Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung.
Der sechsunddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Vor ein paar Tagen habe ich mit einer hohen Beamtin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesprochen. Ich fragte sie, ob sie wisse, wie viele Menschen auf unserem Planeten ohne Schuhe leben. Der Grund, warum ich ihr diese Frage stellte, war, dass ich mich über Tungiasis wunderte, eine Krankheit, die durch eine Infektion verursacht wird, die durch das Eindringen eines weiblichen Sandflohs (Tunga penetrans) in die Haut entsteht. Dieses Problem hat in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Namen – von jigger oder chigoe über niguá (spanisch) oder bicho do pé (portugiesisch) bis hin zu funza (Kiswahili) oder tukutuku (Zande). Es handelt sich um eine schreckliche Krankheit, die die Füße entstellt und die Mobilität erschwert. Schuhe verhindern, dass sich die Flöhe in die Haut bohren. Sie war sich über die Zahl nicht sicher, vermutete aber, dass mindestens eine Milliarde Menschen ohne Schuhe leben muss. Tungiasis ist nur eine von vielen Krankheiten, die durch fehlenden Zugang zu Schuhen verursacht werden. Andere, wie die Podokoniose, befällt Menschen, die auf rotem Vulkanlehm laufen, der ihre Füße in Mittelamerika, im afrikanischen Hochland und in Indien entzündet.
Eine Milliarde Menschen im 21. Jahrhundert ohne Schuhe.Hunderte Millionen von ihnen sind Kinder, von denen viele mangels Schuhen nicht zur Schule gehen können. Die weltweite Schuhindustrie produziert 24,3 Milliarden Paar Schuhe pro Jahr, d. h. drei Paar Schuhe für jeden Menschen auf der Erde. In der Schuhindustrie geht es um viel Geld: Trotz der COVID-19-Krise wird der Weltmarkt für Schuhe auf 384,2 Milliarden Dollar (2020) geschätzt, der bis 2026 auf 440 Milliarden Dollar anwachsen soll. Die größten Abnehmer von Schuhen leben in den Vereinigten Staaten, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien; die größten Schuhproduzenten leben in China, Indien, Brasilien, Italien, Vietnam, Indonesien, Mexiko, Thailand, der Türkei und Spanien. Viele derjenigen, die in einem Land wie Indien Schuhe herstellen, können sich weder die von ihnen produzierten Schuhe noch die billigsten Flipflops auf dem Markt leisten. Es gibt mehr als genug Schuhe auf dem Markt, aber es gibt nicht genug Geld in den Händen von Hunderten von Millionen Menschen, um diese Schuhe zu kaufen. Sie arbeiten und produzieren, aber sie können es sich nicht leisten, genug zu konsumieren, um ein anständiges Leben zu führen.
Im Juni 2021 veröffentlichte die Weltbank ihre globalen Wirtschaftsprognosen, in denen «zum ersten Mal in einer Generation» ein Anstieg der Armut festgestellt wurde. Die Analysten der Bank schrieben, dass «COVID-19 die Lebensbedingungen der schwächsten Bevölkerungsgruppen nachhaltig beeinträchtigen wird». In Ländern mit niedrigem Einkommen sind bereits 112 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen. «Die Pandemie wird auch die Einkommens- und Geschlechterungleichheit verschärfen, da ihre negativen Auswirkungen besonders Frauen, Kinder, ungelernte und informelle Arbeiter*innen treffen, indem Bildungschancen, Zugang zu Gesundheit und Erhaltung des Lebensstandards extrem erschwert werden», heißt es in dem Bericht.
Vor der Pandemie lebten 1,3 Milliarden Menschen in mehrdimensionaler und anhaltender Armut; ihre Entbehrungen wurden durch die Art und Weise, wie Regierungen und Unternehmen mit der Pandemie umgegangen sind, noch verschärft. Von den extrem Armen der Welt leben 85 % in Südasien und Subsahara-Afrika; die Hälfte lebt in nur fünf Ländern: Indien, Nigeria, die Demokratische Republik Kongo, Äthiopien und Bangladesch. Die Weltbank schätzt, dass zwei Milliarden Menschen unterhalb der gesellschaftlichen Armutsgrenze leben (was bedeutet, dass der Wohlstand der Volkswirtschaften bei der Messung der Armutsgrenze berücksichtigt wird).
Letztes Jahr wies der bahnbrechende Bericht der Weltbank Poverty and Shared Prosperity 2020: Reversals of Fortune darauf hin, dass «Menschen, die bereits arm und verletzlich sind, die Hauptlast der Krise tragen». Der Bericht betonte die Rolle der COVID-19-Pandemie bei der Zunahme der Armut, fügte aber auch die negativen Auswirkungen des Klimawandels und der Konflikte an. Nach Angaben der Weltbank sind «die Armen nach wie vor überwiegend ländlicher Herkunft, jung und unzureichend ausgebildet»; vier von fünf Menschen, die unterhalb der internationalen Armutsgrenze leben, wohnen in ländlichen Gebieten. Frauen und Mädchen sind unter den Armen und Hungernden überrepräsentiert. Auf der Grundlage dieser Analyse fordert die Weltbank die Regierungen auf, die Wohlfahrtsmaßnahmen zu verstärken, um den Arbeitslosen und den arbeitenden Armen zu helfen. Über die Landarbeiter*innen und Kleinbäuer*innen sowie die informell Beschäftigten, deren produktive Arbeit so mickrig entlohnt wird, hat die Bank jedoch nichts zu sagen. Deshalb befinden sich Hunderte von Millionen von ihnen – in Ländern wie Indien, wie unser Dossier Nr. 41 zeigt – mitten in einer großen Revolte.
