Können ärmere Länder den Kreislauf der Abhängigkeit durchbrechen, der seit hundert Jahren Leid verursacht?

Der zweiunddreißigste Newsletter (2023)

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Ende Juli habe ich zwei Sied­lun­gen der Land­lo­sen Landarbeiter*innen (MST) am Rande von São Paulo (Brasi­lien) besucht. Beide Sied­lun­gen sind nach muti­gen Frauen benannt, der brasi­lia­ni­schen Gesetz­ge­be­rin Mari­elle Franco – die 2018 ermor­det wurde – und Irmã Alberta – einer italie­ni­schen katho­li­schen Nonne, die 2018 starb. Das Land, auf denen die MST das Mari­elle Vive Camp und die Irmã Alberta Land Commune errich­tet hat, waren für eine Gated Commu­nity mit einem Golf­platz bzw. eine Müll­de­po­nie bestimmt. Auf der Grund­lage der sozia­len Verpflich­tun­gen zur Land­nut­zung in der brasi­lia­ni­schen Verfas­sung von 1988 mobi­li­sierte die MST land­lose Arbeiter*innen, um diese Gebiete zu beset­zen, ihre eige­nen Häuser, Schul­häu­ser und Gemein­schafts­kü­chen zu bauen und biolo­gi­sche Lebens­mit­tel anzubauen.

 

Jede dieser MST-Einrich­tun­gen ist ein Hoff­nungs­schim­mer für die einfa­chen Menschen, die sich sonst in den neoko­lo­nia­len Struk­tu­ren des heuti­gen Kapi­ta­lis­mus über­flüs­sig fühlen. Die MST ist in der brasi­lia­ni­schen Legis­la­tive einem konzer­tier­ten Angriff ausge­setzt, ange­trie­ben von den Inter­es­sen der Agro­busi­ness-Eliten, die verhin­dern wollen, dass 500.000 Fami­lien eine echte Alter­na­tive für die Arbei­ter­klasse und die Bauern­schaft aufbauen können. «Wenn die Elite Land sieht, sieht sie Geld», sagte mir Wilson Lopes von der MST bei Mari­elle Vive. «Wenn wir Land sehen», sagte er, «sehen wir die Zukunft des Volkes«.

 

In großen Teilen der Welt ist es Menschen oft unmög­lich, sich eine Zukunft vorzu­stel­len. Die Hunger­ra­ten stei­gen, und dieje­ni­gen, die Zugang zu Nahrungs­mit­teln haben, können sich oft nur unge­sund ernäh­ren. Familienlandwirt*innen wie die in den MST-Sied­lun­gen liefern mehr als ein Drit­tel der welt­wei­ten Nahrungs­mit­tel (wert­mä­ßig mehr als 80 %), und dennoch ist es für sie fast unmög­lich, Zugang zu land­wirt­schaft­li­chen Betriebs­mit­teln, vor allem Wasser, und vernünf­ti­gen Kredi­ten zu erhal­ten. Die MST ist der größte Produ­zent von Bio-Reis in Latein­ame­rika. Der Druck der Bret­ton-Woods-Insti­tu­tio­nen (IWF und Welt­bank) sowie der Geschäfts­ban­ken und Entwick­lungs­agen­tu­ren zwingt die Länder zu «Moder­ni­sie­rungs­maß­nah­men», die den  eigent­li­chen Umstän­den zuwi­der­läuft. Diese «Moder­ni­sie­rungs­po­li­tik» wurde, wie wir in unse­rem Dossier Nr. 66 gezeigt haben, in den 1950er Jahren ohne korrek­tes Verständ­nis der globa­len neoko­lo­nia­len Struk­tu­ren entwor­fen: Sie gingen davon aus, dass die Länder sich «moder­ni­sie­ren» könn­ten, wenn sie sich Geld leihen, ihren Export­sek­tor für Rohstoffe stär­ken und Fertig­wa­ren aus dem Westen impor­tie­ren würden.

