Zeigt den Kindern die grünen Felder und lasst den Sonnenschein in ihre Köpfe.

Der zweiunddreißigste Newsletter (2021).

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Vor zwei Jahren ging ich mit meinen Kolleg*innen vom Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch durch das Camp Mari­elle Vive («Mari­elle lebt») am Rande von Valin­hos im Bundes­staat São Paulo, Brasi­lien, und hatte ein Déjà-vu-Erleb­nis. Die Sied­lung ähnelt vielen ande­ren Gemein­den der bitter­ar­men Bevöl­ke­rung auf unse­rem Plane­ten. Nach Berech­nun­gen der Verein­ten Natio­nen lebt jeder achte Mensch auf unse­rem Plane­ten – also eine Milli­arde Menschen – in solchen prekä­ren Verhält­nis­sen. Die Häuser bestehen aus einem Sammel­su­rium von Mate­ria­lien: blaue Planen und Holz­reste, Well­blech und alte Ziegel­steine. Tausend Fami­lien leben im Camp Mari­elle Vive, benannt nach der brasi­lia­ni­schen Sozia­lis­tin Mari­elle Franco, die im März 2018 ermor­det wurde.

 

Camp Mari­elle Vive ist kein gewöhn­li­cher «Slum», ein Wort mit so vielen nega­ti­ven Konno­ta­tio­nen. Die Stim­mung in vielen Slums ist deso­lat, krimi­nelle Banden und reli­giöse Orga­ni­sa­tio­nen sorgen für einen brüchi­gen sozia­len Zusam­men­halt. Doch im Camp Mari­elle Vive herrscht eine andere Atmo­sphäre. Über­all wehen die Fahnen der Bewe­gung der land­lo­sen Arbei­ter (MST). Die Bewohner*innen strah­len eine ruhige und freund­li­che Würde aus, viele von ihnen tragen T‑Shirts oder Mützen ihrer Orga­ni­sa­tion. Sie wirken vorbe­rei­tet: bereit, ihr Lager gegen eine Räumung durch die örtli­chen Behör­den zu vertei­di­gen und eine echte Gemein­schaft aufzubauen.

Gemein­schafts­kü­che im Camp Mari­elle Vive, 2019.

In der Mitte des Camps befin­det sich eine Gemein­schafts­kü­che, in der einige der Bewohner*innen ihre drei Mahl­zei­ten einneh­men. Das Essen ist einfach, aber nahr­haft. In der Nähe gibt es eine kleine Klinik, die einmal in der Woche von einem Arzt besucht wird. Vor den Häusern sind Blumen­beete und Gemü­se­gär­ten. Die Stadt­ver­wal­tung der angren­zen­den Stadt hat dem Schul­bus unter­sagt, die Kinder aus dem Camp abzu­ho­len und sie zur Schule der Stadt zu brin­gen. Da die Eltern Mühe hatten, ihre Kinder jeden Tag selbst zur Schule zu brin­gen, wurde im Camp Mari­elle Vive ein Klas­sen­zim­mer für außer­schu­li­sche Akti­vi­tä­ten einge­rich­tet, das auch während der Pande­mie weiter­ge­führt wurde.

 

Tassi Barreto von der MST sagte mir Anfang August 2021, dass es im Lager keine Todes­fälle durch COVID-19 gege­ben habe, weil man «entschlos­sene Maßnah­men ergrif­fen habe, um die Ausbrei­tung der Infek­tion zu verhin­dern». Die örtli­che Gemeinde verwei­gert dem Lager die Wasser­ver­sor­gung, was – wie Barreto sagt – «ein Menschen­rechts­ver­bre­chen» ist. Die Bewohner*innen setz­ten ihre kollek­tive Arbeit fort, indem sie die Gemein­schafts­kü­che und das Gesund­heits­zen­trum stärk­ten und die agrar­öko­lo­gi­sche Produk­tion im Gemü­se­gar­ten voran­trie­ben, der in Form eines Manda­las ange­legt ist. Der Garten ist so produk­tiv, dass aus dem Camp Körbe mit Produk­ten in den nahe gele­ge­nen Städ­ten Valin­hos und Campi­nas verkauft werden konnten.

