsführern geht weiter. Bongani Cola, der stellvertretende Vorsitzende der vom ANC unabhängigen Democratic Municipal and Allied Workers Union of South Africa (Demawusa), wurde am 4. Juli 2019 in der Stadt Port Elizabeth ermordet.
Die Verflechtung zwischen multinationalen Bergbauunternehmen, traditionellen Autoritäten und politischen Eliten führt weiterhin zu anhaltender Gewalt gegen Aktivist*innen, die sich gegen den Bergbau engagieren. Am 26. Januar 2020 wurden Sphamandla Phungula und Mlondolozi Zulu in Dannhauser, einer Kohlebergbaustadt im ländlichen KwaZulu-Natal, ermordet. Am 25. Mai 2020 wurde Philip Mkhwanazi, ein Anti-Bergbau-Aktivist und ANC-Ratsmitglied, in der kleinen Küstenstadt St. Lucia, ebenfalls in KwaZulu-Natal, ermordet. Einen Monat später überlebte Mzothule Biyela ein Attentat in dem von der Mpukunyoni Tribal Authority verwalteten Gebiet, ebenfalls an der Nordküste von KwaZulu-Natal.
Diese Gewerkschaftsaktivist*innen, politischen Anführer*innen und Gemeinschaftsorganisator*innen sind Menschen, die dafür kämpfen, das Selbstvertrauen der Bevölkerung zu stärken. Wenn diese Anführer*innen ermordet werden oder wenn Gebäude in Brand gesteckt werden, flackert ein Licht auf. Diejenigen, die die Gewalt ausüben, erwarten, dass die Flamme des Widerstands erlischt und die Menschen sich unterwerfen, weil sie nicht mehr an ihre Fähigkeit glauben, die Welt zu verändern. Das ist eine der möglichen Folgen solcher politischen Gewalt. Das andere Ergebnis ist genauso wahrscheinlich, nämlich, dass diese Todesfälle und diese Gewalt den Mut befeuern. Phungula, Zulu, Mkhwanazi und jetzt Mdazo sind Namen, die uns aufrütteln, die uns zwingen, Sauerstoff in die Glut zu blasen und die Flamme der Rebellion neu zu entfachen.
Als die BJP-Arbeiter das CPI(M)-Büro angriffen, versuchten sie auch, die Statue von Dashrath Deb (1916–1998) zu zerschlagen, der den Befreiungskampf in Tripura gegen den letzten König anführte. Deb wurde in einer armen Bauernfamilie geboren, die tief in der indigenen Kultur Tripuras verwurzelt war. Er war ein verehrter kommunistischer Anführer, der als Ministerpräsident von 1993 bis 1998 für die Demokratisierung aller Lebensbereiche in Tripura kämpfte. Dank der von Deb geführten Kämpfe, die dann Manik Sarkar von der Linksfront-Regierung fortsetzte, erlebte der Staat bemerkenswerte Fortschritte in der menschlichen Entwicklung. Als die Kommunistische Partei 2018 aus dem Amt schied, lag die Alphabetisierungsrate des Bundesstaates bei 97 %, wozu auch die allgemeine kostenlose Bildung (einschließlich kostenloser Schulbücher) und eine massive Elektrifizierungskampagne beitrugen (90 % der Haushalte im Bundesstaat haben Strom).
Als die BJP im Bundesstaat an die Macht kam, zerstörten ihre Mitglieder etliche Statuen von Dashrath Deb und griffen Einrichtungen an, die seinen Namen trugen. Die Tatsache, dass Dashrath Deb ein Stammesführer war, legt die Feindseligkeit der BJP-Mitglieder offen, mit der sie nicht nur Linke angreifen, sondern auch eine deutliche Botschaft an Stammesgruppen und unterdrückte Kasten senden, dass sie in Gegenwart der historisch mächtigen Gemeinschaften ihre Köpfe einzuziehen haben. Es handelt sich dabei nicht nur um politische Gewalt, sondern auch um soziale Gewalt, die sich gegen diejenigen richtet, die es wagen, ihr Gesicht zu zeigen und die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten, wie die Garifuna-Führer*innen in Honduras und die afro-kolumbianischen Anführer*innen in Kolumbien. Ein neuer Bericht von Global Witness, Last Line of Defence, zeigt, dass im Jahr 2020 eine große Zahl indigener Aktivist*innen getötet wurde (227, d. h. mehr als vier pro Woche); die Hälfte von ihnen wurde in nur drei Ländern (Kolumbien, Mexiko und den Philippinen) getötet, und alle kämpften für die Verteidigung der Würde des Menschen und der Unversehrtheit der Natur.
Einer der großen Dichter und kommunistischen Führer Tripuras, Anil Sarkar, verbrachte einen Großteil seiner literarischen und politischen Karriere damit, die Stimmen und das Schicksal der unterdrückten Kasten (Dalits) im Bundesstaat zu erheben. Sarkars kraftvolle Poesie macht deutlich, dass die alten sozialen Kräfte nicht mehr in der Lage sind, die Gesellschaft zu beherrschen, wie sie es einst taten. Es gibt nicht nur das Beispiel des großen Führers Dr. B. R. Ambedkar, sondern auch das Erbe von Karl Marx und der Linken. «Der Klang seiner nahenden Schritte weckt mich», schrieb Sarkar über seine Entdeckung von Marx in Marxer Prati, «und ich sehe, was mein Land entbehrt». In einem anderen seiner Gedichte sang Sarkar zu Heera Singh Harijan, einem Dalit, dass ihm die Macht nicht geschenkt würde; «du musst sie dir, wenn du erwachsen bist, mit aller Kraft nehmen».
Herzlichst,
Vijay