Ich bin hier erwacht, als die Erde neu war.
Der vierunddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Ende März 2021 kamen 120 traditionelle Bewohner*innen aus 40 verschiedenen Gruppen der Ersten Völker für fünf Tage zur Nationalen Versammlung der Ersten Völker zum Klimawandel in Cairns (Australien) zusammen. In seiner Rede über die Auswirkungen der Klimakrise auf die Ureinwohner*innen erklärte Gavin Singleton von den traditionellen Bewohner*innen der Yirrganydji: «Von sich ändernden Wetterlagen bis hin zu Verschiebungen in den natürlichen Ökosystemen ist der Klimawandel eine eindeutige und gegenwärtige Bedrohung für unser Volk und unsere Kultur».
Bianca McNeair von den traditionellen Malgana-Bewohner*innen aus Gatharagudu (Australien) sagte, dass die Teilnehmer der Versammlung «darüber sprechen, wie sich die Zug der Vögel über das Land verändert hat, so dass sich die Gesänge, die sie seit Tausenden von Jahren singen, ändern, und wie sich das auf sie als Gemeinschaft und Kultur auswirkt. … Wir sind ein sehr widerstandsfähiges Volk», sagte McNeair, «deshalb waren wir bereit, uns den Herausforderungen zu stellen. Aber jetzt sehen wir uns mit einer unvorhersehbaren Situation konfrontiert, die nicht zu unserem natürlichen Umweltmuster gehört».
Die traditionellen Bewohner*innen der Yirrganydji leben an der australischen Küste, die direkt an das Great Barrier Coral Reef grenzt. Dieses majestätische Riff ist durch den Klimawandel vom Aussterben bedroht: In den Jahren 2014 bis 2017 kam es zu einer Korallenbleiche, die die wertvollen Korallen abzutöten drohte, da die schwankenden Temperaturen dazu führten, dass die Korallen symbiotische Algen abstießen, die für die gesunde Ernährung der Korallen wichtig sind. Von den Vereinten Nationen berufene Wissenschaftler haben festgestellt, dass 70 % der Korallenriffe der Erde bedroht sind, wobei 20 % bereits zerstört sind, «ohne Hoffnung auf Erholung». Von den bedrohten Riffen ist ein Viertel «unmittelbar vom Zusammenbruch bedroht» und ein weiteres Viertel «aufgrund langfristiger Bedrohungen» gefährdet. Im November 2020 wurde in einem UN-Bericht mit dem Titel Projections on Future Coral Bleaching (Prognosen über die künftige Korallenbleiche) gewarnt, dass die Riffe aussterben werden, wenn die Kohlenstoffemissionen nicht eingedämmt werden, und dass die von ihnen lebenden Arten ebenfalls aussterben werden. Die Great Barrier Reef Marine Park Authority stellt fest, dass «der Klimawandel die größte Bedrohung für das Great Barrier Reef und die Korallenriffe weltweit darstellt». Aus diesem Grund haben die traditionellen Bewohner*innen der Yirrganydji die Indigenous Land and Sea Rangers gegründet, um das Riff trotz aller Widrigkeiten zu schützen.
«Die meisten unserer Traditionen, Bräuche und unsere Sprache haben mit dem Meer zu tun», sagt Singleton, «der Verlust des Riffs würde also unsere Identität beeinträchtigen. Wir waren schon vor der Entstehung des Riffs hier und kennen noch immer Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden – darüber, wie das Meer anstieg und das Gebiet überflutete, die ‹große Flut›». Die Yirrganydji-Ranger, so Singleton, «gehören mit Leib und Seele» zu dem Riff. Und sie kämpfen gegen alle Widrigkeiten an.
Kurz nach Ende der Nationalen Versammlung der Ersten Völker veröffentlichte der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC) seinen sechsten Bericht. Im Konsens mit 234 Wissenschaftlern aus mehr als 60 Ländern stellt der Bericht fest, dass «mehrere Beweislinien belegen, dass die jüngsten großräumigen Klimaveränderungen in einem mehrtausendjährigen Kontext beispiellos sind und dass sie eine tausendjährige Herausforderung für die langsam reagierenden Elemente des Klimasystems darstellen, was zu einer weltweiten Eisschmelze, einem Anstieg des Wärmegehalts der Ozeane, einem Anstieg des Meeresspiegels und einer Versauerung der Meere führt». Wenn die Erwärmung weiterhin 3 °C (bis 2060) und 5,7 °C (bis 2100) beträgt, ist das Aussterben der Menschheit sicher. Der Bericht führt eine Reihe von extremen Wetterereignissen an: Überschwemmungen in China und Deutschland, Brände im Mittelmeerraum und extreme Temperaturen auf der ganzen Welt. Eine in der Juli-Ausgabe von Nature Climate Change veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass diese «rekordverdächtigen Extreme» ohne Erwärmung «nahezu auszuschließen» wären.
Der 6. IPCC-Bericht zeigt, dass die «historischen kumulativen CO2-Emissionen die bisherige Erwärmung weitgehend bestimmen», was bedeutet, dass die Länder des Globalen Nordens den Planeten bereits an den Rand der Vernichtung gebracht haben, bevor die Länder des Globalen Südens in der Lage waren, grundlegende Bedürfnisse wie die allgemeine Elektrifizierung zu erfüllen. So sind beispielsweise 54 Länder des afrikanischen Kontinents für lediglich 2–3 % der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich; die Hälfte der 1,2 Milliarden Menschen in Afrika hat keinen Zugang zu Elektrizität, während viele extreme Klimaereignisse (Dürren und Wirbelstürme im südlichen Afrika, Überschwemmungen am Horn von Afrika, Wüstenbildung in der Sahelzone) inzwischen auf dem gesamten Kontinent auftreten. Unser Red Alert Nr. 11, der am Weltumwelttag (5. Juni) veröffentlicht und im Rahmen der Internationalen Woche des antiimperialistischen Kampfes herausgegeben wurde, erläutert wissenschaftlich und politisch die Dynamik der Klimakrise, die «gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung» und was getan werden kann, um das Blatt zu wenden.
