Zwei, drei, viele Saigons schaffen. Das ist die Losung.

Der dreiunddreißigste Newsletter (2021).

Malina Suli­man (Afgha­ni­stan), Mädchen im Eiswür­fel, 2013. 

Liebe Freund*innen

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am Sonn­tag, dem 15. August, floh der afgha­ni­sche Präsi­dent Ashraf Ghani aus seinem Land nach Usbe­ki­stan. Er ließ die Haupt­stadt Kabul zurück, die bereits in die Hände der vorrü­cken­den Tali­ban-Kräfte gefal­len war. Der ehema­lige Präsi­dent Hamid Karzai gab bekannt, dass er einen Koor­di­nie­rungs­rat mit Abdul­lah Abdul­lah, dem Leiter des Natio­na­len Versöh­nungs­ko­mi­tees, und dem Dschi­ha­dis­ten­füh­rer Gulbud­din Hekma­tyar gebil­det habe. Karzai rief die Tali­ban zur Beson­nen­heit auf, während sie in den Präsi­den­ten­pa­last in Kabul einzog und die Staats­füh­rung übernahm.

 

Karzai, Abdul­lah Abdul­lah und Hekma­tyar haben die Bildung einer natio­na­len Regie­rung gefor­dert. Dies kommt den Tali­ban entge­gen, da sie dann behaup­ten können, eine afgha­ni­sche Regie­rung und keine Tali­ban-Regie­rung zu sein. Tatsäch­lich werden aber die Tali­ban und ihr Anfüh­rer Mullah Bara­dar das Land leiten, während Karzai-Abdul­lah Abdul­lah-Hekma­tyar nur eine Augen­wi­sche­rei sind, um außen­ste­hende oppor­tu­nis­ti­sche Mächte zu beschwichtigen.

Shamsia Hassani (Afgha­ni­stan), Kabus («Albtraum»), 2021.

Der Einzug der Tali­ban in Kabul ist eine schwere Nieder­lage für die Verei­nig­ten Staa­ten. Wenige Monate nach­dem die USA 2001 ihren Krieg gegen die Tali­ban begon­nen hatten, verkün­dete US-Präsi­dent George W. Bush, dass «das Tali­ban-Regime zu Ende geht». Zwan­zig Jahre später ist nun das Gegen­teil der Fall. Doch diese Nieder­lage der Verei­nig­ten Staa­ten – nach Ausga­ben in Höhe von 2,261 Billio­nen Dollar und mindes­tens 241.000 Toten – ist ein schwa­cher Trost für das afgha­ni­sche Volk, das sich nun mit der harten Reali­tät der Tali­ban-Herr­schaft abfin­den muss. Seit ihrer Grün­dung in Paki­stan im Jahr 1994 ist in den Worten und Taten der Tali­ban im Laufe ihrer fast drei­ßig­jäh­ri­gen Geschichte nichts Fort­schritt­li­ches zu finden. Auch in dem zwan­zig­jäh­ri­gen Krieg, den die Verei­nig­ten Staa­ten gegen das afgha­ni­sche Volk geführt haben, ist nichts Fort­schritt­li­ches zu finden.

M. Mahdi Hamed (Afgha­ni­stan), Kabus («Albtraum»), 2015.

Am 16. April 1967 veröf­fent­lichte die kuba­ni­sche Zeit­schrift Tricon­ti­nen­tal einen Arti­kel von Che Guevara mit dem Titel «Zwei, drei, viele Viet­nams schaf­fen: Das ist unser Gebot». Guevara vertrat die Ansicht, dass der Druck auf das viet­na­me­si­sche Volk gemil­dert werden müsse, indem Gueril­la­kämpfe in ande­ren Ländern geführt würden. Acht Jahre später flohen die Verei­nig­ten Staa­ten aus Viet­nam, als US-Beamt*innen und ihre viet­na­me­si­schen Verbün­de­ten vom Dach des CIA-Gebäu­des in Saigon aus die Hubschrau­ber bestiegen.