Bei unse­rem Rund­gang durch die MST-Sied­lung erzähl­ten uns die Bewoh­ne­rin­nen Cintia Zapa­roli, Dieny Silva und Raimunda de Jesus Santos, wie sehr die Gemein­schaft um den Zugang zu Strom und Wasser kämpft – soziale Güter, die ohne groß ange­legte Maßnah­men nicht einfach zu produ­zie­ren sind. Sie sind kein Einzel­fall: Zwei Milli­ar­den Menschen auf der Welt haben keinen unge­hin­der­ten Zugang zu saube­rem Trink­was­ser. Keine dieser Güter können aus dem Hut gezau­bert werden; sie erfor­dern komplexe Insti­tu­tio­nen, und in unse­rer moder­nen Welt ist der Staat die wich­tigste dieser Insti­tu­tio­nen. Die meis­ten Staa­ten werden jedoch durch exter­nen Druck daran gehin­dert, entspre­chend den Bedürf­nis­sen ihrer Bürger*innen zu handeln. Dieser Druck von außen verei­telt eine Wirt­schafts­po­li­tik, die der Gesell­schaft mehr nützen würde als dem Privat­ka­pi­tal und den reichen Anlei­he­gläu­bi­gern, die an erster Stelle stehen, um den immensen gesell­schaft­li­chen Reich­tum abzu­schöp­fen, der in den ärme­ren Ländern produ­ziert wird.

 

Keines dieser Probleme ist neu. Für Latein­ame­rika lässt sich die gegen­wär­tige Unter­drü­ckung staat­li­cher Projekte zur Verbes­se­rung der sozia­len Lage der Bevöl­ke­rung auf die Chapul­te­pec-Konfe­renz von 1945 in Mexiko-Stadt zurück­füh­ren. Der mexi­ka­ni­sche Außen­mi­nis­ter Ezequiel Padilla erklärte auf der Konfe­renz, dass es «für Amerika lebens­wich­tig sei, mehr zu tun als Rohstoffe zu produ­zie­ren und in einem Zustand des Halb­ko­lo­nia­lis­mus zu leben». Die in der Hemi­sphäre leben­den Menschen müss­ten die Möglich­keit haben, alle notwen­di­gen Instru­mente – einschließ­lich Zöllen und Subven­tio­nen – zu nutzen, um Indus­trien in der Region aufzu­bauen. US-Außen­mi­nis­ter Dean Ache­son war entsetzt über diese Haltung und erklärte der vene­zo­la­ni­schen Dele­ga­tion, dass es «kurz­sich­tig» gewe­sen sei, «nach dem Ersten Welt­krieg und in den frühen drei­ßi­ger Jahren die Zölle zu erhö­hen und den Handel durch Einfuhr- und andere Kontrol­len zu beschrän­ken». Die USA legten eine Reso­lu­tion vor, in der sie alle latein­ame­ri­ka­ni­schen Staa­ten auffor­der­ten, sich für die Besei­ti­gung des wirt­schaft­li­chen Natio­na­lis­mus in all seinen Formen einzu­set­zen, einschließ­lich der Ausübung der wirt­schaft­li­chen Souve­rä­ni­tät gegen­über den von multi­na­tio­na­len Unter­neh­men erlang­ten Vortei­len. Diese Agenda besagte, dass die ersten Nutz­nie­ßer der Ressour­cen eines Landes US-Inves­to­ren sein sollten.

Im Anschluss an die Konfe­renz von Chapul­te­pec entwi­ckelte sich eine wich­tige Denk­rich­tung, die heute als «Depen­denz­theo­rie» bekannt ist. Sie beschreibt ein neoko­lo­nia­les Umfeld, in dem die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung in den Ländern der «Peri­phe­rie» nicht statt­fin­den kann, da ihre Wirt­schafts­leis­tung so struk­tu­riert ist, dass sie den Ländern der «Kern­zone» zugu­te­kommt, wodurch eine Situa­tion entsteht, die Andre Gunder Frank als «Entwick­lung der Unter­ent­wick­lung» bezeich­nete. Unser Dossier Nr. 67Depen­dency and Super-Explo­ita­tion: The Rela­ti­onship Between Foreign Capi­tal and Social Strug­gles in Latin America (August 2023) – nimmt den hunderts­ten Geburts­tag eines der wich­tigs­ten marxis­ti­schen Intel­lek­tu­el­len Brasi­li­ens, Ruy Mauro Marini (1932–1997), zum Anlass, eine eigene marxis­ti­sche Sicht­weise aus der Drit­ten Welt auf diese Tradi­tion der «Abhän­gig­keits­theo­rie» für unsere heutige Zeit zu skiz­zie­ren. Der Text wurde vom brasi­lia­ni­schen Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch in Zusam­men­ar­beit mit Profes­sor Renata Couto Moreira von der Forschungs­gruppe für marxis­ti­sche Studien der Depen­denz­theo­rie in Latein­ame­rika – Anatá­lia de Melo Coll­ec­tive der Bundes­uni­ver­si­tät von Espí­rito Santo (UFES) entwickelt.

