Wir werden marschieren, auch wenn wir durch die Fluten Pakistans waten müssen.

Der sechsunddreißigste Newsletter (2022).

Ali Imam (Paki­stan), Ohne Titel (Deser­ted Town with a Black Sun), 1956.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Die Menschen in Paki­stan sind mit Kata­stro­phen vertraut: Sie haben bereits mehrere kata­stro­phale Erdbe­ben erlebt, darun­ter die von 2005, 2013 und 2015 (um nur die schlimms­ten zu nennen), sowie die schreck­li­chen Über­schwem­mun­gen von 2010. Doch nichts konnte das fünft­be­völ­ke­rungs­reichste Land der Welt auf die verhee­ren­den Ereig­nisse dieses Sommers vorbe­rei­ten, der mit hohen Tempe­ra­tu­ren und poli­ti­schem Chaos begann, gefolgt von unvor­stell­ba­ren Überschwemmungen.

 

Zuneh­mende Frus­tra­tion über den paki­sta­ni­schen Staat prägt die öffent­li­che Stim­mung. Taimur Rahman, der Gene­ral­se­kre­tär der Mazdoor Kisan Party («Arbei­ter- und Bauern­par­tei»), erklärte gegen­über Peop­les Dispatch, dass nach den Über­schwem­mun­gen von 2010 «enorme Empö­rung darüber herrschte, dass die Regie­rung nichts unter­nom­men hatte, um sicher­zu­stel­len, dass … Über­schwem­mun­gen bei Hoch­was­ser kontrol­liert werden können». Die Peri­ode nach 2010 war bestimmt von Hinwei­sen darauf, dass Hilfs­gel­der von korrup­ten Politiker*innen und der wohl­ha­ben­den Elite abge­schöpft wurden; diese Erin­ne­run­gen sind noch immer leben­dig. Die Menschen wissen, dass sich die Korrup­ti­ons­zy­klen beschleu­ni­gen, wenn der indus­tri­elle Kata­stro­phen­kom­plex in Bewe­gung ist.

 

Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch hat in Zusam­men­ar­beit mit der Inter­na­tio­nal People’s Assem­bly den unten stehen­den Red Alert Nr. 15 über die Über­schwem­mun­gen in Paki­stan und die poli­ti­schen Auswir­kun­gen dieser Kata­stro­phe erstellt.

Pakistan unter Wasser: Red Alert Nr. 15

Handelt es sich bei den Über­schwem­mun­gen in Paki­stan um «höhere Gewalt»?

 

Ein Drit­tel der riesi­gen Land­flä­che Paki­stans wurde in der letz­ten August­wo­che über­schwemmt. Satel­li­ten­bil­der zeigen die rasche Ausbrei­tung des Wassers, das über die Ufer des Indus getre­ten ist und große Teile der beiden Provin­zen Belut­schi­stan und Sindh über­schwemmt hat. Am 30. August 2022 sprach der Gene­ral­se­kre­tär der Verein­ten Natio­nen, Antó­nio Guter­res, von einem «Monsun auf Stero­iden», die Regen­flu­ten rissen mehr als 1000 Menschen in den Tod und vertrie­ben etwa 33 Millio­nen weitere. Die Lage ist kata­stro­phal, und die Menschen, die aus ihren Häusern geflo­hen sind, befin­den sich in unmit­tel­ba­rer und lang­fris­ti­ger Gefahr. Menschen, die auf höher gele­ge­nen Flächen, z. B. an Haupt­ver­kehrs­stra­ßen, kampie­ren, sind derzeit vom Hunger­tod bedroht und laufen Gefahr, sich mit durch Wasser über­tra­ge­nen Krank­hei­ten wie Durch­fall, Ruhr und Hepa­ti­tis anzu­ste­cken. Lang­fris­tig droht denen, die ihre Ernten (Baum­wolle und Zucker­rohr) und ihren Vieh­be­stand verlo­ren haben, die Verar­mung. Der paki­sta­ni­sche Planungs­mi­nis­ter Ahsan Iqbal schätzt, dass sich die Schä­den auf über 10 Milli­ar­den Dollar belau­fen werden.

 

Auf den ersten Blick scheint der Haupt­grund für die Über­schwem­mun­gen zusätz­li­cher star­ker Regen gegen Ende eines bereits rekord­ver­däch­ti­gen Monsuns (Regen­zeit) zu sein. Ein sehr heißer Sommer mit Tempe­ra­tu­ren von über 40°C im April und Mai machte Paki­stan zum «heißes­ten Ort der Welt», so Malik Amin Aslam, ein ehema­li­ger Minis­ter für Klima­wan­del. Diese heißen Monate führ­ten zu einem abnor­ma­len Abschmel­zen der Glet­scher im Norden des Landes, deren Wasser mit den sint­flut­ar­ti­gen Regen­fäl­len zusam­men­traf, die durch ein «Triple Dip» ausge­löst wurden – drei aufein­an­der­fol­gende Jahre mit La Niña-Abküh­lung im äqua­to­ria­len Pazi­fik. Darüber hinaus hat auch der kata­stro­phale Klima­wan­del – ange­kur­belt durch den globa­len kohlen­stoff­ge­trie­be­nen Kapi­ta­lis­mus – die Glet­scher­schmelze und die Regen­fälle verursacht.