Keiner der Weltbankberichte zeigt einen klaren Ausweg aus dieser Katastrophe für uns alle auf. Die Formulierungen in den Schlussfolgerungen dieser Berichte sind lau und zurückhaltend. «Wir müssen uns verpflichten, zusammenzuarbeiten und besser zu arbeiten», heißt es im Bericht der Weltbank. Zweifelsohne ist Zusammenarbeit unerlässlich, aber Zusammenarbeit in Bezug auf was, für wen und wie? Mit Blick auf einige der Pakete, die in Ländern wie Indonesien angeboten werden, bietet die Bank eine Reihe von politischen Optionen an:
- Stärkung des Gesundheitswesens.
- Aufstockung der Sozialschutzprogramme für einkommensschwache Haushalte in Form von Bargeldtransfers, Stromsubventionen und Nahrungsmittelhilfe sowie Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung für Arbeitnehmer*innen im informellen Sektor.
- Einführung von Steuerabzügen.
Dies sind attraktive Maßnahmen und grundlegende Forderungen sozialer Bewegungen auf der ganzen Welt. Solche Forderungen sind Teil des chinesischen Armutsbekämpfungsprogramms der «drei Garantien und zwei Zusicherungen» – Garantien für sicheren Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildung sowie Zusicherungen für Nahrung und Kleidung. Sie sind in unserer Studie über die Beseitigung der absoluten Armut in China ausführlich dokumentiert. Darin wird untersucht, wie das Land seit der chinesischen Revolution von 1949 850 Millionen Menschen aus der Armut befreit hat, was 70 Prozent der gesamten Armutsbekämpfung weltweit entspricht. Im Gegensatz zur chinesischen Regierung begibt sich die Weltbank auf völlig widersprüchliches Terrain, wenn sie eine Senkung der Unternehmenssteuern als Teil des Programmes für die Armutsbekämpfung fordert!
In was für Zeiten leben wir, wenn wir aufgefordert werden, vernünftig zu bleiben in einer Welt, in der Unordnung die Norm ist – die Unordnung von Kriegen und Überschwemmungen, Seuchen der einen oder anderen Art. Selbst die Weltbank stellt fest, dass schon vor der Pandemie die Tendenz zur Unordnung, zur Entmenschlichung bestand. Die Welt wird von den vier Reitern der modernen Apokalypse heimgesucht: Armut, Krieg, soziale Verzweiflung und Klimawandel. Dieses System hat keine Antworten auf die Probleme, die es schafft.
Eine Milliarde Menschen ohne Schuhe.
Eine verheerende Folge unserer gegenwärtigen Inflation von Gräueltaten ist das Gefühl, dass nichts anderes als dieser Albtraum möglich ist. Alternativen sind unvorstellbar. Spott verdrängt das Nachdenken über eine andere Zukunft. Wenn Versuche unternommen werden, eine solche andere Zukunft zu schaffen – wie widerständige Menschen es immer wieder angehen –, versuchen die Machthabenden, sie zu unterbinden. Das System driftet unaufhaltsam in den Faschismus von oben (der «entbehrliche» Menschen in Gefängnisse und Ghettos sperrt) und in den Faschismus von unten (der gefährliche rassistische, frauenfeindliche und fremdenfeindliche soziale Kräfte verstärkt). Es ist besser für die Mächtigen und die Besitzenden, dafür zu sorgen, dass kein Modell einer Alternative gedeihen kann. Es würde die Behauptung in Frage stellen, dass das, was die Welt jetzt regiert, ewig ist, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind.
Nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland flüchtete der Dramatiker Bertolt Brecht nach Svendborg (Dänemark). Dort schrieb Brecht 1938 ein Gedicht, in dem er darauf hinwies, dass es an der Zeit sei, sich auf die Unordnung zu konzentrieren und die Tür zu einer anderen Zukunft aufzubrechen:
Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung
In unseren Städten des Klassenkampfs
Haben etliche von uns in diesen Jahren beschlossen
Nicht mehr zu reden von Hafenstädten, Schnee auf den Dächern, Frauen
Geruch reifer Äpfel im Keller, Empfindungen des Fleisches
All dem, was den Menschen rund macht und menschlich
Sondern zu reden nur mehr von der Unordnung
Also einseitig zu werden, dürr, verstrickt in die Geschäfte
Der Politik und das trockene, «unwürdige« Vokabular
Der dialektischen Ökonomie
Damit nicht dieses furchtbare gedrängte Zusammensein
Von Schneefällen (sie sind nicht nur kalt, wir wissen’s)
Ausbeutung, verlocktem Fleisch und Klassenjustiz eine Billigung
So vielseitiger Welt in uns erzeugte, Lust an
Den Widersprüchen solch blutigen Lebens
Ihr versteht.
Unser Leben ist blutbefleckt. Unsere Vorstellungskraft ist ausgetrocknet. Das Bedürfnis, die Unordnung zu beenden, ist immens. Füße, mit oder ohne Schuhe, marschieren zum Duft reifer Früchte und dem Anblick von Städten am Meer.
Herzlichst,
Vijay