Die BRICS haben das Kräfteverhältnis verschoben, aber sie werden nicht von sich aus die Welt verändern.
Der dreiunddreißigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 2003 trafen sich Regierungsvertreter aus Brasilien, Indien und Südafrika in Mexiko, um ihre gegenseitigen Interessen im Arzneimittelhandel zu erörtern. Indien war und ist einer der weltgrößten Arzneimittelhersteller, darunter auch solcher zur Behandlung von HIV-AIDS; Brasilien und Südafrika brauchten erschwingliche Medikamente für HIV-infizierte Patient*innen sowie für eine Reihe anderer behandelbarer Krankheiten. Diese drei Länder konnten jedoch aufgrund der strengen Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums, die von der Welthandelsorganisation erlassen wurden, nicht ohne weiteres miteinander Handel treiben. Wenige Monate vor ihrem Treffen gründeten die drei Länder eine Gruppierung, die unter dem Namen IBSA bekannt wurde, um Fragen des geistigen Eigentums und des Handels zu erörtern und zu regeln, aber auch um die Länder des globalen Nordens mit deren ungerechten Forderung zu konfrontieren, dass die ärmeren Länder ihre Agrarsubventionen abschaffen sollten. Der Begriff der Süd-Süd-Kooperation bildete den Rahmen für diese Diskussionen.
Das Interesse an der Süd-Süd-Zusammenarbeit geht auf die 1940er Jahre zurück, als der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen sein erstes Programm für technische Hilfe zur Förderung des Handels zwischen den neuen postkolonialen Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika auflegte. Sechs Jahrzehnte später, zeitgleich mit der Gründung der IBSA, wurde dieser Gedanke mit dem »Tag der Vereinten Nationen für die Süd-Süd-Zusammenarbeit« am 19. Dezember 2004 gewürdigt. Zu dieser Zeit schufen die Vereinten Nationen auch die «Sondereinheit für die Süd-Süd-Zusammenarbeit» (zehn Jahre später, 2013, wurde diese Einrichtung in «Büro der Vereinten Nationen für Süd-Süd-Zusammenarbeit» umbenannt), die auf dem Abkommen von 1988 über das Globale System der Handelspräferenzen zwischen Entwicklungsländern aufbaute. Ab 2023 umfasst dieser Pakt 42 Mitgliedsstaaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen insgesamt vier Milliarden Menschen leben und die zusammen einen Markt von 16 Billionen US-Dollar (etwa 20 % der weltweiten Wareneinfuhren) haben. Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese seit langem bestehende Agenda zur Steigerung des Handels zwischen den Ländern des Südens die Vorgeschichte der BRICS bildet, die 2009 gegründet wurden und derzeit aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehen.
Das gesamte BRICS-Projekt dreht sich um die Frage, ob die Länder am unteren Ende des neokolonialen Systems durch gegenseitigen Handel und Zusammenarbeit aus diesem System ausbrechen können oder ob die größeren Länder (einschließlich der BRICS-Staaten) zwangsläufig Asymmetrien in Bezug auf Macht und Größe gegenüber den kleineren Ländern genießen und daher Ungleichheiten reproduzieren, anstatt sie zu überwinden. Unser jüngstes Dossier über die marxistische Dependenztheorie stellt jedes kapitalistische Projekt im Süden in Frage, das glaubt, sich durch den Import von Schulden und den Export billiger Rohstoffe irgendwie aus dem neokolonialen System befreien zu können. Trotz der Grenzen des BRICS-Projekts ist klar, dass die Zunahme des Süd-Süd-Handels und die Entwicklung von Institutionen des Südens (z. B. für die Entwicklungsfinanzierung) das neokoloniale System in Frage stellen, auch wenn sie es nicht sofort überwinden. Bei Tricontinental: Institute for Social Research haben wir die Entwicklungen und Widersprüche des BRICS-Projekts von Anfang an genau verfolgt und werden dies auch weiterhin tun.
In diesem Monat, vom 22. bis 24. August, findet in Johannesburg (Südafrika) der fünfzehnte BRICS-Gipfel statt. Dieses Treffen findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem zwei Mitglieder der Gruppe, Russland und China, vor einem neuen Kalten Krieg mit den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten stehen, während die anderen Mitglieder unter großen Druck geraten, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden. Nachfolgend finden Sie das Briefing Nr. 9, das in Zusammenarbeit mit No Cold War veröffentlicht wurde und einen kurzen, aber notwendigen Überblick über den bevorstehenden BRICS-Gipfel bietet.
