Afrikas Aufstand ist erstarrt, sein Schrei ist voller Hoffnung.
Der fünfunddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 26. August wurden bei zwei tödlichen Anschlägen auf das Gelände des internationalen Flughafens von Kabul über hundert Menschen getötet, darunter ein Dutzend US-Soldat*innen. Die Bombenanschläge trafen Menschen, die verzweifelt versuchten, den Flughafen zu erreichen und aus Afghanistan zu fliehen. Kurze Zeit später bekannte sich der Islamische Staat von Chorasan (IS‑K) zu dem Anschlag. Zehn Tage vor diesem Anschlag waren Taliban-Kämpfer in das Pul-i-Charkhi-Gefängnis in Kabul eingedrungen und hatten den IS-K-Anführer Abu Umar Khorasani, auch bekannt als Zia ul Haq, hingerichtet. Zwei Tage vor seiner Hinrichtung, als die Taliban in Kabul einmarschierten, sagte Abu Umar dem Wall Street Journal: «Sie werden mich freilassen, wenn sie gute Muslime sind». Doch die Taliban töteten ihn und acht weitere IS-K-Führer.
Seit seiner Gründung im Oktober 2014 hat der IS‑K, der in Afghanistan und Pakistan operiert, über 350 Anschläge auf afghanische, pakistanische und US-amerikanische Ziele in diesen Ländern verübt. Die ursprüngliche Führung der Gruppe, Hafiz Saeed Khan und Sheikh Maqbool, kam von der pakistanischen Tehrik‑e Taliban (TTP); sie schlossen sich mit einem ehemaligen Taliban-Befehlshaber, Abdul Rauf Khadim, zusammen, um den IS‑K in der östlichen Provinz Nangarhar in Afghanistan zu gründen. Im Jahr 2018 wies ein Bericht der Vereinten Nationen darauf hin, dass die ISIS-Führung im Irak und in Syrien «die Verlegung einiger ihrer wichtigsten Agenten nach Afghanistan» unterstützte, darunter Abu Qutaiba aus dem Irak und anderer Kämpfer aus Algerien, Frankreich, Russland, Tunesien und den fünf zentralasiatischen Staaten. Im Jahr 2016 stufte die US-Regierung IS‑K als terroristische Organisation ein; drei Jahre später warfen die USA eine massive Bombe auf IS-K-Stellungen in Nangarhar ab. Am 27. August bombardierten die USA als Vergeltung für den Bombenanschlag in Kabul Ziele in Nangarhar. «Wir wissen von keinen zivilen Opfern», verkündete das US Central Command leichtfertig. Wenige Tage später wurden bei einem US-Drohnenangriff, der sich angeblich gegen IS-K-Ziele richtete, zehn afghanische Zivilist*innen getötet, darunter auch kleine Kinder.
Seit 2014 haben die Taliban immer weitere Gebiete in Afghanistan erobert. In dieser Zeit kam es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen den IS-K-Kräften und den Taliban, wobei der IS‑K den Anspruch der Taliban auf den politischen Islam bestritt und die sektiererischen Angriffe auf die Minderheiten in Afghanistan verstärkte. Die Hinrichtung von Abu Umar Khorasani und der Sieg der Taliban haben den IS‑K sicherlich zu den tödlichen Anschlägen auf dem Flughafen von Kabul veranlasst. Die Gefahr einer Rückkehr zum Bürgerkrieg der 1990er Jahre scheint gering, da der IS‑K mit seinen Hunderten von Kämpfern nicht die Kapazität hat, den Taliban die Macht streitig zu machen; den Eifer aber, einem durch Krieg und Korruption bereits schwer zerrütteten Land Schaden zuzufügen, hat er.