 

Die Nieder­lage der USA in Viet­nam war Teil einer Reihe von Nieder­la­gen des Impe­ria­lis­mus: Portu­gal wurde im Jahr zuvor in Angola, Guinea-Bissau und Mosam­bik besiegt; Arbeiter*innen und Student*innen stürz­ten die thai­län­di­sche Dikta­tur und leite­ten damit einen drei­jäh­ri­gen Prozess ein, der 1976 im Student*innenaufstand gipfelte; in Afgha­ni­stan über­nah­men die Kommunist*innen während der Saur-Revo­lu­tion im April 1978 die Macht; das irani­sche Volk begann einen einjäh­ri­gen Prozess gegen den von den USA unter­stütz­ten Dikta­tor, den Schah von Iran, der zur Revo­lu­tion vom Januar 1979 führte; die sozia­lis­ti­sche Bewe­gung New Jewel Move­ment führte eine Revo­lu­tion auf dem klei­nen Insel­staat Grenada durch; im Juni 1979 dran­gen die Sandinist*innen in Mana­gua (Nica­ra­gua) ein und stürz­ten das von den USA unter­stützte Regime von Anasta­sio Somoza. Dies waren nur einige der vielen Saigons, der vielen Nieder­la­gen des Impe­ria­lis­mus und der vielen Siege – auf die eine oder andere Weise – der natio­na­len Befreiung.

 

Jeder dieser Vorstöße stand in einer ande­ren poli­ti­schen Tradi­tion und hatte ein ande­res Tempo. Die stärkste Massen­re­volte fand im Iran statt, obwohl sie nicht zu einer sozia­lis­ti­schen Dyna­mik, sondern zu einer kleri­ka­len Demo­kra­tie führte. Alle diese Länder sahen sich dem Zorn der Verei­nig­ten Staa­ten und ihrer Verbün­de­ten ausge­setzt, die nicht zulas­sen woll­ten, dass diese Expe­ri­mente – die größ­ten­teils sozia­lis­ti­scher Natur waren – sich entfal­ten konn­ten. In Thai­land wurde 1976 eine Mili­tär­dik­ta­tur geför­dert, in Afgha­ni­stan und Nica­ra­gua wurden Stell­ver­tre­ter­kriege ange­zet­telt, und der Irak wurde dafür bezahlt, im Septem­ber 1980 in den Iran einzu­mar­schie­ren. Die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten versuchte mit allen Mitteln, diesen Ländern die Souve­rä­ni­tät abzu­spre­chen und sie wieder voll­stän­dig zu unterwerfen.

 

Es folgte das Chaos. Es entstand entlang zwei Achsen: der Schul­den­krise und den Stell­ver­tre­ter­krie­gen. Nach­dem die block­freien Staa­ten 1974 in der Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen eine Reso­lu­tion zur Neuen Inter­na­tio­na­len Wirt­schafts­ord­nung (NIEO) verab­schie­det hatten, sahen sie sich von den west­lich domi­nier­ten Finanz­in­sti­tu­tio­nen, darun­ter dem Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds und dem US-Finanz­mi­nis­te­rium, unter Druck gesetzt. Diese Insti­tu­tio­nen stürz­ten die block­freien Staa­ten in eine tiefe Schul­den­krise; Mexiko zahlte 1982 seine Schul­den nicht mehr zurück und löste damit die bis heute andau­ernde Schul­den­krise der Drit­ten Welt aus. Darüber hinaus wurde nach dem Sieg der natio­na­len Befrei­ungs­kräfte in den 1970er Jahren eine neue Reihe von Stell­ver­tre­ter­krie­gen und Regime­wech­se­l­ope­ra­tio­nen einge­lei­tet, die die poli­ti­sche Lage in Afrika, Asien und Latein­ame­rika für zwei Gene­ra­tio­nen destabilisierten.

 

Wir haben die Zerstö­rung, die die west­li­che Poli­tik der 1970er Jahre ange­rich­tet hat, noch nicht überwunden.

Die Kalt­schnäu­zig­keit des Westens gegen­über Afgha­ni­stan  ist ein Ausdruck des Wesens der Konter­re­vo­lu­tion und des libe­ra­len Inter­ven­tio­nis­mus. US-Präsi­dent Jimmy Carter beschloss, die schlimms­ten Elemente der afgha­ni­schen Poli­tik­land­schaft mit immensen Mitteln zu unter­stüt­zen und mit Paki­stan und Saudi-Arabien zusam­men­zu­ar­bei­ten, um die Demo­kra­ti­sche Repu­blik Afgha­ni­stan (DRA) zu zerstö­ren, die von 1978 bis 1992 bestand (1987 in Repu­blik Afgha­ni­stan umbenannt).

