Können wir mal wie Erwachsene über China sprechen? 

Der zweiunddreißigste Newsletter (2022)

Wang Bingxiu vom Shuan­glang Farmer Pain­ting Club (Auto­nome Präfek­tur Dali Bai, China), Ohne Titel, 2018.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Als die US-ameri­ka­ni­sche Parla­ments­prä­si­den­tin Nancy Pelosi in Taipeh eintraf, hiel­ten die Menschen auf der ganzen Welt den Atem an. Ihr Besuch war ein Akt der Provo­ka­tion. Im Dezem­ber 1978 erkannte die US-Regie­rung – nach einem Beschluss der Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen aus dem Jahr 1971 – die Volks­re­pu­blik China an und setzte ihre frühe­ren vertrag­li­chen Verpflich­tun­gen gegen­über Taiwan außer Kraft. Trotz­dem unter­zeich­nete US-Präsi­dent Jimmy Carter den Taiwan Rela­ti­ons Act (1979), der es US-Beamt*innen ermög­lichte, enge Kontakte zu Taiwan aufrecht­zu­er­hal­ten, auch durch den Verkauf von Waffen. Diese Entschei­dung ist bemer­kens­wert, da Taiwan von 1949 bis 1987 unter Kriegs­recht stand und einen regel­mä­ßi­gen Waffen­lie­fe­ran­ten benötigte.

 

Pelo­sis Reise nach Taipeh war Teil der anhal­ten­den Provo­ka­tion Chinas durch die USA. Diese Kampa­gne umfasst den «pivot to Asia» des ehema­li­gen Präsi­den­ten Barack Obama, den «Handels­krieg» des ehema­li­gen Präsi­den­ten Donald Trump, die Schaf­fung von Sicher­heits­part­ner­schaf­ten, die Quad und AUKUS, sowie die schritt­weise Umwand­lung der NATO in ein Werk­zeug gegen China. Diese Agenda setzt sich mit Präsi­dent Joe Bidens Einschät­zung fort, dass China geschwächt werden muss, da es der «einzige Konkur­rent ist, der poten­zi­ell in der Lage ist, durch die Kombi­na­tion seiner wirt­schaft­li­chen, diplo­ma­ti­schen, mili­tä­ri­schen und tech­no­lo­gi­schen Macht eine nach­hal­tige Heraus­for­de­rung» für das von den USA domi­nierte Welt­sys­tem darzustellen.

 

China hat seine mili­tä­ri­sche Macht nicht einge­setzt, um Pelosi und andere führende Vertreter*innen des US-Kongres­ses an der Reise nach Taipeh zu hindern. Bei ihrer Abreise kündigte die chine­si­sche Regie­rung jedoch an, die Zusam­men­ar­beit mit den USA in acht Schlüs­sel­be­rei­chen einzu­stel­len, darun­ter auch die Been­di­gung des mili­tä­ri­schen Austauschs und die Ausset­zung der zivi­len Zusam­men­ar­beit in einer Reihe von Fragen, wie etwa dem Klima­wan­del. Das ist es, was Pelo­sis Reise bewirkt hat: mehr Konfron­ta­tion, weni­ger Kooperation.

 

In der Tat wird jede*r, der sich für eine stär­kere Zusam­men­ar­beit mit China einsetzt, in den west­li­chen Medien sowie in mit dem Westen verbün­de­ten Medien des Globa­len Südens als «Agent*in» Chinas oder als Förderer*in von «Desin­for­ma­tion» verun­glimpft. Ich habe auf einige dieser Anschul­di­gun­gen in der südafri­ka­ni­schen Sunday Times vom 7. August 2022 geant­wor­tet. Der Rest dieses News­let­ters gibt diesen Arti­kel wieder.

Ghazi Ahmet (Auto­nome Region Xinjiang-Uigu­rien, China), Muqam, 1984.

Eine neue Art von Wahn­sinn durch­dringt den globa­len poli­ti­schen Diskurs, ein gifti­ger Nebel, der die Vernunft erstickt. Dieser Nebel, der sich über lange Zeit aus alten, häss­li­chen Vorstel­lun­gen von weißer Vorherr­schaft und west­li­cher Über­le­gen­heit formte, trübt unser Verständ­nis von Mensch­lich­keit. Die allge­meine Krank­heit, die daraus resul­tiert, ist ein tiefes Miss­trauen und ein Hass auf China, und zwar nicht nur auf die derzei­tige Führung oder gar das chine­si­sche poli­ti­sche System, sondern auf das gesamte Land und die chine­si­sche Zivi­li­sa­tion – ein Hass auf so ziem­lich alles, was mit China zu tun hat.

