Es gibt genug Ressourcen auf der Welt, um die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen, aber nicht genug Ressourcen, um die kapitalistische Gier zu befriedigen
Der einunddreißigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 20. Juli haben die Vereinten Nationen (UN) ein Dokument mit dem Titel Eine neue Agenda für den Frieden veröffentlicht. Im einleitenden Abschnitt des Berichts machte UN-Generalsekretär António Guterres einige Bemerkungen, über die man genau nachdenken sollte:
Wir befinden uns jetzt an einem Wendepunkt. Die Zeit nach dem Kalten Krieg ist vorbei. Der Übergang zu einer neuen globalen Ordnung hat begonnen. Auch wenn die Konturen dieser Ordnung noch nicht festgelegt sind, haben führende Politiker*innen in aller Welt die Multipolarität als eines ihrer bestimmenden Merkmale bezeichnet. In dieser Übergangsphase hat sich die Machtdynamik zunehmend fragmentiert, da neue Einflusspole entstehen, neue Wirtschaftsblöcke gebildet und die Achsen des Wettbewerbs neu definiert werden. Die Konkurrenz zwischen den Großmächten hat sich verschärft, und das Vertrauen zwischen dem globalen Norden und Süden ist geschwunden. Eine Reihe von Staaten versuchen zunehmend, ihre strategische Unabhängigkeit zu stärken, während sie gleichzeitig bestrebt sind, über bestehende Trennlinien hinweg zu manövrieren. Die Coronavirus oder COVID-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben diesen Prozess noch beschleunigt.
Wir befinden uns, wie er sagt, in einem Moment des Übergangs. Die Welt bewegt sich weg von der Ära nach dem Kalten Krieg, in der die Vereinigten Staaten und ihre engen Verbündeten, Europa und Japan (gemeinsam als Triade bekannt) ihre unipolare Macht über den Rest der Welt ausübten, hin zu einer neuen Periode, die manche als «Multipolarität» bezeichnen. Die COVID-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine beschleunigten Entwicklungen, die bereits vor 2020 im Gange waren. Die allmähliche Schwächung des westlichen Blocks hat zu einer Auseinandersetzung zwischen der Triade und den neu entstehenden Mächten geführt. Am heftigsten ist diese Auseinandersetzung im globalen Süden, wo das Vertrauen in den globalen Norden so schwach ist wie seit einer Generation nicht mehr. Die ärmeren Nationen wollen sich derzeit weder an den schwachen Westen noch an die aufstrebenden neuen Mächte binden, sondern streben nach «strategischer Unabhängigkeit». Diese Einschätzung ist weitgehend richtig, und der Bericht ist von großem Interesse, wobei der Mangel an Konkretheit die Wirkungsmacht des Berichts schwächt.
In dem Bericht beziehen sich die Vereinten Nationen nicht ein einziges Mal auf ein bestimmtes Land, und sie versuchen auch nicht, die aufstrebenden Mächte präzis zu identifizieren. Da die UNO keine konkrete Bewertung der gegenwärtigen Situation vornimmt, bleibt es bei vagen Lösungen, wie sie inzwischen gang und gäbe sind und die nichtsaussagend sind (z. B. Stärkung des Vertrauens und Aufbau von Solidarität). Es gibt einen einzigen konkreten Vorschlag. Dieser ist von großer Bedeutung und befasst sich mit dem Waffenhandel. Ich werde am Ende dieses Newsletters auf ihn zurückkommen. Doch abgesehen von der Besorgnis über die ausufernde Waffenindustrie versucht der UN-Bericht, eine Art moralischen Sichtschutz über die harten Realitäten zu spannen, mit denen er sich nicht direkt auseinandersetzen kann.
