Was wäre, wenn es 1973 keinen Putsch in Chile gegeben hätte?

Der sechsunddreißigste Newsletter (2023)

Gracia Barrios (Chile), Multi­tud III (‘Multi­tude III’), 1972.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Stel­len Sie sich folgen­des Szena­rio vor: Am 11. Septem­ber 1973 verlie­ßen die reak­tio­nä­ren Kräfte der chile­ni­schen Armee unter der Führung von Gene­ral Augusto Pino­chet, die von der US-Regie­rung grünes Licht bekom­men hatten, ihre Kaser­nen nicht. Präsi­dent Salva­dor Allende, der die Regie­rung der Volks­front führt, begibt sich in sein Büro in La Moneda in Sant­iago, um ein Plebis­zit über seine Regie­rung anzu­kün­di­gen und den Rück­tritt mehre­rer hoher Gene­räle zu fordern. Danach setzt Allende seinen Kampf zur Senkung der Infla­tion und zur Verwirk­li­chung des Regie­rungs­pro­gramms zur Förde­rung der sozia­lis­ti­schen Agenda in Chile fort.

 

Bis zum Einmarsch der chile­ni­schen Armee in La Moneda im Jahr 1973 führ­ten Allende und die Regie­rung der Volks­front einen erbit­ter­ten Kampf zur Vertei­di­gung der Souve­rä­ni­tät Chiles, insbe­son­dere der Kupfer­vor­kom­men und des Bodens, und waren gleich­zei­tig bestrebt, Mittel zur Besei­ti­gung von Hunger und Analpha­be­tis­mus zu beschaf­fen und inno­va­tive Maßnah­men für die Gesund­heits­ver­sor­gung und den Wohnungs­bau zu entwi­ckeln. Im Programm der Volks­front (1970) stellte die Regie­rung Allende ihre Charta auf:

 

Die sozia­len Bestre­bun­gen des chile­ni­schen Volkes sind legi­tim und erfüll­bar. Sie wollen, zum Beispiel, menschen­wür­dige Wohnun­gen, Schu­len und Univer­si­tä­ten für ihre Kinder, ausrei­chende Löhne, ein für alle Mal ein Ende der hohen Preise, sichere Arbeits­plätze, zügige medi­zi­ni­sche Versor­gung, öffent­li­che Beleuch­tung, Kana­li­sa­tion, Trink­was­ser, gepflas­terte Stra­ßen und Gehwege, ein gerech­tes und funk­tio­nie­ren­des Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­tem ohne Privi­le­gien und ohne Hunger­ren­ten, Tele­fone, Poli­zei, Kinder­spiel­plätze, Erho­lungs­ge­biete, Urlaubs- und Seebäder. 

 

Die Befrie­di­gung dieser berech­tig­ten Wünsche des Volkes – in Wahr­heit sind es Rechte, die eine Gesell­schaft einzu­räu­men hat – wird für die Volks­re­gie­rung eine Aufgabe von hoher Prio­ri­tät sein.

 

Die Verwirk­li­chung der «berech­tig­ten Wünsche des Volkes» – ein lobens­wer­tes Ziel – war inmit­ten des Opti­mis­mus der Bevöl­ke­rung gegen­über der Regie­rung der Volks­front möglich. Die Regie­rung Allende verfolgte ein Modell, das die Regie­rung dezen­tra­li­sierte und das Volk mobi­li­sierte, seine eige­nen «berech­tig­ten Wünsche» zu verwirk­li­chen. Wäre dieser Prozess nicht mit Waffen­ge­walt verhin­dert worden, wären weiter­hin die Einzah­ler in die staat­li­chen Sozi­al­ver­si­che­rungs­ein­rich­tun­gen in den Aufsichts­rä­ten vertre­ten gewe­sen, die diese Fonds über­wach­ten. Orga­ni­sa­tio­nen von Slum­be­woh­nern hätten weiter­hin die Arbeit der Wohnungs­bau­be­hörde kontrol­liert, die ihrer Aufgabe nach­ge­kom­men wäre, quali­ta­tiv hoch­wer­tige Wohnun­gen für die Arbei­ter­klasse zu bauen. Demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren hätten sich gefes­tigt, während die Regie­rung neue Tech­no­lo­gien (wie das Projekt Cyber­syn) einge­setzt hätte, um ein dezen­tra­les Entschei­dungs­sys­tem zu schaf­fen. «Es geht nicht nur um diese Beispiele», heißt es in dem Programm, «sondern um ein neues Verständ­nis, in dem die Menschen auf echte und effi­zi­ente Weise an den staat­li­chen Insti­tu­tio­nen betei­ligt werden».

Roberto Matta (Chile), Hagá­mos­nos la guer­rilla inte­rior para parir un hombre nuevo (‘Lasst uns den Gueril­la­krieg in uns selbst führen, um einen neuen Menschen zu gebä­ren’), 1970.

