Es gibt genug Ressourcen auf der Welt, um die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen, aber nicht genug Ressourcen, um die kapitalistische Gier zu befriedigen

Der einunddreißigste Newsletter (2023)

Kurt Nahar (Suri­nam), Ohne Titel 2369, 2008.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 20. Juli haben die Verein­ten Natio­nen (UN) ein Doku­ment mit dem Titel Eine neue Agenda für den Frie­den veröf­fent­licht. Im einlei­ten­den Abschnitt des Berichts machte UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res einige Bemer­kun­gen, über die man genau nach­den­ken sollte:

 

Wir befin­den uns jetzt an einem Wende­punkt. Die Zeit nach dem Kalten Krieg ist vorbei. Der Über­gang zu einer neuen globa­len Ordnung hat begon­nen. Auch wenn die Kontu­ren dieser Ordnung noch nicht fest­ge­legt sind, haben führende Politiker*innen in aller Welt die Multi­po­la­ri­tät als eines ihrer bestim­men­den Merk­male bezeich­net. In dieser Über­gangs­phase hat sich die Macht­dy­na­mik zuneh­mend frag­men­tiert, da neue Einfluss­pole entste­hen, neue Wirt­schafts­blö­cke gebil­det und die Achsen des Wett­be­werbs neu defi­niert werden. Die Konkur­renz zwischen den Groß­mäch­ten hat sich verschärft, und das Vertrauen zwischen dem globa­len Norden und Süden ist geschwun­den. Eine Reihe von Staa­ten versu­chen zuneh­mend, ihre stra­te­gi­sche Unab­hän­gig­keit zu stär­ken, während sie gleich­zei­tig bestrebt sind, über bestehende Trenn­li­nien hinweg zu manö­vrie­ren. Die Coro­na­vi­rus oder COVID-19-Pande­mie  und der Krieg in der Ukraine haben diesen Prozess noch beschleunigt.

 

Wir befin­den uns, wie er sagt, in einem Moment des Über­gangs. Die Welt bewegt sich weg von der Ära nach dem Kalten Krieg, in der die Verei­nig­ten Staa­ten und ihre engen Verbün­de­ten, Europa und Japan (gemein­sam als Triade bekannt) ihre unipo­lare Macht über den Rest der Welt ausüb­ten, hin zu einer neuen Peri­ode, die manche als «Multi­po­la­ri­tät» bezeich­nen. Die COVID-19-Pande­mie und der Krieg in der Ukraine beschleu­nig­ten Entwick­lun­gen, die bereits vor 2020 im Gange waren. Die allmäh­li­che Schwä­chung des west­li­chen Blocks hat zu einer Ausein­an­der­set­zung zwischen der Triade und den neu entste­hen­den Mäch­ten geführt. Am heftigs­ten ist diese Ausein­an­der­set­zung im globa­len Süden, wo das Vertrauen in den globa­len Norden so schwach ist wie seit einer Gene­ra­tion nicht mehr. Die ärme­ren Natio­nen wollen sich derzeit weder an den schwa­chen Westen noch an die aufstre­ben­den neuen Mächte binden, sondern stre­ben nach «stra­te­gi­scher Unab­hän­gig­keit». Diese Einschät­zung ist weit­ge­hend rich­tig, und der Bericht ist von großem Inter­esse, wobei der Mangel an Konkret­heit die Wirkungs­macht des Berichts schwächt.

 

Glad­wyn K. Bush oder Miss Lassie (Kaiman­in­seln), The History of the Cayman Islands, n.d.

