China beseitigt die absolute Armut, während Milliardäre eine Spritztour ins All unternehmen.
Der einunddreißigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Der wichtigste Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF), World Economic Outlook, bringt beunruhigende Nachrichten. Der Bericht hebt viele der drängenden Probleme hervor, mit denen unser Planet konfrontiert ist: Unterbrechungen in der globalen Versorgungskette, steigende Transportkosten, Engpässe bei Zwischenprodukten, steigende Rohstoffpreise und Inflationsdruck in vielen Volkswirtschaften. Es wird erwartet, dass die globalen Wachstumsraten im Jahr 2021 bei 6 % und im Jahr 2022 bei 4,9 % liegen werden, was auf eine höhere globale Staatsverschuldung zurückzuführen ist. Dem Bericht zufolge hat diese Verschuldung «im Jahr 2020 ein noch nie dagewesenes Niveau von nahezu 100 % des globalen BIP erreicht und wird voraussichtlich auch in den Jahren 2021 und 2022 etwa auf diesem Niveau bleiben». Die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer wird hoch bleiben und es ist kaum mit einer Entlastung zu rechnen.
Jedes Jahr hebt IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath in ihrem Blog die wichtigsten Themen des Berichts hervor. Dieses Jahr hat ihr Blog eine deutliche Überschrift: Drawing Further Apart: Widening Gaps in the Global Recovery.Die Kluft, von der sie spricht, verläuft entlang der Nord-Süd-Achse, wobei es für die ärmeren Länder keinen einfachen Weg aus dem pandemiebedingten globalen Abschwung gibt. Für diese Kluft gibt es eine Reihe von Gründen, z.B. die Nachteile arbeitsintensiver Produktion, allgemeine Armut der Bevölkerungen und die seit langem bestehenden Schuldenprobleme. Gopinath konzentriert sich jedoch auf einen Aspekt: die Impfstoff-Apartheid. «Fast 40 % der Bevölkerung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist vollständig geimpft, verglichen mit 11 Prozent in den Schwellenländern und einem winzigen Bruchteil in den Entwicklungsländern mit niedrigem Einkommen», schreibt sie. Der Mangel an Impfstoffen ist ihrer Meinung nach die Hauptursache für die «zunehmende Kluft im globalen Aufschwung».
Diese wachsende Kluft hat unmittelbare soziale Auswirkungen. Der Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2021, The State of Food Insecurity and Nutrition in the World, stellt fest, dass «fast jeder dritte Mensch auf der Welt (2,37 Milliarden) im Jahr 2020 keinen Zugang zu angemessener Nahrung hatte – ein Anstieg um fast 320 Millionen Menschen in nur einem Jahr». Der Hunger ist unerträglich. Es kommt zu Lebensmittelunruhen, am dramatischsten in Südafrika. «Sie bringen uns einfach durch Hunger um», sagte ein Einwohner von Durban, der sich den Aufständen angeschlossen hat. Diese Proteste sowie die neuen Daten des IWF und der UNO haben das Thema Hunger wieder auf die globale Tagesordnung gesetzt.
Ende Juli hielt der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen ein hochrangiges politisches Forum über nachhaltige Entwicklung ab. Die Minister-Erklärung des Forums erkannte an, dass «die durch die COVID-19-Pandemie verursachte Krise die Schwachstellen unserer Welt und die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Ländern offengelegt und verschärft hat, systemische Schwächen, Herausforderungen und Risiken akzentuiert hat und die Gefahr besteht, dass die Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung gestoppt oder beeinträchtigt werden». Siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) wurden 2015 von den UN-Mitgliedstaaten angenommen. Zu diesen Zielen gehören Armutsbekämpfung, ein Ende des Hungers, gute Gesundheit und die Gleichstellung der Geschlechter. Schon vor der Pandemie war klar, dass die Welt diese Ziele bis 2030 nicht wie geplant erreichen würde, schon gar nicht das grundlegendste Ziel der Beseitigung des Hungers.