Weit im Südwesten von Nangarhar, jenseits des Arabischen Meeres, liegen die nördlichen Provinzen Mosambiks. Hier drangen bewaffnete Kämpfer 2017 in die Provinz Cabo Delgado ein und griffen die Stadt Mocímboa da Praia an. Die Kämpfer nannten sich al-Shabab («Die Jugend»), stehen aber nicht mit der gleichnamigen Terrororganisation aus Somalia in Verbindung. In kürzester Zeit dehnten die Kämpfer ihren Krieg auf sechs der wichtigsten nördlichen Bezirke Mosambiks aus und nahmen fünf ihrer Hauptstädte ein. Die einzige Hauptstadt, die in der ersten Phase des Krieges nicht erobert wurde, Palma, ist das Zentrum eines Großprojekts des französischen Energiekonzerns Total und des amerikanischen Energiekonzerns ExxonMobil. Sie haben an einem der größten Erdgasvorkommen Afrikas Interesse, das einen Wert von mehr als 120 Milliarden Dollar hat. Beide Unternehmen stellten ihre Aktivitäten ein, als die Kämpfer auf Palma vorrückten, das sie im März 2021 einnahmen.
Forscher von Observatório do Meio Rural (OMR) und Cabo Ligado haben gezeigt, dass diese Kämpfer aus der Region stammen und keiner internationalen islamistischen Bewegung angehören. João Feijó vom OMR fand heraus, dass die Anführer von al-Shabab hauptsächlich aus Mosambik kommen, einige wenige auch aus Tansania. Der wichtigste Anführer von al-Shabab ist Bonomade Machude Omar, der in Palma geboren wurde, in den staatlichen und islamischen Schulen von Mocímboa da Praia aufwuchs und in den mosambikanischen Streitkräften ausgebildet wurde, bevor er mehrere Jugendliche unter seine Fittiche nahm, um gegen die extreme Armut in den nördlichen Provinzen Mosambiks zu kämpfen. Sie gründeten al-Shabab.
Nach dem raschen Vormarsch von al-Shabab soll Bonomade Machude Omar über seine Verbindung zum Islamischen Staat gesprochen haben, obwohl es keine Beweise für eine organisatorische Verbindung zwischen den Gruppen in Westasien und im südlichen Afrika gibt. Nichtsdestotrotz hat das US-Außenministerium am 6. August al-Shabab – oder ISIS-Mosambik, wie die Vereinigten Staaten sie nennen – als terroristische Organisation eingestuft und Bonomade Machude Omar als «Specially Designated Global Terrorist» bezeichnet. Sobald al-Shabab als ISIS-Mosambik bezeichnet wurde, konnte die volle militärische Gewalt im Norden Mosambiks eingesetzt werden.
Ein leitender Berater der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) erzählte mir, dass in den afrikanischen Hauptstädten die Angst umgeht, die Vereinigten Staaten und Frankreich würden einen Angriff auf den Norden Mosambiks starten, um die Vermögenswerte von Total und ExxonMobil zu schützen. «Das ist vielleicht der Grund, warum man die Kämpfer ISIS-Mosambik nannte», sagte er mir an dem Tag, als die Taliban in Kabul einmarschierten. Am 28. April traf der mosambikanische Präsident Filipe Nyusi in Kigali mit dem ruandischen Präsidenten Paul Kagame zusammen, um über al-Shabab zu sprechen. Zehn Tage später trafen ruandische Offiziere zu einer Aufklärungsmission in Cabo Delgado ein, kurz darauf folgten 1.000 ruandische Soldaten. Der hochrangige Berater sagt, dass die Vereinigten Staaten und Israel – das Kagame nahesteht – die Mission genehmigt haben. Kurz darauf entsandte die SADC eine Mission in Mosambik (SAMIM) mit Truppen aus den SADC-Ländern (Botswana, Lesotho und Südafrika) sowie Truppen aus Angola und Tansania. Sie haben den Einfluss von al-Shabab auf die Städte im Norden Mosambiks geschwächt.
Sowohl Stergomena Tax von der SADC (dessen Amtszeit als Exekutivsekretär am 31. August endete) als auch Südafrikas Verteidigungsminister Nosiviwe Mapisa-Nqakula beschwerten sich über die einseitige Entscheidung Ruandas, zu intervenieren. Obwohl es sich sowohl bei Ruanda als auch bei SAMIM um Interventionen afrikanischer Staaten handelt, hat die wichtigste Institution des Kontinents – die Afrikanische Union (AU) – in ihrem Friedens- und Sicherheitsrat nicht darüber beraten (der AU-Vorsitzende Moussa Faki Mahamat begrüßte jedoch die Intervention Ruandas). Weder Mosambik noch die SADC oder die AU haben einen umfassenden Plan für den Norden Mosambiks ausgearbeitet; die Probleme des Landes sind in seiner Ungleichheit, Armut und Korruption verwurzelt, die durch den Einfluss französischer und US-amerikanischer transnationaler Energieunternehmen noch verstärkt werden.
