Das Volk von Niger will die Resignation bezwingen.
Der vierunddreißigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
1958 gewann der Dichter und Gewerkschaftsführer Abdoulaye Mamani aus Zinder (Niger) die Wahlen in seiner Heimatregion gegen Hamani Diori, einen der Gründer der Progressiven Partei Nigers. Dieses Wahlergebnis stellte ein Problem für die französischen Kolonialbehörden dar, die Diori an die Spitze des neuen Niger stellen wollten. Mamani kandidierte für die linke nigrische Sawaba-Partei, die zu den führenden Kräften der Unabhängigkeitsbewegung gegen Frankreich gehörte. Die Sawaba war die Partei der Talakawa, der «Bürger*innen» oder der petit peuple («der einfachen Leute»), die Partei der Bäuer*innen und Arbeiter*innen, die ihre Hoffnungen in Niger verwirklichen wollten. Das Wort «Sawaba» ist mit dem Hausa-Wort «Sawki» verwandt, das Erleichterung oder Befreiung vom Elend bedeutet.
Das Wahlergebnis wurde schließlich für ungültig erklärt, und Mamani entschied, nicht erneut zu kandidieren, da er wusste, dass die Würfel gegen ihn gefallen waren. Diori gewann die Wiederwahl und wurde 1960 der erste Präsident Nigers.
Sawaba wurde 1959 von den Behörden verboten, und Mamani ging ins Exil nach Ghana, Mali und dann nach Algerien. «Lasst uns die Resignation bezwingen», schrieb er in seinem Gedicht Espoir («Hoffnung»). Nach Wiederherstellung der Demokratie in Niger kehrte Mamani 1991 zurück. 1993 fanden in Niger die ersten Mehrparteienwahlen seit 1960 statt. Die kurz zuvor wiedergegründete Sawaba erhielt nur zwei Sitze. Im selben Jahr kam Mamani bei einem Autounfall ums Leben. Die Hoffnung einer Generation, die sich von der neokolonialen Herrschaft Frankreichs über das Land befreien wollte, kommt in Mamanis verblüffender Zeile Lasst uns die Resignation bezwingen zum Ausdruck.
Niger liegt im Zentrum der afrikanischen Sahelzone, im Süden der Sahara. Die meisten Länder der Sahelzone standen fast ein Jahrhundert lang unter französischer Herrschaft, bevor sie 1960 aus dem direkten Kolonialismus entlassen wurden, um dann in eine neokoloniale Struktur abzugleiten, die bis heute weitgehend erhalten geblieben ist. Etwa zu der Zeit, als Mamani aus Algerien nach Hause zurückkehrte, gewann Alpha Oumar Konaré, ein Marxist und ehemaliger Studentenführer, die Präsidentschaft in Mali. Wie Niger war auch Mali mit kriminellen Schulden (3 Milliarden Dollar) belastet, von denen ein Großteil während der Militärherrschaft angehäuft wurde. Sechzig Prozent der Steuereinnahmen Malis flossen in den Schuldendienst, was bedeutete, dass Konaré keine Chance hatte, eine alternative Agenda zu entwickeln. Als Konaré die Vereinigten Staaten bat, Mali bei der Bewältigung dieser permanenten Schuldenkrise zu helfen, antwortete George Moose, der stellvertretende US-Außenminister für afrikanische Angelegenheiten während der Regierung von Präsident Bill Clinton, mit den Worten «Tugend ist ihr eigener Lohn». Mit anderen Worten: Mali musste die Schulden bezahlen. Konaré verließ 2002 fassungslos sein Amt. Die gesamte Sahelzone steckte in unbezahlbaren Schulden, während multinationale Konzerne mit den wertvollen Rohstoffen Gewinne erzielten.
Jedes Mal, wenn sich die Menschen in der Sahelzone erhoben, wurden sie niedergeschlagen. Dies war das Schicksal des malischen Präsidenten Modibo Keïta, der gestürzt und bis zu seinem Tod 1977 inhaftiert wurde, und des großen Präsidenten von Burkina Faso, Thomas Sankara, der 1987 ermordet wurde. Dies ist das Urteil, das über die Menschen in der gesamten Region verhängt wurde. Nun bewegt sich Niger erneut in eine Richtung, die Frankreich und anderen westlichen Ländern nicht gefällt. Sie wollen, dass die afrikanischen Nachbarländer ihre Militärs entsenden, um «Ordnung» in Niger zu schaffen. Um darüber aufzuklären, was in Niger und in der gesamten Sahelzone passiert, präsentieren Tricontinental: Institute for Social Research und International Peoples’ Assembly den Red Alert Nr. 17, No Military Intervention against Niger («Keine Militärintervention gegen Niger»), der den Rest dieses Newsletters ausmacht und hier heruntergeladen werden kann (in Englisch).
Warum nimmt die antifranzösische und antiwestliche Stimmung in der Sahelzone zu?
Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat der französische Kolonialismus Nord‑, West- und Zentralafrika überrollt. Bis 1960 kontrollierte Frankreich allein in Westafrika fast fünf Millionen Quadratkilometer (achtmal die Fläche von Frankreich). Obwohl nationale Befreiungsbewegungen vom Senegal bis zum Tschad in jenem Jahr die Unabhängigkeit von Frankreich erlangten, behielt die französische Regierung die finanzielle und monetäre Kontrolle durch die Afrikanische Finanzgemeinschaft oder CFA (ehemals die Französische Kolonialgemeinschaft in Afrika) bei, indem sie die französische Währung CFA-Franc in den ehemaligen westafrikanischen Kolonien beibehielt und die neuen unabhängigen Länder zwang, mindestens die Hälfte ihrer Devisenreserven bei der Banque de France zu halten. Die Souveränität wurde nicht nur durch diese Währungsketten eingeschränkt: Wenn neue Projekte in der Region auftauchten, wurde ihnen mit französischer Intervention begegnet (spektakulärerweise mit der Ermordung von Thomas Sankara in Burkina Faso im Jahr 1987). Frankreich hielt die neokolonialen Strukturen aufrecht, die es französischen Unternehmen ermöglichten, die natürlichen Ressourcen der Region auszusaugen (z. B. das Uran aus dem Niger, mit dem ein Drittel der französischen Glühbirnen betrieben wird), und trieb diese Länder dazu, ihre Hoffnungen aufgeben zu müssen, im Angesicht der vom Internationalen Währungsfonds aufgezwungenen Schulden-Austeritätpolitik.
Der schwelende Groll gegen Frankreich eskalierte, nachdem die Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) 2011 Libyen zerstört und die Instabilität in die afrikanische Sahelzone getragen hatte. Eine Mischung aus sezessionistischen Gruppen, subsaharischen Schmugglern und Al-Qaida-Ablegern schloss sich zusammen und marschierte südlich der Sahara auf, um fast zwei Drittel von Mali, große Teile von Burkina Faso und Teile von Niger zu erobern. Die französische Militärintervention in der Sahelzone durch die Operation Barkhane (2013) und die Schaffung des neokolonialen G‑5-Sahel-Projekts führte zu einer Zunahme der Gewalt durch französische Truppen, auch gegen Zivilist*innen. Das Schulden-Austeritätsprojekt des IWF, die westlichen Kriege in Westasien und die Zerstörung Libyens führten zu einem Anstieg der Migration in der gesamten Region. Anstatt die Ursachen der Migration zu bekämpfen, versuchte Europa, seine Südgrenze in der Sahelzone durch militärische und außenpolitische Maßnahmen auszubauen, unter anderem durch den Export illegaler Überwachungstechnologien an die neokolonialen Regierungen in diesem Gürtel Afrikas. Der Ruf «La France, dégage!» («Frankreich, raus!») definiert die Haltung der Massenunruhen in der Region gegen die neokolonialen Strukturen, die versuchen, den Sahel zu strangulieren.
Warum gibt es so viele Putsche in der Sahelzone?
Im Laufe der letzten dreißig Jahre ist die Politik in den Sahelländern deutlich verarmt. Viele Parteien, deren Geschichte auf die nationalen Befreiungsbewegungen und sogar auf die sozialistischen Bewegungen zurückgeht (wie die Parti Nigérien pour la Démocratie et le Socialisme-Tarayya in Niger), sind zu Vertretern ihrer Eliten verkommen, die ihrerseits eine westliche Agenda verfolgen. Der Einzug der Al-Qaida-Schleuserkräfte gab den lokalen Eliten und dem Westen die Rechtfertigung, das politische Umfeld weiter einzuschränken, die bereits begrenzten Gewerkschaftsfreiheiten zu beschneiden und die Linke aus den Reihen der etablierten politischen Parteien zu verdrängen. Das Problem ist weniger, dass die Führungspersonen der etablierten politischen Parteien leidenschaftlich rechts oder mitte-rechts sind, sondern dass sie, unabhängig von ihrer Ausrichtung, nicht wirklich unabhängig vom Willen aus Paris und Washington sind. Sie sind – um ein vor Ort häufig geäußertes Wort zu gebrauchen – «Handlanger» des Westens geworden.