Als die chile­ni­sche Bevöl­ke­rung unter der Führung der Regie­rung der Volks­front die Kontrolle über ihr wirt­schaft­li­ches und poli­ti­sches Leben über­nahm und hart daran arbei­tete, ihre soziale und kultu­relle Welt zu verbes­sern, sandte sie ein Leucht­feuer in die Welt, das die großen Möglich­kei­ten des Sozia­lis­mus ankün­digte. Ihre Fort­schritte spie­gel­ten die Fort­schritte ande­rer Projekte, z. B. in Kuba, wider und stärk­ten das Vertrauen der Menschen in der gesam­ten Drit­ten Welt, ihre eige­nen Kräfte zu erpro­ben. Die Besei­ti­gung der Armut und die Schaf­fung von Wohn­raum für jede Fami­lie war eine Inspi­ra­tion für Latein­ame­rika. Wäre das Projekt der Volks­front nicht gestoppt worden, hätte es sehr wohl andere linke Projekte ermu­tigt, die Befrie­di­gung berech­tig­ter Wünsche in einer Welt zu fordern, in der es möglich ist, sie zu verwirk­li­chen. Wir würden nicht länger in einer Welt der Knapp­heit leben, die der Verwirk­li­chung dieser Wünsche entge­gen­steht. Es wären keine Chicago Boys mit ihrer verhäng­nis­vol­len neoli­be­ra­len Agenda gekom­men, um im Test­la­bor eines Mili­tär­re­gimes zu expe­ri­men­tie­ren. Die Mobi­li­sie­rung des Volkes hätte den ille­gi­ti­men Wunsch der Kapi­ta­lis­ten­klasse aufge­deckt, dem Volk im Namen des Wirt­schafts­wachs­tums Spar­maß­nah­men aufzu­zwin­gen. In dem Maße, in dem die Regie­rung Allende ihre Agenda erwei­terte hätten die «berch­tig­ten Wünsche» des Volkes die Habgier des Kapi­ta­lis­mus in die Schran­ken gewiesen.

 

Hätte es keinen Putsch in Chile gege­ben, hätte es viel­leicht auch keine Putsche in Peru (1975) und Argen­ti­nien (1976) gege­ben. Ohne diese Putsche hätten sich viel­leicht die Mili­tär­dik­ta­tu­ren in Boli­vien, Brasi­lien und Para­guay ange­sichts der vom chile­ni­schen Beispiel inspi­rier­ten Volks­auf­stände zurück­ge­zo­gen. Viel­leicht hätte die enge Bezie­hung zwischen dem Chile­nen Salva­dor Allende und dem Kuba­ner Fidel Castro die ille­gale Blockade des revo­lu­tio­nä­ren Kubas durch Washing­ton durch­bro­chen. Viel­leicht wären die auf der UN-Konfe­renz für Handel und Entwick­lung (UNCTAD) 1972 in Sant­iago gemach­ten Verspre­chun­gen in Erfül­lung gegan­gen, darun­ter die Verab­schie­dung einer soli­den Neuen Inter­na­tio­na­len Wirt­schafts­ord­nung (NIEO) im Jahr 1974, die die impe­ria­len Privi­le­gien des Dollar-Wall-Street-Komple­xes und der dazu­ge­hö­ri­gen Agen­tu­ren, des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF) und der Welt­bank, aufge­ho­ben hätte. Viel­leicht wäre die gerechte Wirt­schafts­ord­nung, die in Chile einge­führt wurde, auf die ganze Welt ausge­dehnt worden.

Doch der Putsch fand statt. Die Mili­tär­dik­ta­tur tötete Hundert­tau­sende von Menschen, ließ sie verschwin­den und zwang sie ins Exil. Diese anhal­tende Atmo­sphäre der Unter­drü­ckung war für Chile auch nach der Rück­kehr zur Demo­kra­tie im Jahr 1990 nur schwer wieder umkehr­bar. Chile wurde von einem Versuchs­la­bor für den Sozia­lis­mus zu einem Versuchs­la­bor für den Neoli­be­ra­lis­mus – unter stren­ger Kontrolle des Mili­tärs. Trotz der rela­tiv gerin­gen Einwoh­ner­zahl von etwa zehn Millio­nen (ein Zehn­tel der brasi­lia­ni­schen Bevöl­ke­rung) hatte der Putsch in Chile im Jahr 1973 welt­weite Auswir­kun­gen. Er wurde damals nicht nur als Putsch gegen die Regie­rung der Volks­front von Salva­dor Allende betrach­tet, sondern als Putsch gegen die Dritte Welt.