 

Dieser Wahn­sinn hat es unmög­lich gemacht, ein Gespräch unter Erwach­se­nen über China zu führen. Worte und Ausdrü­cke wie «auto­ri­tär« und «Völker­mord» werden in den Raum gewor­fen, ohne sich um die Fakten zu kümmern. China ist ein Land mit 1,4 Milli­ar­den Einwohner*innen, eine uralte Zivi­li­sa­tion, die wie ein Groß­teil des Globa­len Südens ein Jahr­hun­dert lang gede­mü­tigt wurde, in diesem Fall von den seitens der Briten ange­zet­tel­ten Opium­krie­gen (die 1839 began­nen) bis zur chine­si­schen Revo­lu­tion von 1949, als der Führer Mao Zedong nach­drück­lich verkün­dete, das chine­si­sche Volk habe sich erho­ben. Seit­dem hat sich die chine­si­sche Gesell­schaft tief­grei­fend verän­dert, indem sie ihren sozia­len Reich­tum nutzte, um die uralten Probleme wie Hunger, Analpha­be­tis­mus, Mutlo­sig­keit und Patri­ar­chat zu bekämp­fen. Wie bei allen sozia­len Expe­ri­men­ten gab es auch hier große Probleme, aber die sind bei jeder kollek­ti­ven mensch­li­chen Akti­vi­tät zu erwar­ten. Anstatt China mit seinen Erfol­gen und Wider­sprü­chen zu sehen, versucht dieser Wahn­sinn unse­rer Zeit, China auf eine orien­ta­lis­ti­sche Kari­ka­tur zu redu­zie­ren – einen auto­ri­tä­ren Staat mit einer völker­mör­de­ri­schen Agenda, der die Welt­herr­schaft anstrebt.

 

Dieser Wahn­sinn hat seinen Ausgangs­punkt eindeu­tig in den Verei­nig­ten Staa­ten, deren herr­schende Eliten sich durch die Fort­schritte der Chines*innen – insbe­son­dere in den Berei­chen Robo­tik, Tele­kom­mu­ni­ka­tion, Hoch­ge­schwin­dig­keits­zug­net­zen und Compu­ter­tech­no­lo­gie – stark bedroht fühlen. Diese Fort­schritte stel­len eine exis­ten­zi­elle Bedro­hung für west­li­che Unter­neh­men dar, die seit langem die Vorteile genie­ßen, die sie aus jahr­hun­der­te­lan­gem Kolo­nia­lis­mus und aus der Zwangs­ja­cke der Gesetze für geis­ti­ges Eigen­tum gewon­nen haben. Die Angst vor der eige­nen Schwä­che und der Einbin­dung Euro­pas in die eura­si­schen Wirt­schafts­ent­wick­lun­gen hat den Westen dazu veran­lasst, den Infor­ma­ti­ons­krieg gegen China vom Zaun zu brechen.

 

Diese ideo­lo­gi­sche Flut­welle unter­gräbt unsere Fähig­keit, ernst­hafte, ausge­wo­gene Gesprä­che über Chinas Rolle in der Welt zu führen. West­li­che Länder, die auf eine lange Geschichte des bruta­len Kolo­nia­lis­mus in Afrika zurück­bli­cken, pran­gern nun regel­mä­ßig an, was sie als chine­si­schen Kolo­nia­lis­mus in Afrika bezeich­nen, ohne ihre eigene Vergan­gen­heit oder die tief veran­kerte fran­zö­si­sche und US-ameri­ka­ni­sche Mili­tär­prä­senz auf dem Konti­nent anzu­er­ken­nen. Der Vorwurf des «Völker­mords» wird immer gegen die dunk­le­ren Völker der Welt erho­ben – ob in Darfur oder in Xinjiang –, aber nie gegen die USA, deren ille­ga­ler Krieg gegen den Irak allein zum Tod von über einer Million Menschen geführt hat. Der vom Euro­zen­tris­mus durch­drun­gene Inter­na­tio­nale Straf­ge­richts­hof klagt eine*n afrikanische*n Machthaber*in nach dem*der ande­ren wegen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit an, hat aber noch nie eine*n westliche*n Führer*in für deren endlose Angriffs­kriege angeklagt.

Dedron (Auto­nome Region Tibet, China), Ohne Titel, 2013.

Der Nebel des Neuen Kalten Krie­ges umhüllt uns heute. Kürz­lich wurde ich im Daily Maverick und in der Mail & Guar­dian beschul­digt, «chine­si­sche und russi­sche Propa­ganda» zu verbrei­ten und enge Verbin­dun­gen zum chine­si­schen Partei­staat zu unter­hal­ten. Worauf stüt­zen sich diese Behauptungen?