 

Jahre nach dem Fall der Repu­blik Afgha­ni­stan traf ich mich mit Anahita Ratebzad, die Minis­te­rin in der ersten Regie­rung der DRA war, um sie über diese frühen Jahre zu befra­gen. «Wir sahen uns schwe­ren Heraus­for­de­run­gen gegen­über, sowohl inner­halb des Landes – durch dieje­ni­gen, die eine reak­tio­näre gesell­schaft­li­che Auffas­sung vertra­ten – als auch außer­halb des Landes – durch unsere Gegner in den Verei­nig­ten Staa­ten und Paki­stan», sagte sie. «Schon Monate nach unse­rem Amts­an­tritt 1978 wuss­ten wir, dass sich unsere Feinde zusam­men­ge­tan hatten, um uns zu unter­gra­ben und die Einfüh­rung von Demo­kra­tie und Sozia­lis­mus in Afgha­ni­stan zu verhin­dern». Ratebzad schlos­sen sich andere wich­tige weib­li­che Führungs­per­sön­lich­kei­ten wie Sultana Umayd, Suraya, Ruhafza Kamyar, Firouza, Dilara Mark, Profes­sor R. S. Siddi­qui, Fawji­yah Shah­sa­wari, Dr. Aziza, Shirin Afzal und Alamat Tolqun an – Namen, die längst verges­sen sind.

 

Es war Ratebzad, die in der Kabul New Times (1978) schrieb: «Die Privi­le­gien, die Frauen von Rechts wegen haben müssen, sind glei­che Bildung, Arbeits­platz­si­cher­heit, Gesund­heits­dienste und freie Zeit, um eine gesunde Gene­ra­tion für den Aufbau der Zukunft des Landes heran­zu­zie­hen … Die Bildung und Aufklä­rung von Frauen ist jetzt Gegen­stand der Aufmerk­sam­keit der Regie­rung». Die Hoff­nung von 1978 ist nun verloren.

 

Der Pessi­mis­mus geht nicht nur auf die Tali­ban zurück, sondern auch auf dieje­ni­gen, die die tali­ban­ähn­li­chen theo­kra­ti­schen Faschis­ten finan­ziert und unter­stützt haben, wie die USA, Saudi-Arabien, Deutsch­land und Paki­stan. Im Staub des US-Krie­ges, der 2001 begann, wurden Frauen wie Anahita Ratebzad unter den Teppich gekehrt; es passte den USA, die afgha­ni­schen Frauen darzu­stel­len, als seien sie unfä­hig, sich selbst zu helfen, und bräuch­ten deshalb US-Bombar­de­ments und außer­ge­richt­li­che Auslie­fe­run­gen nach Guan­ta­namo. Es kam den USA auch gele­gen, ihre akti­ven Verbin­dun­gen zu den schlimms­ten Theo­kra­ten und Frau­en­has­sern (Leute wie Hekma­tyar, die sich nicht von den Tali­ban unter­schei­den) zu leugnen.

Latif Eshraq (Afgha­ni­stan), Fark­hunda, 2017.

Die USA finan­zier­ten die Mudscha­he­din, unter­gru­ben die DRA, führ­ten die wider­wil­lige sowje­ti­sche Inter­ven­tion über den Amudarja herbei und erhöh­ten dann den Druck auf die Sowjets und die DRA, indem sie die konter­re­vo­lu­tio­nä­ren afgha­ni­schen Kräfte und die paki­sta­ni­sche Mili­tär­dik­ta­tur zu Schach­fi­gu­ren in einem Kampf gegen die UdSSR mach­ten. Der Rück­zug der Sowjet­union und der Zusam­men­bruch der DRA verschlim­merte die Lage und führte zu einem bluti­gen Bürger­krieg, aus dem die Tali­ban hervor­gin­gen. Der Krieg der USA gegen die Tali­ban dauerte zwan­zig Jahre, endete aber – trotz der über­le­ge­nen Mili­tär­tech­no­lo­gie der Verei­nig­ten Staa­ten – mit der Nieder­lage der USA.

 

Stellt euch vor, die USA hätten die Mudscha­he­din nicht unter­stützt und die Afghan*innen hätten eine sozia­lis­ti­sche Zukunft in Betracht ziehen können! Dies wäre ein Kampf mit seinen eige­nen Irrun­gen und Wirrun­gen gewe­sen, aber er hätte mit Sicher­heit zu etwas Besse­rem geführt als dem, was wir jetzt haben: die Rück­kehr der Tali­ban, das Auspeit­schen von Frauen in der Öffent­lich­keit und die Durch­set­zung der schlimms­ten gesell­schaft­li­chen Vorschrif­ten. Stellt es euch vor.

Hamed Hass­anzada (Afgha­ni­stan), Völker­mord, 2012.