In dem Bericht bezie­hen sich die Verein­ten Natio­nen nicht ein einzi­ges Mal auf ein bestimm­tes Land, und sie versu­chen auch nicht, die aufstre­ben­den Mächte präzis zu iden­ti­fi­zie­ren. Da die UNO keine konkrete Bewer­tung der gegen­wär­ti­gen Situa­tion vornimmt, bleibt es bei vagen Lösun­gen, wie sie inzwi­schen gang und gäbe sind und die nichts­aus­sa­gend sind (z. B. Stär­kung des Vertrau­ens und Aufbau von Soli­da­ri­tät). Es gibt einen einzi­gen konkre­ten Vorschlag. Dieser ist von großer Bedeu­tung und befasst sich mit dem Waffen­han­del. Ich werde am Ende dieses News­let­ters auf ihn zurück­kom­men. Doch abge­se­hen von der Besorg­nis über die ausufernde Waffen­in­dus­trie versucht der UN-Bericht, eine Art mora­li­schen Sicht­schutz über die harten Reali­tä­ten zu span­nen, mit denen er sich nicht direkt ausein­an­der­set­zen kann.

 

Was sind  die konkre­ten Gründe für die von den Verein­ten Natio­nen fest­ge­stell­ten monu­men­ta­len globa­len Verschie­bun­gen? Erstens hat sich die rela­tive Macht der Verei­nig­ten Staa­ten und ihrer engs­ten Verbün­de­ten deut­lich verklei­nert. Die west­li­che Kapi­ta­lis­ten­klasse befin­det sich seit langem im Steu­er­streik und ist nicht bereit, ihre indi­vi­du­el­len oder Unter­neh­mens­steu­ern zu zahlen (2019 wurden fast 40 Prozent der multi­na­tio­na­len Gewinne in Steu­er­pa­ra­diese verscho­ben). Ihre Suche nach schnel­len Gewin­nen unter Umge­hung der Steu­er­be­hör­den haben zu einem lang­fris­ti­gen Rück­gang der Inves­ti­tio­nen im Westen geführt, wodurch die Infra­struk­tur und die produk­tive Basis ausge­höhlt wurden. Der Wandel der west­li­chen Sozialdemokrat*innen von Verfechter*innen der sozia­len Wohl­fahrt zu neoli­be­ra­len Verfechter*innen der Austeri­tät hat die Tür für mehr Verzweif­lung und Trost­lo­sig­keit geöff­net, dem emotio­na­len Nähr­bo­den der extre­men Rech­ten. Die Unfä­hig­keit der Triade, das globale neoko­lo­niale System reibungs­los zu regie­ren, hat im globa­len Süden zu einem «Vertrau­ens­ver­lust» gegen­über den Verei­nig­ten Staa­ten und ihren Verbün­de­ten geführt.

S. Sudjo­jono (Indo­ne­sien), Di Dalam Kampung, 1950.

Zwei­tens war es für Länder wie China, Indien und Indo­ne­sien unfass­bar, dass sie von der G20 aufge­for­dert wurden, dem deso­la­ten Banken­sys­tem des globa­len Nordens in den Jahren 2007-08 Liqui­di­tät zur Verfü­gung zu stel­len. Das Vertrauen dieser Entwick­lungs­län­der in den Westen schwand, während ihr Selbst­wert­ge­fühl zunahm. Diese verän­der­ten Umstände führ­ten 2009 zur Bildung des BRICS-Blocks durch Brasi­lien, Russ­land, Indien, China und Südafrika – die «Loko­mo­ti­ven des Südens», wie die South Commis­sion in den 1980er Jahren fest­stellte und später in ihrem wenig gele­se­nen Bericht von 1991 ausführte. Chinas Wachs­tum war an sich schon erstaun­lich, aber wie die UN-Konfe­renz für Handel und Entwick­lung (UNCTAD) 2022 fest­stellte, war es von grund­le­gen­der Bedeu­tung, dass China in der Lage war, einen Struk­tur­wan­del zu voll­zie­hen (d. h. von Wirt­schafts­ak­ti­vi­tä­ten mit nied­ri­ger Produk­ti­vi­tät zu solchen mit hoher Produk­ti­vi­tät über­zu­ge­hen). Dieser Struk­tur­wan­del könnte Lehren für den Rest des globa­len Südens liefern, Lehren, die weit­aus prak­ti­scher sind als die, die das Schul­den-Austeri­täts­pro­gramm des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds bietet.