 

Das Klas­sen­zim­mer befin­det sich an einem zentra­len Punkt des Camps Mari­elle Vive. Aber, so Barreto, «die Kinder und Jugend­li­chen im schul­pflich­ti­gen Alter hatten große Schwie­rig­kei­ten, weil es keinen Präsenz­un­ter­richt [in der städ­ti­schen Schule] gab und sie an den virtu­el­len Akti­vi­tä­ten nicht teil­neh­men konn­ten». Die Camp­lei­tung musste inno­va­tiv sein: Arbeits­blät­ter wurden gedruckt und alle vier­zehn Tage an die Schü­ler verteilt, und da die Lehrer*innen der öffent­li­chen Schule sie nicht über­prü­fen konn­ten, wandte sich das Lager an Pädagog*innen der UNICAMP, einer nahe gele­ge­nen öffent­li­chen Univer­si­tät, um ihre Arbeit zu beauf­sich­ti­gen. Die Ausbil­dung der Kinder war eine große Herausforderung.

Von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch kommt ein Dossier, Coro­naS­hock and Educa­tion in Brazil: One and a Half Years Later (August 2021), das sich einge­hend mit der Krise des öffent­li­chen Bildungs­we­sens infolge der Pande­mie befasst. Unser Dossier zitiert eine UNICEF-Studie, aus der hervor­geht, dass bis Ende 2020 in Brasi­lien etwa 1,5 Millio­nen Kinder und Jugend­li­che ihre Ausbil­dung abge­bro­chen hatten und 3,7 Millio­nen zwar formal einge­schrie­ben waren, aber keinen Zugang zu Online-Unter­richt hatten.

 

Die Verein­ten Natio­nen schät­zen, dass 90 % der Schüler*innen in der ganzen Welt – 1,57 Milli­ar­den Kinder – während der Pande­mie nicht in der Lage waren, persön­lich am Unter­richt teil­zu­neh­men, und viele von ihnen aufge­for­dert wurden, online zu arbei­ten. Eine aktu­elle UNESCO-Studie zeigt jedoch, dass die Hälfte der Welt­be­völ­ke­rung keinen Inter­net­an­schluss hat. Das sind 3,6 Milli­ar­den Menschen, die keinen Zugang zum Inter­net haben. Der Studie zufolge haben mindes­tens 463 Millio­nen oder fast ein Drit­tel der Schüler*innen und Student*innen welt­weit keinen Zugang zum Fern­un­ter­richt, vor allem, weil es keine Richt­li­nien für das Online-Lernen gibt oder die für die Verbin­dung von zu Hause aus erfor­der­li­che Ausrüs­tung fehlt. Die Hälfte der Welt­be­völ­ke­rung hat kein Inter­net, und viele derje­ni­gen, die Zugang zum Inter­net haben, können sich die für die Teil­nahme am Fern­un­ter­richt erfor­der­li­chen Tech­no­lo­gien und Hilfs­mit­tel nicht leis­ten. Die digi­tale Kluft zwischen den Geschlech­tern ist sogar noch ausge­präg­ter: In den weni­ger entwi­ckel­ten Ländern nutz­ten 2019 nur 15 % der Frauen das Inter­net, gegen­über 86 % der Frauen in den soge­nann­ten entwi­ckel­ten Ländern.

 

Die Hinwen­dung zur digi­ta­len Bildung hat Mega­kon­zerne ermu­tigt, im öffent­li­chen Bildungs­we­sen Priva­ti­sie­rungs­pro­zesse voran­zu­trei­ben, wodurch es für massen­weise Kinder immer schwie­ri­ger wird, über­haupt Zugang zu Bildung zu haben. Das Groß­ka­pi­tal sieht ganz klar seine Chance. Micro­soft erklärte: «Die Auswir­kun­gen von COVID-19, die anhal­ten­den Fort­schritte in der digi­ta­len Tech­no­lo­gie und die wach­sende Nach­frage nach schü­ler­zen­trier­tem Lernen bieten eine noch nie dage­we­sene Gele­gen­heit, das gesamte Bildungs­sys­tem umzu­ge­stal­ten». Bia Carvalho von der brasi­lia­ni­schen Jugend­be­we­gung (Levante Popu­lar da Juventude) sagte uns für unser Dossier: «Für diese Geschäfts­leute ist der Online­un­ter­richt profi­ta­bler, weil sie dadurch einen Teil ihrer Ausga­ben einspa­ren können und Zugang zu einer viel größe­ren Zahl von Schüler*innen und Student*innen erhal­ten. Wenn man Bildung als Ware betrach­tet, bei der Lektio­nen verkauft werden, ist der Fern­un­ter­richt viel lukra­ti­ver». Die massive Auswei­tung priva­ter digi­ta­ler Bildungs­sys­teme wurde bereits mit öffent­li­chen Mitteln unterstützt.