Heut­zu­tage geht die Nieder­lage der US-Macht nicht unbe­dingt mit der Möglich­keit einher, Souve­rä­ni­tät auszu­üben und eine sozia­lis­ti­sche Agenda voran­zu­trei­ben. Viel­mehr geht sie einher mit Chaos und Leid. Haiti gehört wie Afgha­ni­stan zu den Trüm­mern des US-Inter­ven­tio­nis­mus, geplagt von zwei US-Putschen, einer Beset­zung des poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Lebens des Landes und nun von einem weite­ren Erdbe­ben. Die Nieder­lage in Afgha­ni­stan erin­nert uns auch an die Nieder­lage der USA im Irak (2011); beide Länder waren mit einer gewal­ti­gen US-Mili­tär­macht konfron­tiert, ließen sich aber nicht unterwerfen.

 

All dies verdeut­licht sowohl die Wut der US-Kriegs­ma­schi­ne­rie, die in der Lage ist, Länder zu zerstö­ren, als auch die Schwä­che der US-Macht, die nicht in der Lage ist, die Welt nach ihrem Vorbild zu gestal­ten. Afgha­ni­stan und Irak haben über Hunderte von Jahren staat­li­che Projekte aufge­baut. Die USA haben ihre Staa­ten an einem Nach­mit­tag zerstört.

 

Der letzte links­ge­rich­tete Präsi­dent Afgha­ni­stans, Moham­med Naji­bullah, hatte in den 1980er Jahren versucht, eine Poli­tik der natio­na­len Versöh­nung aufzu­bauen. 1995 schrieb er an seine Fami­lie: «Afgha­ni­stan hat jetzt mehrere Regie­run­gen, die jeweils von verschie­de­nen regio­na­len Mäch­ten einge­setzt wurden. Selbst Kabul ist in kleine König­rei­che aufge­teilt … Solange alle Akteure [regio­nale und globale Mächte] nicht bereit sind, sich an einen Tisch zu setzen, ihre Diffe­ren­zen beiseite zu lassen, um einen echten Konsens über die Nicht­ein­mi­schung in Afgha­ni­stan zu erzie­len und sich an ihre Verein­ba­run­gen halten, wird der Konflikt weiter­ge­hen». Als die Tali­ban 1996 Kabul einnah­men, nahmen sie Präsi­dent Nadji­bullah gefan­gen und töte­ten ihn vor dem UN-Gebäude. Seine Toch­ter Heela erzählte mir einige Tage vor der Einnahme Kabuls durch die Tali­ban von ihrer Hoff­nung, dass die Poli­tik ihres Vaters nun über­nom­men werden würde.

 

Karzais Plädoyer geht in diese Rich­tung. Es ist unwahr­schein­lich, dass dieses von den Tali­ban wirk­lich aufge­nom­men wird.

Mahwish Chishty (Paki­stan), Sense, 2015.

Was wird die Tali­ban mäßi­gen? Viel­leicht der Druck seiner Nach­barn – darun­ter China –, die ein Inter­esse an einem stabi­len Afgha­ni­stan haben. Ende Juli traf Chinas Außen­mi­nis­ter Wang Yi in Tian­jin Bara­dar von den Tali­ban. Sie waren sich einig, dass die Poli­tik der USA geschei­tert war. Doch die Chine­sen forder­ten Bara­dar auf, prag­ma­tisch zu sein: den Terro­ris­mus nicht länger zu unter­stüt­zen und Afgha­ni­stan in die Neue-Seiden­straße-Initia­tive zu inte­grie­ren. Das ist derzeit die einzige Hoff­nung, aber diese ist sehr zerbrechlich.

 

Im Juli 2020 starb der ehema­lige DRA-Regie­rungs­mi­nis­ter und Dich­ter Sulai­man Layeq an den Wunden, die er im Jahr zuvor bei einem Bomben­an­schlag der Tali­ban in Kabul erlit­ten hatte. Layeqs Gedicht «Ewige Leiden­schaf­ten» (1959) beschreibt die Sehn­sucht nach jener ande­ren Welt, für deren Aufbau er und so viele andere gear­bei­tet hatten, ein Projekt, das durch die US-Inter­ven­tio­nen zunichte gemacht wurde:

 

der Klang der Liebe

strömte aus den Herzen

vulka­nisch, trunken

Jahre vergin­gen

und doch sind diese Sehnsüchte

wie Winde auf dem Schnee

oder wie Wellen auf dem Wasser

Schreie von Frauen, Wehklagen

 

Die Afghan*innen sind größ­ten­teils froh, die US-Besat­zung hinter sich zu lassen, zu einem weite­ren Saigon in einer langen Reihe zu werden. Aber dies ist kein Sieg für die Mensch­heit. Es wird nicht leicht für Afgha­ni­stan sein, aus diesen albtraum­haf­ten Jahr­zehn­ten heraus­zu­kom­men, aber die Sehn­sucht danach ist immer noch zu hören.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.