Der fünfzehnte BRICS-Gipfel in Johannesburg hat das Potenzial, Geschichte zu schreiben. Die Staatsoberhäupter Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrikas werden zu ihrem ersten persönlichen Treffen seit dem Gipfeltreffen 2019 in Brasilia (Brasilien) zusammenkommen. Das Treffen findet achtzehn Monate nach dem Beginn des militärischen Konflikts in der Ukraine statt, der nicht nur die Spannungen zwischen den von den USA angeführten westlichen Mächten und Russland auf ein seit dem Kalten Krieg nicht mehr gekanntes Niveau gebracht hat, sondern auch die Unterschiede zwischen dem globalen Norden und Süden verschärft.
Die unipolare internationale Ordnung, die Washington und Brüssel dem Rest der Welt durch die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), das internationale Finanzsystem, die Kontrolle des Informationsflusses (sowohl in den traditionellen als auch in den sozialen Medien) und den wahllosen Einsatz einseitiger Sanktionen gegen eine wachsende Zahl von Ländern auferlegt haben, bekommt immer mehr Risse. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, hat es kürzlich so ausgedrückt: «Die Zeit nach dem Kalten Krieg ist vorbei. Der Übergang zu einer neuen globalen Ordnung ist im Gange».
In diesem globalen Kontext sind drei der wichtigsten Debatten auf dem Johannesburger Gipfel zu beachten:: (1) die mögliche Erweiterung der BRICS-Mitgliedschaft, (2) die Erweiterung der Mitgliedschaft der Neuen Entwicklungsbank (NDB) und (3) die Rolle der NDB bei der Schaffung von Alternativen zur Hegemonie des US-Dollars. Nach Angaben von Anil Sooklal, dem südafrikanischen Botschafter bei den BRICS, haben zweiundzwanzig Länder einen formellen Antrag auf Mitgliedschaft in der Gruppe gestellt (darunter Saudi-Arabien, Argentinien, Algerien, Mexiko und Indonesien), und weitere zwei Dutzend Länder haben ihr Interesse bekundet. Trotz zahlreicher zu bewältigender Herausforderungen werden die BRICS heute als wichtige treibende Kraft der Weltwirtschaft und insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklungen im globalen Süden angesehen.
BRICS heute
In der Mitte des letzten Jahrzehnts hatten die BRICS eine Reihe von Problemen. Mit der Wahl von Premierminister Narendra Modi in Indien (2014) und dem Staatsstreich gegen Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien (2016) wurden zwei der Mitgliedsländer der Gruppe von rechtsgerichteten, Washington wohlgesonnenen Regierungen geführt. Sowohl Indien als auch Brasilien zogen sich zurück. Die faktische Abwesenheit Brasiliens, das von Anfang an eine der wichtigsten treibenden Kräfte hinter den BRICS gewesen war, stellte einen erheblichen Verlust für die Konsolidierung der Gruppe dar. Diese Entwicklungen untergruben und behinderten die Fortschritte der NDB und der 2015 eingerichteten Vereinbarung über bedingte Reserven (Contingent Reserve Arrangement – CRA), die die bisher größte institutionelle Errungenschaft der BRICS darstellt. Obwohl die NDB einige Fortschritte gemacht hat, ist sie hinter ihren ursprünglichen Zielen zurückgeblieben. Bis heute hat die Bank Finanzierungen in Höhe von etwa 32,8 Mrd. USD genehmigt (tatsächlich wurde weniger als dieser Betrag ausgezahlt), während die CRA – die über 100 Mrd. USD zur Unterstützung von Ländern verfügt, die einen Mangel an US-Dollar in ihren internationalen Reserven haben und mit kurzfristigen Zahlungsbilanz- oder Liquiditätsproblemen konfrontiert sind – nie aktiviert wurde.
Die Entwicklungen der letzten Jahre haben dem BRICS-Projekt jedoch neuen Schwung verliehen. Die Entscheidungen Moskaus und Pekings, auf die Eskalation der Aggression im Neuen Kalten Krieg durch Washington und Brüssel zu reagieren, die Rückkehr von Luiz Inácio Lula da Silva zur Präsidentschaft Brasiliens im Jahr 2022 und die damit verbundene Ernennung von Dilma Rousseff zur Präsidentin des NDB sowie die relative Entfremdung Indiens und Südafrikas von den westlichen Mächten in unterschiedlichem Maße haben zu einem «frischen Wind» geführt, der das Gefühl der politischen Einheit in den BRICS wiederhergestellt zu haben scheint (trotz der ungelösten Spannungen zwischen Indien und China). Hinzu kommen das wachsende Gewicht der BRICS in der Weltwirtschaft und die verstärkte wirtschaftliche Interaktion zwischen ihren Mitgliedern. Im Jahr 2020 übertraf der weltweite Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der BRICS-Länder in Kaufkraftparität – 31,5 Prozent – den der Gruppe der Sieben (G7) – 30,7 Prozent, und es ist zu erwarten, dass dieser Abstand noch größer wird. Der bilaterale Handel zwischen den BRICS-Ländern ist ebenfalls stark gewachsen: Brasilien und China brechen jedes Jahr Rekorde und erreichten 2022 ein Volumen von 150 Milliarden US-Dollar; die russischen Exporte nach Indien verdreifachten sich von April bis Dezember 2022 im Vergleich zum Vorjahr und stiegen auf 32,8 Milliarden US-Dollar, während der Handel zwischen China und Russland von 147 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 190 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 anstieg, das entspricht fast 30 Prozent.