 

Die Art der Über­schwem­mun­gen selbst ist jedoch nicht ausschließ­lich auf die turbu­len­ten Wetter­ver­hält­nisse zurück­zu­füh­ren. Die Auswir­kun­gen des stei­gen­den Wassers auf die paki­sta­ni­sche Bevöl­ke­rung sind vor allem auf die unkon­trol­lierte Abhol­zung der Wälder und den Verfall von Infra­struk­tur wie Dämmen, Kanä­len und ande­ren Bauten zur Wasser­rück­hal­tung zurück­zu­füh­ren. Im Jahr 2019 erklärte die Welt­bank, dass Paki­stan vor einem «grünen Notstand» steht, da jedes Jahr etwa 27.000 Hektar Natur­wald abge­holzt werden, was die Aufnahme von Regen­was­ser im Boden erheb­lich erschwert.

 

Außer­dem haben fehlende staat­li­che Inves­ti­tio­nen in Dämme und Kanäle (die inzwi­schen stark verschlammt sind) die Kontrolle großer Wasser­men­gen erheb­lich erschwert. Die wich­tigs­ten dieser Dämme, Kanäle und Stau­seen sind der Sukkur-Stau­damm, das welt­weit größte Bewäs­se­rungs­sys­tem seiner Art, das den Indus in den südli­chen Sindh-Fluss leitet, und die Mangla- und Tarbela-Stau­seen, die das Wasser aus der paki­sta­ni­schen Haupt­stadt Islam­abad ablei­ten. Der ille­gale Bau von Immo­bi­lien in Über­schwem­mungs­ge­bie­ten erhöht das Poten­zial für mensch­li­che Tragö­dien noch weiter.

 

Gott hat mit diesen Über­schwem­mun­gen wenig zu tun. Zugrunde liegen Krisen der vom Kapi­ta­lis­mus ange­kur­bel­ten Klima­ka­ta­stro­phe und die Vernach­läs­si­gung der Wasser‑, Land- und Wald­be­wirt­schaf­tung in Pakistan.

Naiza H. Khan (Paki­stan), Gravey­ard at 11.23am, 2010.

Was sind die drin­gends­ten zusam­men­hän­gen­den Krisen in Pakistan?

 

Die Über­schwem­mun­gen haben eine Reihe von anhal­ten­den Proble­men offen­bart, die Paki­stan lähmen. Umfra­gen im Mai, also vor den Über­schwem­mun­gen, zeig­ten, dass 54 % der Bevöl­ke­rung die Infla­tion als ihr Haupt­pro­blem iden­ti­fi­zierte. Im August meldete das paki­sta­ni­sche Statis­tik­amt, dass der Groß­han­dels­preis­in­dex, der die Schwan­kun­gen der durch­schnitt­li­chen Waren­preise misst, um 41,2 % gestie­gen war, während die jähr­li­che Infla­ti­ons­rate 27 % betrug. Trotz der welt­weit stei­gen­den Infla­tion und der Erkennt­nis, dass sich die Kosten der durch die Über­schwem­mun­gen verur­sach­ten Schä­den auf über 10 Milli­ar­den Dollar belau­fen würden, hat der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds (IWF) ledig­lich 1,1 Milli­ar­den Dollar zuge­sagt, die an Spar-Bedin­gun­gen wie eine «umsich­tige Geld­po­li­tik» geknüpft sind. Es ist krimi­nell, dass der IWF zu einem Zeit­punkt strenge Spar­maß­nah­men aufer­legt, an dem die land­wirt­schaft­li­che Infra­struk­tur des Landes völlig zerstört ist (diese unan­ge­mes­sene Maßnahme erin­nert an die briti­sche Kolo­ni­al­po­li­tik, die während der Hungers­not in Benga­len 1943 die Ausfuhr von Weizen aus Indien fort­setzte). Im Welt­hun­ger-Index 2021 wurde Paki­stan bereits auf Platz 92 von 116 Ländern einge­stuft, wobei die Hunger­krise – vor den Über­schwem­mun­gen – ein erns­tes Ausmaß ange­nom­men hatte. Da sich jedoch keine der bürger­li­chen poli­ti­schen Parteien des Landes diese Warnun­gen zu Herzen genom­men hat, wird sich die Wirt­schafts­krise zwei­fel­los verschär­fen, ohne dass es zu einer Erho­lung kommt.

