Können wir mal wie Erwachsene über China sprechen?
Der zweiunddreißigste Newsletter (2022)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Als die US-amerikanische Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi in Taipeh eintraf, hielten die Menschen auf der ganzen Welt den Atem an. Ihr Besuch war ein Akt der Provokation. Im Dezember 1978 erkannte die US-Regierung – nach einem Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1971 – die Volksrepublik China an und setzte ihre früheren vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Taiwan außer Kraft. Trotzdem unterzeichnete US-Präsident Jimmy Carter den Taiwan Relations Act (1979), der es US-Beamt*innen ermöglichte, enge Kontakte zu Taiwan aufrechtzuerhalten, auch durch den Verkauf von Waffen. Diese Entscheidung ist bemerkenswert, da Taiwan von 1949 bis 1987 unter Kriegsrecht stand und einen regelmäßigen Waffenlieferanten benötigte.
Pelosis Reise nach Taipeh war Teil der anhaltenden Provokation Chinas durch die USA. Diese Kampagne umfasst den «pivot to Asia» des ehemaligen Präsidenten Barack Obama, den «Handelskrieg» des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, die Schaffung von Sicherheitspartnerschaften, die Quad und AUKUS, sowie die schrittweise Umwandlung der NATO in ein Werkzeug gegen China. Diese Agenda setzt sich mit Präsident Joe Bidens Einschätzung fort, dass China geschwächt werden muss, da es der «einzige Konkurrent ist, der potenziell in der Lage ist, durch die Kombination seiner wirtschaftlichen, diplomatischen, militärischen und technologischen Macht eine nachhaltige Herausforderung» für das von den USA dominierte Weltsystem darzustellen.
China hat seine militärische Macht nicht eingesetzt, um Pelosi und andere führende Vertreter*innen des US-Kongresses an der Reise nach Taipeh zu hindern. Bei ihrer Abreise kündigte die chinesische Regierung jedoch an, die Zusammenarbeit mit den USA in acht Schlüsselbereichen einzustellen, darunter auch die Beendigung des militärischen Austauschs und die Aussetzung der zivilen Zusammenarbeit in einer Reihe von Fragen, wie etwa dem Klimawandel. Das ist es, was Pelosis Reise bewirkt hat: mehr Konfrontation, weniger Kooperation.
In der Tat wird jede*r, der sich für eine stärkere Zusammenarbeit mit China einsetzt, in den westlichen Medien sowie in mit dem Westen verbündeten Medien des Globalen Südens als «Agent*in» Chinas oder als Förderer*in von «Desinformation» verunglimpft. Ich habe auf einige dieser Anschuldigungen in der südafrikanischen Sunday Times vom 7. August 2022 geantwortet. Der Rest dieses Newsletters gibt diesen Artikel wieder.
Eine neue Art von Wahnsinn durchdringt den globalen politischen Diskurs, ein giftiger Nebel, der die Vernunft erstickt. Dieser Nebel, der sich über lange Zeit aus alten, hässlichen Vorstellungen von weißer Vorherrschaft und westlicher Überlegenheit formte, trübt unser Verständnis von Menschlichkeit. Die allgemeine Krankheit, die daraus resultiert, ist ein tiefes Misstrauen und ein Hass auf China, und zwar nicht nur auf die derzeitige Führung oder gar das chinesische politische System, sondern auf das gesamte Land und die chinesische Zivilisation – ein Hass auf so ziemlich alles, was mit China zu tun hat.
Dieser Wahnsinn hat es unmöglich gemacht, ein Gespräch unter Erwachsenen über China zu führen. Worte und Ausdrücke wie «autoritär« und «Völkermord» werden in den Raum geworfen, ohne sich um die Fakten zu kümmern. China ist ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohner*innen, eine uralte Zivilisation, die wie ein Großteil des Globalen Südens ein Jahrhundert lang gedemütigt wurde, in diesem Fall von den seitens der Briten angezettelten Opiumkriegen (die 1839 begannen) bis zur chinesischen Revolution von 1949, als der Führer Mao Zedong nachdrücklich verkündete, das chinesische Volk habe sich erhoben. Seitdem hat sich die chinesische Gesellschaft tiefgreifend verändert, indem sie ihren sozialen Reichtum nutzte, um die uralten Probleme wie Hunger, Analphabetismus, Mutlosigkeit und Patriarchat zu bekämpfen. Wie bei allen sozialen Experimenten gab es auch hier große Probleme, aber die sind bei jeder kollektiven menschlichen Aktivität zu erwarten. Anstatt China mit seinen Erfolgen und Widersprüchen zu sehen, versucht dieser Wahnsinn unserer Zeit, China auf eine orientalistische Karikatur zu reduzieren – einen autoritären Staat mit einer völkermörderischen Agenda, der die Weltherrschaft anstrebt.
Dieser Wahnsinn hat seinen Ausgangspunkt eindeutig in den Vereinigten Staaten, deren herrschende Eliten sich durch die Fortschritte der Chines*innen – insbesondere in den Bereichen Robotik, Telekommunikation, Hochgeschwindigkeitszugnetzen und Computertechnologie – stark bedroht fühlen. Diese Fortschritte stellen eine existenzielle Bedrohung für westliche Unternehmen dar, die seit langem die Vorteile genießen, die sie aus jahrhundertelangem Kolonialismus und aus der Zwangsjacke der Gesetze für geistiges Eigentum gewonnen haben. Die Angst vor der eigenen Schwäche und der Einbindung Europas in die eurasischen Wirtschaftsentwicklungen hat den Westen dazu veranlasst, den Informationskrieg gegen China vom Zaun zu brechen.