 

Unsere Kern­punkte finden sich in diesen Sätzen:

 

Der Ursprung der Unter­ent­wick­lung liegt nicht in der indus­tri­el­len Rück­stän­dig­keit der einzel­nen Volks­wirt­schaf­ten, sondern im histo­ri­schen Prozess und in der Art und Weise, wie die Länder Latein­ame­ri­kas durch die Kolo­ni­sie­rung durch Europa in den Welt­markt einge­glie­dert wurden, und dann durch die inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen, denen diese Länder unter­wor­fen waren und die nach ihrer poli­ti­schen Unab­hän­gig­keit durch die wirt­schaft­li­che Abhän­gig­keit vom Diktat der Arbeits­tei­lung im globa­len Kapi­ta­lis­mus fort­ge­setzt wurden.

 

Die Länder Latein­ame­ri­kas, aber auch Afri­kas und Asiens, entwi­ckel­ten sich in der Zeit nach dem Zwei­ten Welt­krieg zu Anhäng­seln eines Welt­sys­tems, das sie weder defi­nie­ren noch kontrol­lie­ren konn­ten. Wie zu Zeiten des Hoch­ko­lo­nia­lis­mus wurden aus diesen Ländern unver­ar­bei­tete Rohstoffe expor­tiert, um wert­volle Devi­sen zu erwirt­schaf­ten, die zum Kauf teurer Fertig­pro­dukte und Ener­gie verwen­det wurden. Der unglei­che Austausch führte zu einer fast perma­nen­ten Verschlech­te­rung der «Terms of Trade», wie Raúl Prebisch und Hans Singer bereits in den 1940er Jahren gezeigt hatten und wie in den 2000er Jahren erneut bestä­tigt wurde. Die Struk­tur der Ungleich­heit beruhte nicht nur auf den Handels­be­din­gun­gen, wie Prebisch und die libe­ra­le­ren Abhängigkeits-Theoretiker*innen sie verstan­den, sondern vor allem auf den globa­len sozia­len Produktionsbeziehungen.

 

In den Regio­nen des Südens werden die Löhne durch eine Viel­zahl von Mecha­nis­men nied­rig gehal­ten, wie ein Bericht der Inter­na­tio­na­len Arbeits­or­ga­ni­sa­tion aus dem Jahr 2012 zeigt. Unglei­che Löhne über inter­na­tio­nale Gren­zen hinweg werden oft rassis­tisch begrün­det, mit dem Argu­ment, dass ein Arbeitnehmer*inne in Indien beispiels­weise nicht die glei­chen Erwar­tun­gen an das Leben hat wie ein Arbeitnehmer*innen in Deutsch­land. Wenn Arbeitnehmer*innen im Süden weni­ger Lohn erhal­ten, bedeu­tet das nicht, dass sie nicht hart arbei­ten (auch wenn ihre Produk­ti­vi­tät aufgrund der gerin­ge­ren Mecha­ni­sie­rung und des weni­ger wissen­schaft­li­chen Manage­ments des Arbeits­plat­zes nied­ri­ger ist). Die marxis­ti­sche Depen­denz­theo­rie konzen­trierte sich auf diese «Super­aus­beu­tung» und wies auf die Mecha­nis­men von Subun­ter­neh­mern bei Arbeiter*innen hin, die es den reiche­ren Ländern ermög­li­chen, hohe mora­li­sche Stan­dards aufrecht­zu­er­hal­ten, während sie auf brutale Arbeits­be­din­gun­gen bauen, die die sozia­len Bezie­hun­gen in ärme­ren Ländern vergif­ten. Unsere Fest­stel­lung im Dossier ist eindeutig:

 

Die Super­aus­beu­tung der Arbeit*innen bezieht sich auf die verstärkte Ausbeu­tung der Arbeits­kräfte, die zu einer Mehr­wert­schöp­fung führt, die die histo­risch gewach­se­nen Gren­zen in den Kern­län­dern über­schrei­tet. Dies wird zu einem grund­le­gen­den Merk­mal des kapi­ta­lis­ti­schen Systems in unter­ent­wi­ckel­ten Volks­wirt­schaf­ten, da das auslän­di­sche Kapi­tal und die loka­len herr­schen­den Klas­sen von den nied­ri­gen Löhnen und prekä­ren Arbeits­be­din­gun­gen der Arbeitnehmer*innen sowie dem Fehlen von Arbeits­rech­ten profi­tie­ren und so ihre Gewinne und die Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion maxi­mie­ren. Dies trägt zur Repro­duk­tion der Abhän­gig­keit und Unter­ord­nung dieser Länder als Teil der inter­na­tio­na­len Ordnung bei.