In dieser düsteren Zeit verkündete Chinas Präsident Xi Jinping Ende Februar 2021, dass China – trotz des allgemeinen weltweiten Abschwungs – extreme Armut ausgerottet habe. Was bedeutet diese Nachricht? Wie unser Team von Tricontinental: Institute for Social Research letzten Monat berichtete, sind 850 Millionen Menschen aus der absoluten Armut herausgekommen (der Höhepunkt eines sieben Jahrzehnte dauernden Prozesses, der mit der chinesischen Revolution von 1949 begann), ihr Pro-Kopf-Einkommen ist auf 10.000 US-Dollar gestiegen (eine Verzehnfachung in den letzten zwanzig Jahren) und die Lebenserwartung ist auf durchschnittlich 77,3 Jahre gestiegen (im Vergleich zu 35 Jahren im Jahr 1949). China hat die SDGs zur Armutsbekämpfung zehn Jahre im Voraus erreicht hat und damit zu mehr als 70 % der weltweiten Armutsbekämpfung beigetragen. Im März 2021 feierte UN-Generalsekretär Antonio Guterres diese Leistung als «Grund zur Hoffnung und Inspiration für die gesamte Völkergemeinschaft».
Unsere Studie vom Juli, Serve the People: The Eradication of Extreme Poverty in China war der Auftakt zu einer neuen Reihe mit dem Titel Studies on Socialist Construction, mit der wir Experimente zum Aufbau sozialistischer Praktiken von Kuba über Kerala und Bolivien bis China untersuchen wollen. Serve the People stützt sich auf Vor-Ort-Studien von Armutsbekämpfungsprogrammen in verschiedenen Teilen Chinas und auf Interviews mit Expert*innen, die an diesem Langzeitprojekt beteiligt waren. Wang Sangui, Dekan des Nationalen Forschungsinstituts für Armutsbekämpfung an der Renmin-Universität, erklärte uns beispielsweise, dass das Konzept der mehrdimensionalen Armut für den chinesischen Ansatz von zentraler Bedeutung ist. Das Konzept wurde zum politischen Grundsatz des Programms der Kommunistischen Partei Chinas mit seinen drei Garantien (sicheres Wohnen, Gesundheitsfürsorge und Bildung) und zwei Gewissheiten (Nahrung und Kleidung zu haben). Aber das Wesentliche dieser Politik liegt in den Details. Wie Wang es in Bezug auf Trinkwasser ausdrückte:
Wie kann man Trinkwasser als sicher einstufen? Erstens: Die Grundvoraussetzung ist, dass es keine Engpässe in der Wasserversorgung geben darf. Zweitens darf die Wasserquelle nicht zu weit entfernt sein, d. h. es dürfen nicht mehr als zwanzig Minuten Hin- und Rückweg für die Wasserentnahme erforderlich sein. Und schließlich muss die Wasserqualität gut und das Wasser frei von Schadstoffen sein. Wir verlangen Prüfberichte, die die Wasserqualität bestätigen. Erst dann können wir sagen, dass die Norm erfüllt ist.
Sobald ein politische Programm ausgearbeitet ist, beginnt die eigentliche Arbeit der Ausführung. Die Kommunistische Partei (KPC) schickte 800 000 Kader aus, um den lokalen Behörden bei der Erhebung der Haushalte zu helfen, damit sie das Ausmaß der Armut auf dem Lande erfassen. Dann entsandte die KPC 3 Millionen der 95,1 Millionen Parteimitglieder als Kader, aufgeteilt in 255.000 Teams, die jahrelang in armen Dörfern lebten und sich für die Beseitigung der Armut und der damit verbundenen sozialen Bedingungen einsetzten. Je ein Team wurde einem Dorf zugewiesen, ein Kader jeder Familie.
Aus den Studien über die Armut und den Erfahrungen der Kader ergaben sich fünf Kernmethoden zur Beseitigung der Armut: Entwicklung der Industrie, Umsiedlung von Menschen, Anreize für ökologischen Ausgleich, Gewährleistung einer kostenlosen, hochwertigen und obligatorischen Bildung und Bereitstellung von Sozialhilfe. Der stärkste Hebel dieser fünf Methoden war die industrielle Entwicklung, die eine kapitalintensive landwirtschaftliche Produktion (einschließlich Getreideverarbeitung und Tierzucht) schuf, Ackerland wiederherstellte und im Rahmen der ökologischen Ausgleichsmaßnahmen Wälder anpflanzte, um Gebiete wiederzubeleben, die der übermäßigen Ausbeutung von Ressourcen zum Opfer fielen. Darüber hinaus wurde ein Schwerpunkt auf die Ausbildung von Minderheiten und Frauen gelegt. Infolgedessen stand China nach Angaben des Weltwirtschaftsforums im Jahr 2020 bei der Rate von eingeschriebenen Frauen an Hochschulen weltweit an erster Stelle.
