Indische Arbeiter*innen verteidigen ihren Stahl mit ihrem Leben. 

Der vierunddreißigste Newsletter (2022).

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

Die lange und ferne Epoche der Prähis­to­rie, die sich auf die Zeit vor der Neuzeit bezieht, unter­teilt man übli­cher­weise in drei Peri­oden: die Stein­zeit, die Bron­ze­zeit und die Eisen­zeit. Im Zeit­al­ter der geschrie­be­nen Geschichte stütz­ten wir uns dann norma­ler­weise nicht mehr auf bestimmte Metalle oder Mine­ra­lien, um unsere Epochen zu defi­nie­ren. Metalle und Mine­ra­lien wurden durch neue Produk­ti­ons­tech­ni­ken und neue Arbeits­mus­ter nutz­bar gemacht. Ein Zuviel dieser Mate­ria­lien hat dazu beigetra­gen, dass wir heute fähig sind, große Über­schüsse zu erzeu­gen. Es gibt das Indus­trie­zeit­al­ter, nicht aber zum Beispiel ein Stahl-Zeit­al­ter, das Kern­me­tall unse­rer Epoche.

«Wir wach­sen aus Eisen», schrieb der russi­sche Dich­ter Alek­sei Gastev im Jahr 1914. Er beob­ach­tet Öfen und Schmie­den, Hämmer und Maschi­nen, und dann:

Wenn ich sie anschaue, richte ich mich auf.

In meine Adern fließt ein neues, eiser­nes Blut,

Und ich beginne zu wachsen.

Mir wach­sen stäh­lerne Schul­tern und unend­lich starke Hände.

Ich verschmelze mit dem eiser­nen Bauwerk.

Mit meinen Schul­tern schiebe ich die Spar­ren und Balken zum Dach hinauf.

Meine Füße sind auf dem Boden, aber mein Kopf ist höher als das Gebäude.

Und während ich an meiner unmensch­li­che Anstren­gung zu ersti­cken drohe,

schreie ich bereits auf:

Ein Wort, Kame­ra­den, ein Wort!

Das eiserne Echo hat auf meine Worte gehört, das ganze Gebäude

zittert vor Ungeduld.

Ich steige weiter nach oben, ich bin auf glei­cher Höhe mit den Rohren.

Und hier gibt es keine Geschichte, keine Rede.

Es gibt nur den Schrei:

Wir werden triumphieren!

Der Virus der Deindus­tria­li­sie­rung, der Nord­ame­rika und Europa in den 1970er Jahren heim­suchte, führte zu einer Fülle von wissen­schaft­li­cher Lite­ra­tur über die post­in­dus­tri­elle Gesell­schaft. Diese Schrif­ten münde­ten in der merk­wür­di­gen Annahme, dass die digi­tale Wirt­schaft zum Haupt­mo­tor der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion werden würde. Es wurde kaum beach­tet, dass auch die digi­tale Wirt­schaft eine Infra­struk­tur benö­tigt, einschließ­lich Satel­li­ten und Unter­see­ka­bel sowie Anla­gen zur Strom­erzeu­gung und Geräte zur Verbin­dung mit den digi­ta­len Auto­bah­nen. Diese digi­tale Wirt­schaft basiert auf einer Reihe von Metal­len und Mine­ra­lien – von Kupfer bis Lithium. Das Funda­ment unse­rer Gesell­schaft ist jedoch nach wie vor der alte Stahl, der in großen Fabri­ken gehär­tet wird. Dieser Stahl – tausend­mal stär­ker als Eisen – ist in unse­rer Welt ebenso allge­gen­wär­tig wie Plastik.

Visual Capi­ta­list, 50 Jahre globale Stahl­pro­duk­tion visua­li­siert, 2021

In den letz­ten fünf­zig Jahren hat sich die Stahl­pro­duk­tion verdrei­facht. Die größ­ten Stahl­pro­du­zen­ten sind heute China, Europa, Indien, Japan, Russ­land und die Verei­nig­ten Staa­ten. Während der Pande­mie ging die Stahl­pro­duk­tion nur um 1 % zurück, vor allem weil die Binnen­nach­frage in Ländern wie China und Indien die Öfen am Bren­nen hielt. Während die Stahl­pro­duk­tion in China aufgrund von Über­pro­duk­ti­ons­sor­gen leicht zurück­ging, haben die indi­schen Stahl­werke ihre Produk­tion im Verlauf der Pande­mie gesteigert.