 

Genau das ist das Thema unse­res jüngs­ten Dossiers, Der Putsch gegen die Dritte Welt: Chile, 1973, erstellt in Zusam­men­ar­beit mit dem Insti­tuto de Cien­cias Alejan­dro Lipschutz Centro de Pensa­mi­ento e Inves­ti­ga­ción Social y Polí­tica (ICAL). «Der Staats­streich gegen die Regie­rung Allende», schrei­ben wir, «rich­tete sich nicht nur gegen deren Poli­tik der Verstaat­li­chung von Kupfer, sondern auch gegen die Tatsa­che, dass Allende ande­ren Entwick­lungs­län­dern, die sich um die Umset­zung der NIEO-Prin­zi­pien bemüh­ten, ein Beispiel gege­ben hatte». Auf der drit­ten Tagung der UNCTAD in Sant­iago (1972) erklärte Allende, dass die Aufgabe der Konfe­renz darin bestehe, «eine veral­tete und radi­kal unge­rechte Wirt­schafts- und Handels­ord­nung durch eine gerechte Ordnung zu erset­zen, die auf einem neuen Konzept des Menschen und der Menschen­würde beruht, und eine inter­na­tio­nale Arbeits­tei­lung neu zu formu­lie­ren, die für die weni­ger fort­ge­schrit­te­nen Länder untrag­bar ist und ihren Fort­schritt behin­dert, da sie stets die wohl­ha­ben­den Natio­nen begüns­tigt». Dies war genau die Dyna­mik, die durch den Putsch in Chile und andere Manö­ver des impe­ria­lis­ti­schen Blocks aus der Bahn zu gera­ten drohte. Anstatt eine «auf einem neuen Menschen­bild und der Menschen­würde basie­rende Ordnung» zu fördern, führte dieses Vorge­hen zur Ermor­dung von Hundert­tau­sen­den von Volks­ver­tre­tern (darun­ter Linke, Gewerkschafter*innen, Bauernführer*innen, Umweltschützer*innen und Frauenrechtler*innen) und verlän­ger­ten die Qual von Hunger und Analpha­be­tis­mus, schlech­ten Wohn­ver­hält­nis­sen und schlech­ter medi­zi­ni­scher Versor­gung sowie der allge­mei­nen Ausrich­tung einer Kultur der Verzweiflung.

 

Bitte lest unser Dossier und teilt es. Diese Dossiers – die einmal im Monat erschei­nen – sind das Ergeb­nis von Koope­ra­tion und inten­si­ver Arbeit, eine Zusam­men­fas­sung dessen, wie wir als Insti­tut, das in den Volks­be­we­gun­gen verwur­zelt ist, wich­tige Ereig­nisse unse­rer Geschichte verste­hen. Die Bilder für dieses Dossier stam­men aus dem Salva­dor Allende Soli­da­rity Museum, das Kunst­werke aus der Zeit der Volks­front und des Kamp­fes gegen den Putsch bewahrt. Wir sind dem Museum und ICAL dank­bar für die Zusam­men­ar­beit auf der Grund­lage der Soli­da­ri­tät im Kampf gegen die neoli­be­rale Ethik der Profitgier.

Zwei Wochen vor dem fünf­zigs­ten Jahres­tag des Putsches in Chile starb Guil­lermo Teil­lier, Vorsit­zen­der der Kommu­nis­ti­schen Partei Chiles (PC). Bei seiner Beer­di­gung schil­derte der Gene­ral­se­kre­tär der Partei, Laut­aro Carmona Soto, wie Teil­lier – während der Rauch des Putsches noch in der Luft lag – in Valdi­via an die Arbeit ging, um die Partei zu schüt­zen und dann als Teil des brei­ten Wider­stands gegen das Putsch­re­gime aufzu­bauen. 1974 wurde Teil­lier in Sant­iago verhaf­tet und anschlie­ßend zwei Jahre lang in der Acade­mia de Guerra Aérea fest­ge­hal­ten und gefol­tert. Weitere andert­halb Jahre war er in den Konzen­tra­ti­ons­la­gern in Rito­que, Puchun­caví und Tres Álamos inter­niert. Nach seiner Frei­las­sung 1976 tauchte er unter und baute die Partei wieder zu ihrer Kampf­kraft auf, wobei er im folgen­den Jahr von der PC-Führe­rin Gladys Marín unter­stützt wurde. Es war eine gefähr­li­che Arbeit, die noch gefähr­li­cher wurde, als Tellier die Leitung der Mili­tär­kom­mis­sion der Partei über­nahm, die die von Kuba nach Chile geschickte Hilfe verwal­tete und die Grün­dung und den Betrieb der Patrio­ti­schen Front Manuel Rodrí­quez (FPMR), des bewaff­ne­ten Flügels der PC, über­wachte. Obwohl der Versuch, Pino­chet zu stür­zen, schei­terte, war die breit ange­legte Arbeit zum Aufbau der Demo­kra­tie­be­we­gung erfolg­reich. Es ist dem Mut und der Aufop­fe­rung von Menschen wie Tellier, Marín und zahl­lo­sen – oft namen­lo­sen – ande­ren zu verdan­ken, dass die Dikta­tur von Pino­chet und den Chicago Boys 1990 been­det wurde.

 

Der Putsch von 1973 in Chile zerstörte Leben und setzte einem viel­ver­spre­chen­den Prozess ein jähes Ende. Heute muss dieses Verspre­chen wieder­be­lebt werden.



Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.