In Ermangelung verlässlicher politischer oder demokratischer Instrumente wenden sich die abgehängten ländlichen und kleinbürgerlichen Teile der Sahelländer an ihre urbanisierten Kinder in den Streitkräften, denen sie die Führung übertragen. Leute wie der 1988 geborene Hauptmann Ibrahim Traoré aus Burkina Faso, der in der ländlichen Provinz Mouhoun aufgewachsen ist und in Ouagadougou Geologie studiert hat, und der 1983 geborene Oberst Assimi Goïta aus Mali, der aus der Viehmarktstadt und militärischen Hochburg Kati stammt, repräsentieren diese breiten Klassenfraktionen. Ihre Gemeinschaften sind durch die harten Sparprogramme des IWF, den Diebstahl ihrer Ressourcen durch westliche multinationale Unternehmen und die Zahlungen für westliche Militärgarnisonen im Land völlig an den Rand gedrängt worden. Da sie keine wirkliche politische Plattform haben, die für sie spricht, haben sich große Teile des Landes hinter die patriotischen Absichten dieser jungen Militärs gestellt, die ihrerseits von Massenbewegungen – wie Gewerkschaften und Bauernorganisationen – in ihren Ländern angetrieben wurden. Aus diesem Grund wird der Staatsstreich in Niger in Massenkundgebungen von der Hauptstadt Niamey bis zu den kleinen, abgelegenen Städten an der Grenze zu Libyen verteidigt. Diese jungen Führer kommen nicht mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Programm an die Macht. Sie achten jedoch Menschen wie Thomas Sankara: Hauptmann Ibrahim Traoré aus Burkina Faso beispielsweise trägt eine rote Baskenmütze wie Sankara, spricht mit Sankaras linker Direktheit und imitiert sogar Sankaras Diktion.
Wird es eine pro-westliche Militärintervention zur Absetzung der Regierung von Niger geben?
Der Putsch in Niger wurde vom Westen (insbesondere von Frankreich) sofort verurteilt. Die neue Regierung Nigers, die von einem Zivilisten (dem ehemaligen Finanzminister Ali Mahaman Lamine Zeine) geführt wird, forderte die französischen Truppen auf, das Land zu verlassen, und beschloss, die Uranexporte nach Frankreich zu stoppen. Weder Frankreich noch die Vereinigten Staaten – die in Agadez (Niger) die größte Drohnenbasis der Welt errichtet haben – sind daran interessiert, mit ihren eigenen Streitkräften direkt einzugreifen. Im Jahr 2021 schützten Frankreich und die Vereinigten Staaten ihre Privatunternehmen TotalEnergies und ExxonMobil in Mosambik, indem sie die ruandische Armee zum militärischen Eingreifen aufforderten. In Niger wollte der Westen zunächst, dass die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) in seinem Namen einmarschiert, aber Massenunruhen in den ECOWAS-Mitgliedstaaten, einschließlich der Verurteilungen durch Gewerkschaften und Volksorganisationen, hinderten die «Friedenstruppen» der regionalen Organisation daran. Am 19. August dieses Jahres entsandte die ECOWAS eine Delegation zu einem Treffen mit dem abgesetzten Präsidenten Nigers und der neuen Regierung. Sie hat ihre Truppen in Bereitschaft gehalten und gewarnt, dass sie einen nicht genannten «D‑Day» für eine militärische Intervention gewählt hat.
Die Afrikanische Union, die den Staatsstreich zunächst verurteilte und Niger von allen Gewerkschaftsaktivitäten ausgeschlossen hatte, erklärte kürzlich, dass keine militärische Intervention geben soll. Diese Erklärung hat nicht verhindert, dass Gerüchte die Runde machten, wie z.B., dass Ghana seine Truppen nach Niger schicken könnte (trotz der Warnung der Presbyterianischen Kirche von Ghana, nicht einzugreifen, und der Verurteilung einer möglichen Invasion durch die Gewerkschaften). Benachbarte Länder haben ihre Grenzen zu Niger geschlossen.
In der Zwischenzeit erklärten die Regierungen von Burkina Faso und Mali, die Truppen nach Niger entsandt haben, dass sie jedes militärische Eingreifen gegen die nigrische Regierung als Invasion in ihre eigenen Länder betrachten. Es gibt intensive Gespräche über die Schaffung einer neuen Föderation in der Sahelzone, die Burkina Faso, Guinea, Mali und Niger mit einer Gesamtbevölkerung von über 85 Millionen Menschen umfasst. Die Unruhen in der Bevölkerung vom Senegal bis zum Tschad deuten darauf hin, dass dies nicht die letzten Putsche in diesem wichtigen Teil des afrikanischen Kontinents sein werden. Das Wachstum von Plattformen wie der West African Peoples Organisation ist der Schlüssel zum politischen Fortschritt in der Region.
Am 11. August schrieb Philippe Toyo Noudjènoumè, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Benins, einen Brief an den Präsidenten seines Landes und stellte eine präzise und einfache Frage: Wessen Interessen haben Benin dazu gebracht, mit Niger in den Krieg zu treten, um seine «Schwesterbevölkerung» auszuhungern? «Sie wollen das beninische Volk verpflichten, das nigrische Volk für die strategischen Interessen Frankreichs zu knechten», fuhr er fort; «ich verlange, dass … Sie sich weigern, unser Land in eine aggressive Operation gegen die nigrische Schwesterbevölkerung zu verwickeln … [und] auf die Stimme unseres Volkes hören … für Frieden, Harmonie und die Entwicklung der afrikanischen Völker». Das ist die Stimmung in der Region: der Mut, sich den neokolonialen Strukturen entgegenzustellen, die die Hoffnung untergraben haben. Die Menschen wollen die Resignation bezwingen.
Herzlichst,
Vijay