 

Weder das BRICS-Projekt noch Chinas Neue-Seiden­straße-Initia­tive (BRI) stel­len eine mili­tä­ri­sche Bedro­hung dar; bei beiden handelt es sich im Wesent­li­chen um kommer­zi­elle Süd-Süd-Entwick­lung (ganz im Sinne der Agenda des UN-Büros für Süd-Süd-Zusam­men­ar­beit). Der Westen ist jedoch nicht in der Lage, mit diesen beiden Initia­ti­ven wirt­schaft­lich zu konkur­rie­ren, und hat daher massive poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Reak­tion beschlos­sen. Im Jahr 2018 erklär­ten die Verei­nig­ten Staa­ten den Krieg gegen den Terror für been­det und formu­lier­ten in ihrer natio­na­len Vertei­di­gungs­stra­te­gie klar, dass ihre Haupt­pro­bleme der Aufstieg Chinas und Russ­lands seien. Der dama­lige US-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Jim Mattis sprach von der Notwen­dig­keit, den Aufstieg von «Beinahe-Riva­len» zu verhin­dern, wobei er ausdrück­lich auf China und Russ­land verwies, und schlug vor, die gesamte Palette der US-Macht einzu­set­zen, um sie in die Knie zu zwin­gen. Die Verei­nig­ten Staa­ten verfü­gen nicht nur über ein ausge­dehn­tes Netz von rund 800 Mili­tär­stütz­punk­ten in Über­see, von denen Hunderte Eura­sien umschlie­ßen, sondern haben auch mili­tä­ri­sche Verbün­dete von Deutsch­land bis Japan, die den USA als Vorpos­ten gegen Russ­land und China dienen. Seit vielen Jahren führen die Mari­ne­flot­ten der USA und ihrer Verbün­de­ten aggres­sive Übun­gen für die «Schiff­fahrts­frei­heit» durch, die die terri­to­riale Inte­gri­tät sowohl Russ­lands (vor allem in der Arktis) als auch Chinas (im Südchi­ne­si­schen Meer) verletzen. 

 

Im Jahr 2018 traten die Verei­nig­ten Staa­ten einsei­tig aus dem Vertrag über nukleare Mittel­stre­cken­waf­fen (INF) aus (der auf die Aufkün­di­gung des Vertrags über anti­bal­lis­ti­sche Rake­ten im Jahr 2002 folgte), ein Schritt, der die nukleare Rüstungs­kon­trolle auf den Kopf stellte und bedeu­tete, dass die USA den Einsatz «takti­scher Atom­waf­fen» sowohl gegen Russ­land als auch gegen China in Erwä­gung zogen.

Enrico Baj (Italien), Al fuoco, al fuoco, 1964.

Die Verein­ten Natio­nen haben Recht mit ihrer Einschät­zung, dass der unipo­lare Moment nun vorbei ist und sich die Welt auf eine neue, komple­xere Reali­tät zube­wegt. Während die neoko­lo­niale Struk­tur des Welt­sys­tems weit­ge­hend intakt bleibt, zeich­nen sich mit dem Aufstieg Chinas und der BRICS-Staa­ten Verschie­bun­gen im Kräf­te­gleich­ge­wicht ab, und die neuen Kräfte versu­chen, inter­na­tio­nale Insti­tu­tio­nen zu schaf­fen, die die bestehende Ordnung umwäl­zen. Die Gefahr für die Welt ergibt sich nicht aus der Möglich­keit, dass die globale Macht zersplit­tert und weit verstreut wird, sondern daraus, dass der Westen sich weigert, sich mit diesen großen Verän­de­run­gen abzu­fin­den. Der UN-Bericht stellt fest, dass «die welt­wei­ten Mili­tär­aus­ga­ben im Jahr 2022 mit 2,24 Billio­nen US-Dollar einen neuen Rekord erreicht haben», obwohl die UN nicht erwähnt, dass drei Vier­tel dieser Gelder von den Mitglied­staa­ten der Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) ausge­ge­ben werden. Länder, die ihre «stra­te­gi­sche Unab­hän­gig­keit» – so die Formu­lie­rung der UN – ausüben wollen, werden vor die Wahl gestellt: Entwe­der sie schlie­ßen sich der Mili­ta­ri­sie­rung der Welt durch den Westen an oder sie werden von dessen über­le­ge­nem Arse­nal vernichtet.