Das Dossier des Tricontinental: Institute for Social Research über die US-amerikanisch-französische Militärinterventionen auf dem afrikanischen Kontinent bietet eine Grundlage, um die Rolle der US-amerikanisch-französischen Handelsinteressen zu verstehen. Im Juni erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron, dass er die Hälfte der französischen Truppen der Operation Barkhane aus Mali abziehen werde; diese Art von «Rückzug» ist Teil von Macrons Präsidentschaftswahlkampf für die Wahlen 2022 und kein wirklicher Rückzug. Frankreichs wirkliche Einmischung besteht in der Schaffung von Plattformen wie der G‑5 Sahel (ein von Frankreich geleitetes Militärprojekt, in das Mali, Niger, Mauretanien, Tschad und Burkina Faso einbezogen sind), dessen Existenz die Weiterentwicklung der Afrikanischen Union und der afrikanischen Souveränität untergräbt. Gruppen wie die G‑5 Sahel rechtfertigen ihre Existenz mit der Behauptung, Gruppen wie den Islamischen Staat zu bekämpfen. Sie geben ihre Ziele nicht offen an: die Kontrolle über Schlüsselregionen und ‑länder des Kontinents aufrechtzuerhalten und so den exklusiven Zugang zu ihren Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen zu sichern.
Die UNO hat Recht, wenn sie in ihrem Bericht vom Juli schreibt, dass die Ausbreitung des Islamischen Staates in Afrika eine «auffällige Entwicklung» ist. Noch auffälliger sind jedoch die zugrundeliegenden Probleme: die Kontrolle und der Diebstahl von Ressourcen und die damit einhergehenden sozialen Probleme, nämlich die große Not der Menschen in Afrika. So leidet beispielsweise die Hälfte der Bevölkerung der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) an Hunger; der Einzug ruandischer Truppen in das Land im Jahr 2019 ist kaum eine Lösung für die Krise. In Afghanistan lebt ebenso wie in der ZAR die Hälfte der Bevölkerung in Armut, ein Drittel ist von Ernährungsunsicherheit betroffen, und zwei Drittel haben keinen Zugang zu Strom.
In Mosambik hingegen können sich schätzungsweise 80 % der Bevölkerung keine angemessene Ernährung leisten, und 2,9 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Die wirklichen Sicherheitsprobleme sind die Ernährungsunsicherheit und die Demütigungen der Armut, die alle Arten von Unruhen hervorrufen – einschließlich al-Shabab.
Die Befreiung Mosambiks begann 1975 in Cabo Delgado, das heute von dem aktuellen Konflikt zerrissen ist. Dieser Befreiungskrieg begann 1962 und wurde von der Mosambikanischen Befreiungsfront (FRELIMO) angeführt. Ein wichtiger Teil des Befreiungskrieges war der Kampf um die Entkolonialisierung der Kultur, aus dem die Moçambicanidade hervorging, die Sensibilität der neuen Revolution. Noémia de Sousa war eine der großen Dichterinnen der Moçambicanidade, deren Werke in der mosambikanischen Zeitschrift O Brado Africano («Der afrikanische Schrei») veröffentlicht wurden. Ihre Worte von 1958 tanzen durch diesen Newsletter:
Wenn du mich verstehen willst
komm, beuge dich über meine afrikanische Seele,
das Stöhnen der schwarzen Hafenarbeiter,
die rasenden Tänze der Tshopi,
die Rebellion der Shanganas,
die seltsame Melodie, die aus einem
Lied der Einheimischen durch die Nacht fließt.
Und fragt mich nicht mehr
wenn du mich kennenlernen willst …
denn ich bin nichts als eine fleischliche Hülle
wo der Aufstand Afrikas erstarrte,
sein Schrei von Hoffnung voll.
Herzlichst,
Vijay