 

Damit sind wir bei der akuten poli­ti­schen Krise ange­langt. Seit der Unab­hän­gig­keit von Groß­bri­tan­nien im Jahr 1947, also vor 75 Jahren, hat Paki­stan 31 Premierminister*innen gehabt. Im April 2022 wurde der drei­ßigste, Imran Khan, abge­setzt, um den derzei­ti­gen Premier­mi­nis­ter Sheh­baz Sharif einzu­set­zen. Khan, der wegen Terro­ris­mus und Miss­ach­tung des Gerichts ange­klagt ist, behaup­tete, seine Regie­rung sei aufgrund seiner engen Bezie­hun­gen zu Russ­land auf Geheiß Washing­tons abge­setzt worden. Khans Paki­stan Tehreek-e-Insaf (PTI oder «Gerech­tig­keits­par­tei») hatte bei den Wahlen 2018 keine Mehr­heit erlangt, weshalb seine Koali­tion durch den Rück­tritt einer Hand­voll Abge­ord­ne­ter schnell ins Wanken gebracht werden konnte. Genau das hat die Oppo­si­tion getan: Sie kam durch legis­la­tive Manö­ver an die Macht, ohne ein Mandat von der Gesell­schaft erhal­ten zu haben. Seit seiner Abset­zung ist das Anse­hen von Imran Khan und der PTI in Paki­stan gestie­gen: Im Juli gewan­nen sie in Karat­schi und im Punjab 15 von 20 Nach­wah­len vor der Über­schwem­mung. Jetzt, da die Wut auf die Regie­rung Sharif wegen der schlep­pen­den Hilfe für die Flut­op­fer zunimmt, wird sich die poli­ti­sche Krise nur noch verschlimmern.

Huma Mulji (Paki­stan), Tip Top Dry Clea­ners, 2015.

Welche Aufga­ben stehen jetzt an?

 

Paki­stan leidet unter «Klima-Apart­heid». Das Land mit über 230 Millio­nen Einwohner*innen trägt nur 1 % zu den globa­len Treib­haus­gas­emis­sio­nen bei, trägt aber das acht­größte Klima­ri­siko in der Welt. Das Versäum­nis der west­li­chen kapi­ta­lis­ti­schen Länder, die Verant­wor­tung für die Zerstö­rung des Welt­kli­mas zu über­neh­men, bedeu­tet, dass Länder wie Paki­stan, die nur geringe Emis­sio­nen haben, bereits jetzt unver­hält­nis­mä­ßig stark unter dem raschen Klima­wan­del leiden. Die west­li­chen kapi­ta­lis­ti­schen Länder müssen zumin­dest die Global Climate Action Agenda voll unterstützen.

 

Linke und fort­schritt­li­che Kräfte – wie die Mazdoor Kisan Party – und andere Bürger­or­ga­ni­sa­tio­nen haben in den vier Provin­zen Paki­stans eine Flut­hil­fe­kam­pa­gne orga­ni­siert. Dabei geht es vor allem um Nahrungs­mit­tel­hilfe, um den Hunger in schwer zugäng­li­chen, über­wie­gend länd­li­chen Gebie­ten zu bekämp­fen. Die paki­sta­ni­sche Linke fordert, dass die Regie­rung die Flut der Spar­maß­nah­men und Infla­tion eindämmt, die die huma­ni­täre Krise mit Sicher­heit noch verschär­fen werden.

Im Sommer 1970 verur­sach­ten Sturz­flu­ten in der Berg­re­gion von Belut­schi­stan große Schä­den. Einige Monate später gewann der Dich­ter Gul Khan Nasir von der Natio­nal Awami Party bei den Parla­ments­wah­len einen Sitz in der Provinz­ver­samm­lung von Belut­schi­stan und wurde Minis­ter für Bildung, Gesund­heit, Infor­ma­tion, soziale Wohl­fahrt und Touris­mus. Gul Khan Nasir setzte seine marxis­ti­schen Über­zeu­gun­gen für den Aufbau der sozia­len Kapa­zi­tä­ten der Belut­schen ein (u. a. durch die Grün­dung der einzi­gen medi­zi­ni­schen Hoch­schule der Provinz in der Provinz­haupt­stadt Quetta). Als Nasir auf unde­mo­kra­ti­sche Weise aus dem Amt gewor­fen wurde, kam er zurück ins Gefäng­nis, ein Ort, mit dem er in den vergan­ge­nen Jahren nur allzu vertraut gewor­den war. Dort schrieb er seine Hymne «Demaa Qadam» («Vorwärts­marsch»). Eine der Stro­phen scheint 50 Jahre später den Zeit­geist in seinem Heimat­land zu beschreiben:

 

Wenn der Himmel über euren Köpfen

sich mit Zorn füllt, mit Wut füllt,

mit Donner und Regen und Blit­zen und Wind.

Die Nacht wird dunkel wie Pech.

Der Boden wird wie Feuer.

Die Zeiten werden grausam.

Aber dein Ziel bleibt das gleiche:

Marschie­ren, marschie­ren, vorwärts marschieren.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.