Was sind die konkreten Gründe für die von den Vereinten Nationen festgestellten monumentalen globalen Verschiebungen? Erstens hat sich die relative Macht der Vereinigten Staaten und ihrer engsten Verbündeten deutlich verkleinert. Die westliche Kapitalistenklasse befindet sich seit langem im Steuerstreik und ist nicht bereit, ihre individuellen oder Unternehmenssteuern zu zahlen (2019 wurden fast 40 Prozent der multinationalen Gewinne in Steuerparadiese verschoben). Ihre Suche nach schnellen Gewinnen unter Umgehung der Steuerbehörden haben zu einem langfristigen Rückgang der Investitionen im Westen geführt, wodurch die Infrastruktur und die produktive Basis ausgehöhlt wurden. Der Wandel der westlichen Sozialdemokrat*innen von Verfechter*innen der sozialen Wohlfahrt zu neoliberalen Verfechter*innen der Austerität hat die Tür für mehr Verzweiflung und Trostlosigkeit geöffnet, dem emotionalen Nährboden der extremen Rechten. Die Unfähigkeit der Triade, das globale neokoloniale System reibungslos zu regieren, hat im globalen Süden zu einem «Vertrauensverlust» gegenüber den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten geführt.
Zweitens war es für Länder wie China, Indien und Indonesien unfassbar, dass sie von der G20 aufgefordert wurden, dem desolaten Bankensystem des globalen Nordens in den Jahren 2007-08 Liquidität zur Verfügung zu stellen. Das Vertrauen dieser Entwicklungsländer in den Westen schwand, während ihr Selbstwertgefühl zunahm. Diese veränderten Umstände führten 2009 zur Bildung des BRICS-Blocks durch Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – die «Lokomotiven des Südens», wie die South Commission in den 1980er Jahren feststellte und später in ihrem wenig gelesenen Bericht von 1991 ausführte. Chinas Wachstum war an sich schon erstaunlich, aber wie die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) 2022 feststellte, war es von grundlegender Bedeutung, dass China in der Lage war, einen Strukturwandel zu vollziehen (d. h. von Wirtschaftsaktivitäten mit niedriger Produktivität zu solchen mit hoher Produktivität überzugehen). Dieser Strukturwandel könnte Lehren für den Rest des globalen Südens liefern, Lehren, die weitaus praktischer sind als die, die das Schulden-Austeritätsprogramm des Internationalen Währungsfonds bietet.
Weder das BRICS-Projekt noch Chinas Neue-Seidenstraße-Initiative (BRI) stellen eine militärische Bedrohung dar; bei beiden handelt es sich im Wesentlichen um kommerzielle Süd-Süd-Entwicklung (ganz im Sinne der Agenda des UN-Büros für Süd-Süd-Zusammenarbeit). Der Westen ist jedoch nicht in der Lage, mit diesen beiden Initiativen wirtschaftlich zu konkurrieren, und hat daher massive politische und militärische Reaktion beschlossen. Im Jahr 2018 erklärten die Vereinigten Staaten den Krieg gegen den Terror für beendet und formulierten in ihrer nationalen Verteidigungsstrategie klar, dass ihre Hauptprobleme der Aufstieg Chinas und Russlands seien. Der damalige US-Verteidigungsminister Jim Mattis sprach von der Notwendigkeit, den Aufstieg von «Beinahe-Rivalen» zu verhindern, wobei er ausdrücklich auf China und Russland verwies, und schlug vor, die gesamte Palette der US-Macht einzusetzen, um sie in die Knie zu zwingen. Die Vereinigten Staaten verfügen nicht nur über ein ausgedehntes Netz von rund 800 Militärstützpunkten in Übersee, von denen Hunderte Eurasien umschließen, sondern haben auch militärische Verbündete von Deutschland bis Japan, die den USA als Vorposten gegen Russland und China dienen. Seit vielen Jahren führen die Marineflotten der USA und ihrer Verbündeten aggressive Übungen für die «Schifffahrtsfreiheit» durch, die die territoriale Integrität sowohl Russlands (vor allem in der Arktis) als auch Chinas (im Südchinesischen Meer) verletzen.
Im Jahr 2018 traten die Vereinigten Staaten einseitig aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) aus (der auf die Aufkündigung des Vertrags über antiballistische Raketen im Jahr 2002 folgte), ein Schritt, der die nukleare Rüstungskontrolle auf den Kopf stellte und bedeutete, dass die USA den Einsatz «taktischer Atomwaffen» sowohl gegen Russland als auch gegen China in Erwägung zogen.