 

Erstens versu­chen Vertreter*innen west­li­cher Geheim­dienste, jede abwei­chende Meinung gegen den west­li­chen Angriff auf China als Desin­for­ma­tion und Propa­ganda zu brand­mar­ken. In meinem Bericht aus Uganda vom Dezem­ber 2021 wurde beispiels­weise die falsche Behaup­tung entlarvt, dass ein chine­si­sches Darle­hen an das Land darauf abzielte, den einzi­gen inter­na­tio­na­len Flug­ha­fen des Landes als Teil eines bösar­ti­gen «Schul­den­fal­len­pro­jekts» zu über­neh­men – eine Darstel­lung, die auch von führen­den US-Wissenschaftler*innen wieder­holt wider­legt wurde. In Gesprä­chen mit ugan­di­schen Regie­rungs­ver­tre­tern und öffent­li­chen Erklä­run­gen von Finanz­mi­nis­ter Matia Kasaija stellte ich jedoch fest, dass das Abkom­men vom Staat nur verstan­den wurde, von einer Beschlag­nah­mung des inter­na­tio­na­len Flug­ha­fens Entebbe jedoch keine Rede war. Obwohl die gesamte Bloom­berg-Bericht­erstat­tung über diesen Kredit auf einer Lüge beruhte, wurden die Journalist*innen nicht als «Wasser­trä­ger Washing­tons» ange­pran­gert. Das ist die Macht des Informationskriegs.

 

Zwei­tens gibt es Behaup­tun­gen über meine angeb­li­chen Verbin­dun­gen zur Kommu­nis­ti­schen Partei Chinas, die auf der einfa­chen Tatsa­che beru­hen, dass ich mich mit chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len austau­sche und eine unbe­zahlte Posi­tion am Chon­gyang-Insti­tut für Finanz­stu­dien an der Renmin-Univer­si­tät, einer bekann­ten Denk­fa­brik mit Sitz in Peking, inne­habe. Viele der südafri­ka­ni­schen Publi­ka­tio­nen, die diese unglaub­li­chen Behaup­tun­gen aufge­stellt haben, werden aller­dings in erster Linie von George Soros’ Open Society Foun­da­ti­ons finan­ziert. Soros hat den Namen seiner Stif­tung von Karl Poppers Buch The Open Society and Its Enemies (1945) abge­lei­tet, in dem Popper das Prin­zip der «unbe­grenz­ten Tole­ranz» entwi­ckelte. Popper plädierte für ein Höchst­maß an Dialog und dafür, dass Meinun­gen, die der eige­nen wider­spre­chen, «mit ratio­na­len Argu­men­ten» begeg­net werden sollte. Wo sind hier die ratio­na­len Argu­mente, in einer Verleum­dungs­kam­pa­gne, die besagt, dass der Dialog mit chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len quasi tabu ist, aber Gesprä­che mit US-Regierungsvertreter*innen voll­kom­men akzep­ta­bel sind? Welches Ausmaß an zivi­li­sa­to­ri­scher Apart­heid wird hier erzeugt, wenn Libe­rale in Südafrika mehr einen «Kampf der Kultu­ren» als einen «Dialog zwischen den Kultu­ren» fördern?

 

Die Länder des Globa­len Südens können viel von Chinas sozia­lis­ti­schen Expe­ri­men­ten lernen. Die Besei­ti­gung der extre­men Armut während der Pande­mie – eine von den Verein­ten Natio­nen gefei­erte Errun­gen­schaft – kann uns lehren, wie wir ähnlich hart­nä­ckige Probleme in unse­ren eige­nen Ländern ange­hen können (aus diesem Grund hat das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch eine detail­lierte Studie über die Metho­den veröf­fent­lich, die China einge­setzt hat, um dieses Kunst­stück zu voll­brin­gen). Kein Land der Welt ist perfekt, und keines ist über Kritik erha­ben. Aber eine para­no­ide Haltung gegen­über einem Land zu entwi­ckeln und zu versu­chen, es zu isolie­ren, ist gesell­schaft­lich gefähr­lich. Mauern müssen nieder­ge­ris­sen, nicht aufge­baut werden. Die USA provo­zie­ren einen Konflikt aufgrund ihrer eige­nen Ängste vor Chinas wirt­schaft­li­chen Fort­schrit­ten: Wir soll­ten uns nicht als nütz­li­che Idiot*innen einspan­nen lassen. Wir müssen ein vernünf­ti­ges Gespräch über China führen und nicht eines, das uns von mäch­ti­gen Inter­es­sen aufge­zwun­gen wird, die nicht unsere eige­nen sind.

Yang Guangqi vom Shuan­glang Farmer Pain­ting Club (Auto­nome Präfek­tur Dali Bai, China), Ohne Titel, 2018.

Mein Arti­kel in der Sunday Times geht nicht auf alle Fragen ein, die sich um den Konflikt zwischen den USA und China ranken. Er ist jedoch eine Einla­dung zum Dialog. Wenn ihr Meinun­gen zu diesen Themen habt, schreibt uns.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.