 

Eine neue Agenda für den Frie­den ist Teil eines Prozes­ses, der im Septem­ber 2024 auf einem UN-Zukunfts­gip­fel seinen Höhe­punkt finden wird. Als Teil dieses Prozes­ses sammelt die UNO Vorschläge aus der Zivil­ge­sell­schaft, wie diesen von Aote­aroa Lawy­ers for Peace, Basel Peace Office, der Move the Nuclear Weapons Money Kampa­gne, UNFOLD ZERO, Western States Legal Foun­da­tion und dem World Future Coun­cil, die fordern, dass der Zukunfts­gip­fel die folgende Erklä­rung annimmt:

 

Die Verpflich­tung gemäß Arti­kel 26 der UN-Charta bekräf­ti­gen, einen Plan zur Rüstungs­kon­trolle und Abrüs­tung mit der geringst­mög­li­chen Umlei­tung von Ressour­cen für die wirt­schaft­li­che und soziale Entwick­lung aufzustellen;

 

Den Sicher­heits­rat der Verein­ten Natio­nen, die Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen und andere einschlä­gige UN-Gremien auffor­dern, Maßnah­men im Hinblick auf Arti­kel 26 zu ergrei­fen, und

 

Alle Staa­ten auffor­dern, dieser Verpflich­tung durch die Rati­fi­zie­rung bila­te­ra­ler und multi­la­te­ra­ler Rüstungs­kon­troll­ab­kom­men nach­zu­kom­men, verbun­den mit einer schritt­wei­sen und syste­ma­ti­schen Redu­zie­rung der Mili­tär­haus­halte und einer ange­mes­se­nen Erhö­hung der Mittel für die Ziele der nach­hal­ti­gen Entwick­lung, den Klima­schutz und andere natio­nale Beiträge zu den Verein­ten Natio­nen und ihren Sonderorganisationen.

 

Der Finanz­be­darf zur Errei­chung aller sieb­zehn Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung wird auf 3,9 Billio­nen Dollar geschätzt – die Hälfte dieser Kosten könnte durch den zerstö­re­ri­schen und verschwen­de­ri­schen Waffen­han­del gedeckt werden. Mit nur 40 Milli­ar­den US-Dollar pro Jahr könnte der Hunger in der Welt bis 2030 ausge­rot­tet werden. Eine Verschie­bung der Ausga­ben­prio­ri­tä­ten ist vernünf­tig, aber sie wider­spricht aber der globa­len kapi­ta­lis­ti­schen Unordnung.

Dieser News­let­ter ist dem Geden­ken an unse­ren Genos­sen Subhash Munda (34 Jahre) gewid­met, einem Führer der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens (Marxis­tisch), der am 26. Juli in Daladli Chowk (Ranchi, Jhark­hand) erschos­sen wurde. Subhash, ein Kommu­nist der vier­ten Gene­ra­tion, war ein Führer der Adivasi-Gemein­schaft (der indi­ge­nen Stämme) und wurde Opfer des Kamp­fes gegen die Land­ma­fia. Es gibt nicht genug Ressour­cen auf der Welt, um die Gier der Land­ma­fia und der Kapi­ta­lis­ten zu befrie­di­gen. Aber es gibt genug Ressour­cen, um die Bedürf­nisse der Menschen zu erfül­len. Subhash Munda wusste das und kämpfte dafür.

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.