Unser Dossier schließt mit der Hervor­he­bung von drei Schlüs­sel­the­men: die Notwen­dig­keit, die Inves­ti­tio­nen in die öffent­li­che Bildungs­in­fra­struk­tur zu erhö­hen (und gleich­zei­tig sicher­zu­stel­len, dass keine heim­li­che Priva­ti­sie­rung der Bildung statt­fin­det); die Notwen­dig­keit, die beruf­li­che Entwick­lung von Lehrer*innen wert­zu­schät­zen, sie zu schu­len und zu unter­stüt­zen; und die Notwen­dig­keit, für ein gänz­lich neues Bildungs­pro­jekt zu kämp­fen. Letz­te­res ist von großer Bedeu­tung. Es stellt sich der Frage nach dem Zweck von Bildung, die die Grund­lage dafür bildet, wie junge Menschen lernen, Fragen zu stel­len über ihre Gesell­schaft, ihre Werte, die Diskre­panz zwischen ihren Werten und den gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen und darüber, was man gegen diese Diskre­panz tun kann. Es gibt eine direkte Verbin­dung zwischen den Studie­ren­den­pro­tes­ten in Chile 2011, in Südafrika 2015 und in Indien 2015/16 und der Stim­mung in unse­rem Dossier. Ein neues Bildungs­pro­jekt muss ausge­ar­bei­tet werden. Es ist drin­gend nötig.

Klas­sen­zim­mer nach der Schule im Camp Mari­elle Franco, 2021 (Foto vom Sektor Kommu­ni­ka­tion, MST-Sao Paulo)

Als wir 2019 durch das Camp Mari­elle Vive liefen, gesell­ten sich zwei junge Frauen zu uns, Ketley Júlia und Fernanda Fernan­des. Sie erzähl­ten uns von ihrer Schul­aus­bil­dung, einschließ­lich des Englisch­un­ter­richts, den sie im Klas­sen­zim­mer des Camps besu­chen. In den letz­ten zwei Jahren hat sich Ketley zusam­men mit ande­ren Frauen im Camp zu einer wich­ti­gen Führungs­per­sön­lich­keit in ihrer Gemein­schaft entwi­ckelt. Sie koor­di­niert den Mandala-Garten, hilft im Lager und orga­ni­siert Klei­der- und Decken­spen­den – und das alles, obwohl sie selbst mit gesund­heit­li­chen Proble­men zu kämp­fen hat.

 

«Mitten in der Barba­rei», so Barreto, «taucht immer wieder Hoff­nung auf». Ketley ist jetzt schwan­ger, «eine Freude, die uns in unse­rem Kampf ermu­tigt», so Barreto. Fernanda lebt jetzt in Camp Irmã Alberta in der Nähe von São Paulo, wo sie weiter­hin in der MST aktiv ist und zwei Kinder groß­zieht. Fernan­das Kinder und das Kind von Ketley geben Hoff­nung, aber sie brau­chen auch Hoff­nung, die durch eine Welt mit einem huma­nen und hoff­nungs­vol­len Bildungs­pro­jekt geformt wird.

 

Im Jahr 1942 schrieb der engli­sche Dich­ter, Sozia­list und Pazi­fist Stephen Spen­der An Elemen­tary School Class­room in a Slum. Die Kinder in der Slum­schule, schrieb Spen­der, haben eine Zukunft, die «mit Nebel gemalt» ist, ihre Land­kar­ten sind «Slums, so groß wie ein Verhäng­nis». Wir müssen die Fens­ter dieses Slums einschla­gen, schrieb Spender,

 

… und die Kinder auf grüne Felder führen, und ihre Welt

azur­blau auf golde­nen Sand bauen, und ihre bloßen Zungen

durch Bücher laufen lassen, die weißen und grünen Blät­ter zu öffnen

Die Geschichte gehört denen, deren Spra­che die Sonne ist.

 

Herz­lichst,

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.