Was steht in Johannesburg zur Debatte?
Angesichts dieser dynamischen internationalen Situation und der Expansionswünsche stehen die BRICS vor einer Reihe von wichtigen Fragen:
Zum einen müssen konkrete Antworten für interessierte Antragsteller gefunden werden. Dann hat eine Erweiterung das Potenzial, das politische und wirtschaftliche Gewicht der BRICS zu erhöhen und schließlich auch andere regionale Plattformen, denen ihre Mitglieder angehören, zu stärken. Eine Erweiterung erfordert jedoch auch eine Entscheidung über die konkrete Form der Mitgliedschaft und erhöht die Komplexität der Konsensbildung, was die Gefahr birgt, dass die Entscheidungsfindung und die Initiativen langsamer vorankommen. Wie sollte mit diesen Fragen umgegangen werden?
Wie können die Finanzierungskapazitäten der NDB sowie ihre Koordinierung mit anderen Entwicklungsbanken des Globalen Südens und anderen multilateralen Banken verbessert werden? Und vor allem: Wie kann die NDB in Partnerschaft mit dem BRICS-Netzwerk von Think Tanks die Ausarbeitung einer neuen Entwicklungspolitik für den Globalen Süden befördern?
Da die BRICS-Mitgliedsländer über solide internationale Reserven verfügen (Südafrika hat etwas weniger), ist es unwahrscheinlich, dass sie die NDB in Anspruch nehmen müssen. Stattdessen könnte dieser Fonds bedürftigen Ländern eine Alternative zur politischen Erpressung durch den Internationalen Währungsfonds bieten, der von Entwicklungsländern im Gegenzug für Kredite verheerende Sparmaßnahmen verlangt.
Berichten zufolge erörtern die BRICS-Staaten die Schaffung einer Reservewährung, die Handel und Investitionen ohne die Verwendung des US-Dollars ermöglichen würde. Die Einführung einer solchen Währung könnte ein weiterer Schritt in den Bemühungen sein, Alternativen zum Dollar zu schaffen, aber es bleiben Fragen offen. Wie kann die Stabilität einer solchen Reservewährung gewährleistet werden? Wie kann sie mit neu geschaffenen, nicht auf dem Dollar basierenden Handelsmechanismen verbunden werden, wie z. B. die bilateralen Abkommen zwischen China und Russland, China und Brasilien, Russland und Indien und andere?
Wie können Zusammenarbeit und Technologietransfer die Reindustrialisierung von Ländern wie Brasilien und Südafrika unterstützen, insbesondere in strategischen Sektoren wie Biotechnologie, Informationstechnologie, künstliche Intelligenz und erneuerbare Energien, und gleichzeitig Armut und Ungleichheit bekämpfen und andere grundlegende Forderungen der Völker des Südens erfüllen?
Zu dem Treffen in Johannesburg wurden Staats- und Regierungschefs aus 71 Ländern des Globalen Südens eingeladen. Xi, Putin, Lula, Modi, Ramaphosa und Dilma haben viel zu tun, um diese Fragen zu beantworten und Fortschritte bei den dringenden Fragen der globalen Entwicklung zu erzielen.
Unser Institut verfolgt diese Entwicklungen weiterhin, weder in dem Glauben, dass das BRICS-Projekt die globale Rettung birgt, noch mit dem Zynismus, der es als nichts Neues abtut. Die Geschichte wird durch die Widersprüche in der Welt bewegt.
Wenn diese großen Länder des Südens in Johannesburg zusammenkommen, werden sie sich mit den enormen Ungleichheiten in Südafrika auseinandersetzen müssen. Diese Risse sind der Stoff für die Gedichte von Vonani Bila, deren Stimme aus Shirley Village (Limpopo) erklingt und uns an den langen Weg erinnert, der vor uns liegt, durch das BRICS-Projekt und darüber hinaus:
Wenn die Sonne sich zurückzieht
in den Soutpansberg,
zieht sich Giyani Block einen
einen schwarzen Kreuzotter-Mantel an;
ein Spiegel von Tod und Verzweiflung.
Ärzte und Krankenschwestern sind auf den Beinen.
Sie werden nicht ruhen, wenn der Streik der Arbeiter
seine wütende Flamme entzündet.
Sie stehen auf Zehenspitzen, schauen nach oben,
ringen mit dem gesichtslosen, schwanzlosen Ungeheuer.
Herzlichst,
Vijay