Die Regierungen werden im Oktober zur 15. Konferenz der Vertragsparteien (COP15) in Kunming (China) zusammenkommen, um über die Fortschritte beim Übereinkommen über die biologische Vielfalt (1993 ratifiziert) zu beraten, und im November zur 26. (COP26) in Glasgow (Großbritannien) zur Erörterung des Klimawandels. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die COP26, auf der der mächtige Globale Norden einmal mehr auf «Netto-Null»-Kohlendioxidemissionen drängen und damit tiefe Einschnitte bei seinen eigenen Emissionen ablehnen wird, während er darauf besteht, dass der Globale Süden auf soziale Entwicklung verzichtet.
Inzwischen wird der COP15 weniger Aufmerksamkeit geschenkt, auf deren Tagesordnung die Senkung des Pestizideinsatzes um zwei Drittel, die Halbierung der Lebensmittelverschwendung und die Abschaffung von Plastikmüll stehen. Ein Bericht der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (Zwischenstaatliche Wissenschafts- und Politikplattform für biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen) aus dem Jahr 2019 zeigt, dass durch Umweltverschmutzung und Ressourcenabbau eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind.
Der Zusammenhang zwischen dem Angriff auf die biologische Vielfalt und dem Klimawandel ist eindeutig: Allein durch die Öffnung von Feuchtgebieten wurden historische Mengen an Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Tiefgreifende Emissionssenkungen und ein besserer Umgang mit den Ressourcen sind unumgänglich.
Bemerkenswerterweise forderte die Regierung von US-Präsident Joe Biden gerade zu dem Zeitpunkt, als der IPCC seinen Bericht veröffentlichte, die Organisation erdölexportierender Länder zur Erhöhung der Ölproduktion auf. Damit wird das Versprechen Bidens, die Treibhausgasemissionen der USA bis 2030 um 50 % zu senken, ad absurdum geführt.
Ein kürzlich in Nature veröffentlichter Artikel weist nach, dass das Verbot der Verwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW), wie es in dem 1987 verabschiedeten Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht festgehalten wurde, durch den schrittweisen Verzicht auf Aerosolsprays, Kühlmittel und Styroporverpackungen den Abbau der Ozonschicht verhindert hat. Das Montrealer Protokoll ist deshalb so wichtig, weil es – trotz der Lobbyarbeit der Industrie – weltweit ratifiziert wurde. Dieser Vertrag gibt Anlass zur Hoffnung, dass ausreichender Druck aus den wichtigsten Ländern, angetrieben durch soziale und politische Bewegungen, zu strengen Vorschriften gegen Umweltverschmutzung und Kohlenstoffmissbrauch sowie zu einem bedeutenden kulturellen Wandel führen könnte.
Zu den Orten, deren Namen mit den globalen Verhandlungen zur Rettung des Planeten verbunden sind, gehören Städte wie Kyoto (1997), Kopenhagen (2009) und Paris (2015). Zuallererst wäre aber Cochabamba (Bolivien) zu nennen, wo die Regierung von Evo Morales Ayma im April 2010 die Weltvolkskonferenz zum Klimawandel und den Rechten von Mutter Erde abhielt. Mehr als 30.000 Menschen aus über 100 Ländern nahmen an dieser wegweisenden Konferenz teil, auf der die Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde verabschiedet wurde. Es wurden mehrere Punkte diskutiert, darunter die Forderung nach:
1. Senkung der Emissionen um mindestens 50 % in den Staaten des Globalen Nordens
2. erhebliche Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels und bei der Abkehr von fossilen Brennstoffen
3. Schutz der Rechte indigener Völker
4. Öffnung der internationalen Grenzen für Klimaflüchtlinge
5. Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs zur Verfolgung von Klimastraftaten
6. Anerkennung des Rechts der Menschen auf Wasser und des Rechts der Menschen, keiner übermäßigen Verschmutzung ausgesetzt zu sein.
«Wir sind mit zwei Möglichkeiten konfrontiert», sagte der ehemalige Präsident Morales: «der Weg der Pachamama (Mutter Erde) oder der Weg der multinationalen Konzerne. Wenn wir uns nicht für den ersten entscheiden, werden die Herren des Todes gewinnen. Wenn wir nicht kämpfen, machen wir uns schuldig an der Zerstörung des Planeten». Gavin Singleton und Bianca McNeair würden dem nur zustimmen.
Genauso wie der Yorta-Yorta-Dichter und Pädagoge Hyllus Noel Maris (1933–1986), dessen «Spiritual Song of the Aborigine» (1978) Hoffnung weckt und den Soundtrack für diejenigen liefert, die zur Rettung des Planeten angetreten sind:
Ich bin ein Kind des Volkes der Traumzeit
Teil dieses Landes, wie der knorrige Gummibaum
Ich bin der Fluss, der leise singt
Ich singe unsere Lieder auf meinem Weg zum Meer
Mein Geist ist der Staubteufel
Trugbilder, die auf der Ebene tanzen
Ich bin der Schnee, der Wind, und der fallende Regen
Ich bin ein Teil der Felsen und der roten Wüstenerde
Rot wie das Blut, das in meinen Adern fließt
Ich bin Adler, Krähe und Schlange, die gleitet
Durch den Regenwald, der sich an den Berghang klammert
Ich bin hier erwacht, als die Erde noch neu war.
Herzlich,
Vijay