 

Viele dieser Werke in Indien sind im öffent­li­chen Sektor ange­sie­delt, wurden mit staat­li­chen Mitteln gebaut und werden von staat­li­chen und halb­staat­li­chen Einrich­tun­gen verwal­tet. Zu diesen Fabri­ken gehört Rash­triya Ispat Nigam Limi­ted (RINL), ein Stahl­kom­plex in Visa­k­ha­pa­tanam im südöst­li­chen Bundes­staat Andhra Pradesh. Das Werk, das liebe­voll Visa­kha Steel genannt wird, ist das Ergeb­nis eines Massen­kamp­fes der Bevöl­ke­rung von Andhra Pradesh, der 1966 begann und bis zur Inbe­trieb­nahme der Öfen im Jahr 1982 andau­erte. Der Fabrik­kom­plex wurde zu einer Zeit errich­tet, als der indi­sche Staat – unter dem Druck der herr­schen­den Klasse Indi­ens und des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds – die Wirt­schaft zu libe­ra­li­sie­ren begann, unter ande­rem durch die Priva­ti­sie­rung von Staats­ver­mö­gen. Die Fabrik wurde in eine libe­ra­li­sierte Welt hinein­ge­bo­ren, in der die Regie­rung bestrebt war, ihre Möglich­kei­ten auszu­schöp­fen, um sie in einer Priva­ti­sie­rungs­welle, die man besser als Pira­te­rie bezeich­nen sollte, an priva­tes Kapi­tal zu verkaufen.

Die inspi­rie­rende Geschichte von Visa­kha Steel ist das Thema unse­res Dossiers Nr. 55 (August 2022), The People’s Steel Plant and the Fight Against Priva­tis­a­tion in Visa­k­ha­pa­tanam. Das Dossier beschreibt den Kampf der Bevöl­ke­rung von Andhra Pradesh, um die Regie­rung zum Bau einer Fabrik zu zwin­gen, eines «Tempels des moder­nen Indi­ens», wie Indi­ens erster Premier­mi­nis­ter Jawa­harlal Nehru sie nannte. Visa­kha Ukku, Andhrula Hakku, skan­dier­ten die Jugend­li­chen und Student*innen: «Visa­kha Steel ist das Recht des Volkes von Andhra». Im Jahr 1966 wurde der Kampf mit schreck­li­cher staat­li­cher Gewalt beant­wor­tet, die zum Tod von 32 Menschen und zur Verhaf­tung und Folte­rung von vielen, vielen weite­ren führte. Die Regie­rung war nicht in der Lage, die von den Kommu­nis­ten getra­gene Bewe­gung zu zerschla­gen, und erkannte die Notwen­dig­keit von mehr Stahl für ein Indien, das verzwei­felt versuchte, die Probleme des Hungers und des Analpha­be­ten­tums zu über­win­den, und stimmte dem Bau der Fabrik zu.

 

Da Visa­kha Steel zu einer Zeit entstand, als die Reli­gion der Priva­ti­sie­rung vorherr­schend wurde, versuchte die indi­sche Regie­rung mehr­fach, das Über­le­ben des Unter­neh­mens im öffent­li­chen Sektor zu unter­bin­den, indem sie das Stahl­werk daran hinderte, eigene Minen zu erwer­ben, in der Nähe in Gang­ava­ram einen eige­nen Hafen zu bauen, ausrei­chende Kapa­zi­tä­ten in der Stahl­schmelze (zur Verar­bei­tung des Rohei­sens zu Stahl) zu schaf­fen und ange­mes­sene und recht­zei­tige staat­li­che Mittel zu erhal­ten. Statt­des­sen versuchte die Regie­rung, ein priva­tes Unter­neh­men mit der Errich­tung eines Stahl­werks zu beauf­tra­gen, das geschmol­ze­nes Eisen aus den Hoch­öfen von Visa­kha Steel zur Herstel­lung von verar­bei­te­tem Stahl verwen­den sollte, der auf dem Markt mit hohen Gewinn­span­nen verkauft werden könnte — ein Vorha­ben, das von den Arbei­tern abge­lehnt wurde. Die Regie­rung hat zu keinem Zeit­punkt ihr Enga­ge­ment für die Stahl­pro­duk­tion oder für die Verbes­se­rung der Lebens­be­din­gun­gen der Stahlwerker*innen und ihrer Fami­lien gezeigt.

Die Arbeiter*innen hinge­gen hatten ihre eige­nen Vorstel­lun­gen. Ange­führt vom Centre for Indian Trade Unions (CITU) und ande­ren Gewerk­schaf­ten kämpf­ten die Arbeiter*innen für eine Umstruk­tu­rie­rung der staat­li­chen Darle­hen und deren Umwand­lung in staat­li­ches Eigen­ka­pi­tal, für die Zuwei­sung einer eige­nen Eisen­erz­mine für das Werk und für die Erhö­hung der Kapa­zi­tät des Stahl­werks. In unse­rem Dossier heißt es, dass sich die Stahl­ar­bei­ter «nach­drück­lich für das Wachs­tum des Unter­neh­mens als tech­nisch effi­zi­en­tes und finan­zi­ell trag­fä­hi­ges Werk einge­setzt haben, sei es durch den Kampf für die Erwei­te­rung des Werks, die Gewin­nung von konzern­ei­ge­nen Minen oder die Lösung tech­ni­scher Probleme und Schwie­rig­kei­ten. Wann immer im Werk ein tech­ni­sches Problem auftrat, sei es mit Koks­öfen, Kraft­wer­ken, Stahl­schmelz­wer­ken oder ander­wei­tig, haben die Beschäf­tig­ten und die Gewerk­schaf­ten uner­müd­lich gründ­li­che Unter­su­chun­gen und Analy­sen durch­ge­führt, um ange­mes­sene Lösun­gen zu finden und umzu­set­zen». Wir haben es hier mit einer Regie­rung zu tun, die Visa­kha Steel ausschlach­ten will, und mit Arbeiter*innen, die sich für die Produk­tion im «Stahl­werk des Volkes» einsetzen.