 

Der Kreis­lauf der Abhän­gig­keit, so argu­men­tie­ren wir, muss durch zwei gleich­zei­tige und notwen­dige Maßnah­men durch­bro­chen werden: den Aufbau eines indus­tri­el­len Sektors durch aktive staat­li­che Inter­ven­tion und den Aufbau star­ker Arbei­ter­be­we­gun­gen, um die sozia­len Produk­ti­ons­ver­hält­nisse in Frage zu stel­len, die auf der Super­aus­beu­tung der Arbeit in den ärme­ren Regio­nen beruhen.

1965, ein Jahr nach dem von den USA unter­stütz­ten Putsch in Brasi­lien und während des von den USA initi­ier­ten Putsches in Indo­ne­sien, veröf­fent­lichte Ghanas Präsi­dent Kwame Nkru­mah (1909–1972) sein monu­men­ta­les Buch Neoko­lo­nia­lis­mus: Das höchste Stadium des Impe­ria­lis­mus. In diesem Buch argu­men­tierte Nkru­mah, dass die neuen Natio­nen, die aus dem Kolo­nia­lis­mus hervor­ge­gan­gen waren, in der neoko­lo­nia­len Struk­tur der Welt­wirt­schaft gefan­gen blie­ben. Regie­run­gen in Ländern wie Ghana, die durch den Kolo­nia­lis­mus verarmt waren, muss­ten ihre ehema­li­gen Kolo­ni­al­her­ren und «ein Konsor­tium von Finanz­in­ter­es­sen» um Kredite bitten, um die grund­le­gen­den Aufga­ben der Regie­rung zu erfül­len, ganz zu schwei­gen von den sozia­len Bedürf­nis­sen ihrer Bevöl­ke­rung. Die Kredit­ge­ber hätten «die Ange­wohn­heit, poten­zi­elle Kredit­neh­mer zu zwin­gen, sich verschie­de­nen anstö­ßi­gen Bedin­gun­gen zu unter­wer­fen, wie z. B. Infor­ma­tio­nen über ihre Volks­wirt­schaf­ten zu liefern, ihre Poli­tik und ihre Pläne der Über­prü­fung durch die Welt­bank zu unter­zie­hen und die Über­wa­chung ihrer Kredite durch die Agen­tur zu akzep­tie­ren». Diese Inter­ven­tion, die durch das Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramm des IWF noch vertieft wurde, ließ einfach keinen Spiel­raum zu.

 

Neoko­lo­nia­lis­mus wurde breit rezen­siert, unter ande­rem in einem gehei­men Memo­ran­dum vom 8. Novem­ber 1965 von Richard Helms, dem stell­ver­tre­ten­den Direk­tor der Central Intel­li­gence Agency (CIA) der USA. Helms nahm Anstoß an den direk­ten Angrif­fen gegen den Impe­ria­lis­mus in dem Buch. Im Februar 1966 wurde Nkru­mah durch einen von den USA unter­stütz­ten Staats­streich aus dem Amt entfernt. Das ist der Preis, der für die Aufde­ckung der neoko­lo­nia­len Struk­tur der Welt und den Kampf für struk­tu­relle Verän­de­run­gen zu zahlen ist. Das ist der Preis, den der Westen dem Volk von Niger aufer­le­gen will, das beschlos­sen hat, dass es nicht länger hinneh­men will, dass sein Reich­tum von den Fran­zo­sen ausge­saugt wird und dass die USA einen großen mili­tä­ri­schen Fußab­druck in seinem Land haben. Können die Menschen in Niger und auch gene­rell in der Sahel­zone den Kreis­lauf der Abhän­gig­keit durch­bre­chen, der seit über hundert Jahren Leid verursacht?

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.