Diese ideologische Flutwelle untergräbt unsere Fähigkeit, ernsthafte, ausgewogene Gespräche über Chinas Rolle in der Welt zu führen. Westliche Länder, die auf eine lange Geschichte des brutalen Kolonialismus in Afrika zurückblicken, prangern nun regelmäßig an, was sie als chinesischen Kolonialismus in Afrika bezeichnen, ohne ihre eigene Vergangenheit oder die tief verankerte französische und US-amerikanische Militärpräsenz auf dem Kontinent anzuerkennen. Der Vorwurf des «Völkermords» wird immer gegen die dunkleren Völker der Welt erhoben – ob in Darfur oder in Xinjiang –, aber nie gegen die USA, deren illegaler Krieg gegen den Irak allein zum Tod von über einer Million Menschen geführt hat. Der vom Eurozentrismus durchdrungene Internationale Strafgerichtshof klagt eine*n afrikanische*n Machthaber*in nach dem*der anderen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, hat aber noch nie eine*n westliche*n Führer*in für deren endlose Angriffskriege angeklagt.
Der Nebel des Neuen Kalten Krieges umhüllt uns heute. Kürzlich wurde ich im Daily Maverick und in der Mail & Guardian beschuldigt, «chinesische und russische Propaganda» zu verbreiten und enge Verbindungen zum chinesischen Parteistaat zu unterhalten. Worauf stützen sich diese Behauptungen?
Erstens versuchen Vertreter*innen westlicher Geheimdienste, jede abweichende Meinung gegen den westlichen Angriff auf China als Desinformation und Propaganda zu brandmarken. In meinem Bericht aus Uganda vom Dezember 2021 wurde beispielsweise die falsche Behauptung entlarvt, dass ein chinesisches Darlehen an das Land darauf abzielte, den einzigen internationalen Flughafen des Landes als Teil eines bösartigen «Schuldenfallenprojekts» zu übernehmen – eine Darstellung, die auch von führenden US-Wissenschaftler*innen wiederholt widerlegt wurde. In Gesprächen mit ugandischen Regierungsvertretern und öffentlichen Erklärungen von Finanzminister Matia Kasaija stellte ich jedoch fest, dass das Abkommen vom Staat nur verstanden wurde, von einer Beschlagnahmung des internationalen Flughafens Entebbe jedoch keine Rede war. Obwohl die gesamte Bloomberg-Berichterstattung über diesen Kredit auf einer Lüge beruhte, wurden die Journalist*innen nicht als «Wasserträger Washingtons» angeprangert. Das ist die Macht des Informationskriegs.
Zweitens gibt es Behauptungen über meine angeblichen Verbindungen zur Kommunistischen Partei Chinas, die auf der einfachen Tatsache beruhen, dass ich mich mit chinesischen Intellektuellen austausche und eine unbezahlte Position am Chongyang-Institut für Finanzstudien an der Renmin-Universität, einer bekannten Denkfabrik mit Sitz in Peking, innehabe. Viele der südafrikanischen Publikationen, die diese unglaublichen Behauptungen aufgestellt haben, werden allerdings in erster Linie von George Soros’ Open Society Foundations finanziert. Soros hat den Namen seiner Stiftung von Karl Poppers Buch The Open Society and Its Enemies (1945) abgeleitet, in dem Popper das Prinzip der «unbegrenzten Toleranz» entwickelte. Popper plädierte für ein Höchstmaß an Dialog und dafür, dass Meinungen, die der eigenen widersprechen, «mit rationalen Argumenten» begegnet werden sollte. Wo sind hier die rationalen Argumente, in einer Verleumdungskampagne, die besagt, dass der Dialog mit chinesischen Intellektuellen quasi tabu ist, aber Gespräche mit US-Regierungsvertreter*innen vollkommen akzeptabel sind? Welches Ausmaß an zivilisatorischer Apartheid wird hier erzeugt, wenn Liberale in Südafrika mehr einen «Kampf der Kulturen» als einen «Dialog zwischen den Kulturen» fördern?
Die Länder des Globalen Südens können viel von Chinas sozialistischen Experimenten lernen. Die Beseitigung der extremen Armut während der Pandemie – eine von den Vereinten Nationen gefeierte Errungenschaft – kann uns lehren, wie wir ähnlich hartnäckige Probleme in unseren eigenen Ländern angehen können (aus diesem Grund hat das Tricontinental: Institute for Social Research eine detaillierte Studie über die Methoden veröffentlich, die China eingesetzt hat, um dieses Kunststück zu vollbringen). Kein Land der Welt ist perfekt, und keines ist über Kritik erhaben. Aber eine paranoide Haltung gegenüber einem Land zu entwickeln und zu versuchen, es zu isolieren, ist gesellschaftlich gefährlich. Mauern müssen niedergerissen, nicht aufgebaut werden. Die USA provozieren einen Konflikt aufgrund ihrer eigenen Ängste vor Chinas wirtschaftlichen Fortschritten: Wir sollten uns nicht als nützliche Idiot*innen einspannen lassen. Wir müssen ein vernünftiges Gespräch über China führen und nicht eines, das uns von mächtigen Interessen aufgezwungen wird, die nicht unsere eigenen sind.
Mein Artikel in der Sunday Times geht nicht auf alle Fragen ein, die sich um den Konflikt zwischen den USA und China ranken. Er ist jedoch eine Einladung zum Dialog. Wenn ihr Meinungen zu diesen Themen habt, schreibt uns.
Herzlichst,
Vijay