 

Anstatt den Gang­ava­ram-Hafen, wie ursprüng­lich geplant, im öffent­li­chen Sektor zu errich­ten, hat die Regie­rung den Hafen an die Adani-Gruppe verge­ben, deren Eigen­tü­mer enge Bezie­hun­gen zu Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi unter­hält und von Visa­kha Steel erheb­li­che Gebüh­ren verlangt. Es ist wich­tig zu wissen, dass dieser Hafen auf einem Grund­stück gebaut wurde, das ursprüng­lich dem Stahl­werk gehörte. Während Visa­kha Steel Grund­steu­ern in der Stadt zahlt, ist der private Hafen von Adani von der Zahlung von Steu­ern befreit. Gleich­zei­tig versuchte die Regie­rung Modi, das Land von Visa­kha Steel an den südko­rea­ni­schen Stahl­rie­sen POSCO zu veräu­ßern, damit dieser seine eige­nen Walz­werke zur Herstel­lung von Spezi­al­stahl für die Auto­mo­bil­in­dus­trie mit dem Stahl aus dem Visa­kha-Werk errich­ten kann. In einem typi­schen Beispiel für eine heim­li­che Priva­ti­sie­rung wird in dem Dossier erklärt: «Visa­kha Steel sollte die komple­xes­ten, gefähr­lichs­ten und schmut­zigs­ten Arbei­ten über­neh­men – die Beschaf­fung von Erz, den Betrieb von Koks­öfen, Sauer­stoff­an­la­gen und verschie­de­nen Öfen –, während POSCO den lukra­tivs­ten Teil der Wert­schöp­fungs­kette über­neh­men sollte».

 

Das machen wir nicht mit, sagten die Arbei­ter. Ausge­hend von dem histo­ri­schen Kampf, durch den das Werk über­haupt erst errich­tet wurde, began­nen die Arbei­ter eine Bewe­gung zur Rettung von Visa­kha Steel. Die Flut­welle dieser Bewe­gung – die maßgeb­lich vom Kampf der Bauern, Bäue­rin­nen und Landarbeiter*innen, den gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Kinderbetreue*innen auf dem Land und der Bevöl­ke­rung von Andhra Pradesh unter­stützt wurde – hielt die Regie­rung in Atem. Während die Regie­rung während der Pande­mie zauderte, waren es die Stahl­ar­bei­ter, die ihre Sauer­stoff­an­la­gen unun­ter­bro­chen laufen ließen, um medi­zi­ni­schen Sauer­stoff für die Kran­ken­häu­ser zu produzieren.

 

Es wird nicht viel über Kämpfe wie diesen geschrie­ben, die von tapfe­ren Stahlarbeiter*innen, die meist verges­sen oder – wenn man sich an sie erin­nert – schlecht gemacht werden. Sie stehen an den Öfen, walzen den Stahl aus, härten ihn, wollen bessere Kanäle für die Bäuer*innen bauen, Träger für Schu­len und Kran­ken­häu­ser und die Infra­struk­tur errich­ten, damit ihre Gemein­schaf­ten die Probleme der Mensch­heit über­win­den können. Unser Dossier basiert auf unse­ren Gesprä­chen mit den Stahlarbeiter*innen und ihrer Gewerk­schaft. Sie erzähl­ten uns, wie sie ihre Vergan­gen­heit sehen und wie sie ihren Kampf verste­hen. Sie stell­ten uns auch ihre Fotos zur Verfü­gung (sowie auch Fotos von Kunchem Rajesh von der in Andhra Pradesh erschei­nen­den Zeitung Prajas­akti), aus denen unsere Kunst­ab­tei­lung die Colla­gen erstellt hat, die das Dossier illus­trie­ren (einige davon sind in diesem News­let­ter zu sehen).

 

Bei ihren Demons­tra­tio­nen singen, skan­die­ren und rezi­tie­ren die Arbeiter*innen Gedichte, die zum Kampf aufru­fen, «bevor die Erde unter unse­ren Füßen verschwin­det, bevor uns der Stahl aus den Händen glei­tet». Wenn sie versu­chen, die Fabrik zu priva­ti­sie­ren, singen sie: «Die Stadt Visa­kha wird sich in einen Stahl­ofen verwan­deln, Nord-Andhra in ein Schlacht­feld … Wir werden unse­ren Stahl mit unse­rem Leben verteidigen».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.