Weniger als 10 % der Menschen, die sich aus der Armut befreien konnten, taten dies aufgrund der Umsiedlung, die oft die dramatischste Maßnahme des Programms war. Ein umgesiedelter Einwohner, Mou’se, beschrieb Atule’er, einem Dorf am Fuße eines Berges, wo er vor seiner Umsiedlung lebte. «Ich brauchte einen halben Tag, um die Klippe hinunterzuklettern und ein Päckchen Salz zu kaufen», erinnerte er sich. Er kletterte auf einer «Himmelsleiter» aus Rattan hinunter, die gefährlich vom Rand der Klippe baumelte. Seine Umsiedlung – zusammen mit den dreiundachtzig anderen Familien, die dort lebten – ermöglichte ihm den Zugang zu besseren Einrichtungen und ein weniger unsicheres Leben.
Die Beseitigung der extremen Armut ist von großer Bedeutung, aber sie löst nicht alle Probleme. Die soziale Ungleichheit in China ist nach wie vor ein ernstes Problem. Dies sind nicht nur Chinas Probleme, sondern drängende Probleme, mit denen die Menschheit in unserer Zeit konfrontiert ist. Wenn wir zu einer kapitalintensiven Landwirtschaft übergehen, die weniger Landwirt*innen benötigt, welche Arten von Lebensräumen werden wir dann schaffen, die weder in ländlichen noch in städtischen Gebieten liegen? Welche Art von Beschäftigung kann für Menschen geschaffen werden, die nicht mehr auf den Feldern gebraucht werden? Können wir anfangen, über eine kürzere Arbeitswoche nachzudenken, die mehr Zeit für zivilgesellschaftliches und soziales Engagement lässt?
Die Beseitigung der Armut ist kein chinesisches Projekt. Es ist das Ziel der Menschheit. Deshalb schauen sich Bewegungen und Regierungen, die sich diesem Ziel verschrieben haben, bei den Leistungen des chinesischen Volkes genau hin. Viele der bereits laufenden Projekte verfolgen jedoch einen völlig anderen Ansatz, indem sie versuchen, die Armut durch Einkommenstransfers zu bekämpfen (wie es mehrere südafrikanische Forschungsinstitute befürworten). Doch Geldtransfers sind nicht genug. Die multidimensionale Armut erfordert mehr als das. Das brasilianische Bolsa Familia-Programm des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva beispielsweise hat den Hunger in diesem Land erheblich eingedämmt, war aber nicht darauf angelegt, die Armut zu beseitigen.
Im indischen Bundesstaat Kerala sank die absolute Armut unter der Regierung der Demokratischen Linksfront von 59,79 % der Bevölkerung im Zeitraum 1973–74 auf 7,05 % im Zeitraum 2011–2012. Die Mechanismen, die zu diesem beeindruckenden Rückgang führten, waren die Agrarreform, die Einführung des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens, die Schaffung eines öffentlichen Verteilungssystems für Lebensmittel, die Dezentralisierung der politischen Macht auf lokale Selbstverwaltungen, die Bereitstellung von sozialer Sicherheit und Wohlfahrt sowie die Förderung öffentlichen Handelns (z. B. durch die Kudumbashree-Genossenschaftsprojekte). Der Ministerpräsident von Kerala, Pinarayi Vijayan, erklärte vor kurzem, dass sich seine Regierung der Beseitigung der extremen Armut in diesem Bundesstaat verschrieben hat. Die nächste Studie in unserer Reihe über den sozialistischen Aufbau wird sich auf die Genossenschaftsbewegung in Kerala konzentrieren und ihre Rolle bei der Ausrottung von Armut, Hunger und Patriarchat beleuchten.
Im März veröffentlichte das UN-Umweltprogramm seinen Lebensmittelverschwendungsindex- Bericht, aus dem hervorging, dass weltweit schätzungsweise 931 Millionen Tonnen an Lebensmitteln im Müll landen. Das Gewicht dieser Lebensmittel entspricht etwa 23 Millionen voll beladenen 40-Tonnen-Lkws. Würden wir diese Lastwagen Stoßstange an Stoßstange um die Erde stellen, würden sie einen Ring bilden, der lang genug wäre, um die Erde sieben Mal zu umrunden – oder tief in den Weltraum zu fliegen, wo die Milliardäre Jeff Bezos und Richard Branson momentan am liebsten hingehen. Mit den 5,5 Milliarden Dollar, die Bezos für einen vierminütigen Flug ins All ausgab, hätte man 37,5 Millionen Menschen ernähren oder das COVAX-Programm finanzieren können, mit dem zwei Milliarden Menschen geimpft werden könnten.
Die Ambitionen von Bezos und Branson sind nicht das Leben. Leben ist die Abschaffung der Härte der Not.
Herzlichst,
Vijay