Die Vereinten Nationen haben Recht mit ihrer Einschätzung, dass der unipolare Moment nun vorbei ist und sich die Welt auf eine neue, komplexere Realität zubewegt. Während die neokoloniale Struktur des Weltsystems weitgehend intakt bleibt, zeichnen sich mit dem Aufstieg Chinas und der BRICS-Staaten Verschiebungen im Kräftegleichgewicht ab, und die neuen Kräfte versuchen, internationale Institutionen zu schaffen, die die bestehende Ordnung umwälzen. Die Gefahr für die Welt ergibt sich nicht aus der Möglichkeit, dass die globale Macht zersplittert und weit verstreut wird, sondern daraus, dass der Westen sich weigert, sich mit diesen großen Veränderungen abzufinden. Der UN-Bericht stellt fest, dass «die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2022 mit 2,24 Billionen US-Dollar einen neuen Rekord erreicht haben», obwohl die UN nicht erwähnt, dass drei Viertel dieser Gelder von den Mitgliedstaaten der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) ausgegeben werden. Länder, die ihre «strategische Unabhängigkeit» – so die Formulierung der UN – ausüben wollen, werden vor die Wahl gestellt: Entweder sie schließen sich der Militarisierung der Welt durch den Westen an oder sie werden von dessen überlegenem Arsenal vernichtet.
Eine neue Agenda für den Frieden ist Teil eines Prozesses, der im September 2024 auf einem UN-Zukunftsgipfel seinen Höhepunkt finden wird. Als Teil dieses Prozesses sammelt die UNO Vorschläge aus der Zivilgesellschaft, wie diesen von Aotearoa Lawyers for Peace, Basel Peace Office, der Move the Nuclear Weapons Money Kampagne, UNFOLD ZERO, Western States Legal Foundation und dem World Future Council, die fordern, dass der Zukunftsgipfel die folgende Erklärung annimmt:
Die Verpflichtung gemäß Artikel 26 der UN-Charta bekräftigen, einen Plan zur Rüstungskontrolle und Abrüstung mit der geringstmöglichen Umleitung von Ressourcen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aufzustellen;
Den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die Generalversammlung der Vereinten Nationen und andere einschlägige UN-Gremien auffordern, Maßnahmen im Hinblick auf Artikel 26 zu ergreifen, und
Alle Staaten auffordern, dieser Verpflichtung durch die Ratifizierung bilateraler und multilateraler Rüstungskontrollabkommen nachzukommen, verbunden mit einer schrittweisen und systematischen Reduzierung der Militärhaushalte und einer angemessenen Erhöhung der Mittel für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung, den Klimaschutz und andere nationale Beiträge zu den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen.
Der Finanzbedarf zur Erreichung aller siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung wird auf 3,9 Billionen Dollar geschätzt – die Hälfte dieser Kosten könnte durch den zerstörerischen und verschwenderischen Waffenhandel gedeckt werden. Mit nur 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr könnte der Hunger in der Welt bis 2030 ausgerottet werden. Eine Verschiebung der Ausgabenprioritäten ist vernünftig, aber sie widerspricht aber der globalen kapitalistischen Unordnung.
Dieser Newsletter ist dem Gedenken an unseren Genossen Subhash Munda (34 Jahre) gewidmet, einem Führer der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch), der am 26. Juli in Daladli Chowk (Ranchi, Jharkhand) erschossen wurde. Subhash, ein Kommunist der vierten Generation, war ein Führer der Adivasi-Gemeinschaft (der indigenen Stämme) und wurde Opfer des Kampfes gegen die Landmafia. Es gibt nicht genug Ressourcen auf der Welt, um die Gier der Landmafia und der Kapitalisten zu befriedigen. Aber es gibt genug Ressourcen, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Subhash Munda wusste das und kämpfte dafür.
Herzlichst,
Vijay