Vereint die Jugend der Welt!

Der dreißigste Newsletter (2023)

Angela Davis mit DDR-Bildungs­mi­nis­te­rin Margot Honecker und der sowje­ti­schen Kosmo­nau­tin Valen­tina Teresch­kowa, Ost-Berlin, 1973. Foto: ADN-Bildarchiv.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Vom 28. Juli bis 5. August 1973 nahmen acht Millio­nen Menschen, darun­ter 25.600 Gäste aus 140 Ländern, an den 10. Welt­fest­spie­len der Jugend und Studen­ten in Ost-Berlin (Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik) teil. Die Fest­spiele waren eine der wich­tigs­ten Veran­stal­tun­gen des Welt­bun­des der Demo­kra­ti­schen Jugend (WBDJ), der auf der Welt­ju­gend­kon­fe­renz in London (Groß­bri­tan­nien) im Novem­ber 1945 gegrün­det wurde. Die Welt­fest­spiele von 1973 markier­ten einen histo­ri­schen Moment: Die Vietnames*innen schie­nen auf dem Vormarsch gegen die US-Streit­kräfte zu sein, von Mosam­bik bis Cap Verde stan­den die Völker der afri­ka­ni­schen Kolo­nien Portu­gals kurz davor, die Macht zu über­neh­men, und in Chile befand sich die Regie­rung der Unidad Popu­lar in einem großen Kampf gegen die multi­na­tio­na­len Kupfer­kon­zerne und Washington.

 

Als sich diese viel­fäl­ti­gen Möglich­kei­ten entfal­te­ten, fühl­ten junge Menschen, dass sie eine echte Zukunft haben konn­ten. Viele der Festspielteilnehmer*innen hatten sich während der Kampa­gne zur Befrei­ung von Angela Davis, der kommu­nis­ti­schen Ange­hö­ri­gen der Black Panther-Bewe­gung, aus dem Gefäng­nis radi­ka­li­siert, und dann stand sie da auf der Bühne in Ost-Berlin neben der sowje­ti­schen Kosmo­nau­tin und ersten Frau im Welt­raum Valen­tina Teresch­kowa. Die jungen Teilnehmer*innen hörten Musik von über 100 Bands und Solo-Künstler*innen aus 45 Ländern, darun­ter Miriam Makeba aus Südafrika und Inti-Illi­mani aus Chile, die sangen:

 

Wir werden siegen, wir werden siegen.

Tausend Ketten müssen wir sprengen.

Wir werden siegen, wir werden siegen,

Wir wissen, wie man das Elend (den Faschis­mus) überwindet.

 

Bauern, Solda­ten, Bergleute,

auch die Frauen unse­res Landes,

Studen­ten, Ange­stellte und Arbeiter,

Wir werden unsere Pflicht erfüllen.

 

Wir werden das Land mit Ruhm besäen.

Der Sozia­lis­mus wird die Zukunft sein.

Alle zusam­men werden wir Geschichte schreiben

Um zu siegen, um zu siegen, um zu siegen.

 

Eröff­nungs­feier der 10. Welt­ju­gend­fest­spiele auf dem sozia­lis­ti­schen Boule­vard Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin. Foto: Bild und Heimat.

Wir leben in einer so ande­ren Zeit. Von den welt­weit 1,21 Milli­ar­den Jugend­li­chen (zwischen 15 und 24 Jahren), die etwa 15,5 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung ausma­chen, sind laut einer aktu­el­len Studie der Welt­bank sieben von zehn «wirt­schaft­lich nicht oder zu wenig inte­griert». Das bedeu­tet, sie befin­den sich weder in Schu­lung, Beschäf­ti­gung noch Ausbil­dung, auch bekannt als NEET (= «Not in Educa­tion, Employ­ment, or Trai­ning»). Im Jahr 2021 waren welt­weit schät­zungs­weise 448 Millio­nen Jugend­li­che nicht oder zu wenig inte­griert– eine erschre­ckende Zahl. In Latein­ame­rika, Südasien und afri­ka­ni­schen Ländern südlich der Sahara liegt die Quote der nicht oder nicht ausrei­chend inte­grier­ten Jugend­li­chen bei über 70 bis 80 Prozent. Insge­samt machen Jugend­li­che 40 Prozent der arbeits­lo­sen Bevöl­ke­rung der Welt aus. Diese Umstände belas­ten junge Menschen schwer: Unter den 10- bis 19-Jähri­gen leidet jede*r Siebte an psychi­schen Proble­men, und Selbst­mord ist die viert­häu­figste Todes­ur­sa­che bei Jugend­li­chen zwischen 15 und 19 Jahren. In Alge­rien gibt es ein Wort, das diese jungen Menschen beschreibt: hittis. Es bedeu­tet «Mauern» und bezieht sich auf junge Menschen, die an Mauern lehnen.

 

Die Gefühle großer Freude und Hoff­nung, die 1973 in Ost-Berlin herrsch­ten, sind bei den meis­ten Jugend­li­chen der Welt heute schlicht nicht vorhan­den. Wer sich poli­tisch enga­giert, ist frus­triert von den Groß­mäch­ten, die nicht schnell genug handeln, um die Klima­ka­ta­stro­phe zu bewäl­ti­gen. Andere finden sich im Stru­del der sozia­len Medien wieder, wo Algo­rith­men eine Art unpo­li­ti­sche Poli­tik schaf­fen, die oft eher von indi­vi­du­el­ler Bosheit und Wut als von gemein­sa­mem Kampf und Hoff­nung geprägt ist.

 

Natür­lich gibt es auch Berei­che, in denen Zuver­sicht herrscht, Kämpfe, die von jungen Menschen an den Front­li­nien von Umver­tei­lung und Aner­ken­nung geführt werden, auf Streik­pos­ten und bei Märschen, wo sie ihre eige­nen Banner hoch­hal­ten, auf denen die Slogans der Jugend von 1973 wider­hal­len. Sie werden von den Bana­li­tä­ten des Neoli­be­ra­lis­mus gestört und ihnen werden falsche Lösun­gen ange­bo­ten, wie sie in den Titeln der Vorzeige-Welt­ju­gend­be­richte der Verein­ten Natio­nen, «Youth Social Entre­pre­neur­ship» und «Youth Civic Enga­ge­ment», zum Ausdruck kommen. Nichts­des­to­trotz sind die Slogans der Jugend in Bewe­gung reicher und voller als die Lösun­gen, die ihnen ange­bo­ten werden, geprägt von der Einsicht, dass eine Nicht-Inte­grie­rungs­rate von über 70 Prozent nicht durch Schu­lun­gen oder sozia­les Unter­neh­mer­tum beho­ben werden kann.

Die Band WIR tritt während der 10. Welt­fest­spiele auf dem Alex­an­der­platz auf. Foto: Imago/Gueffroy.

In dieser Woche blicken wir auf die Welt­fest­spiele von 1973 zurück, um unser Gefühl für die Möglich­kei­ten wieder­zu­be­le­ben, die jungen Menschen noch zur Verfü­gung stehen, für die Sehn­sucht nach etwas, das weit­aus verlo­cken­der ist als die Karg­heit der kapi­ta­lis­ti­schen Lösun­gen. Unsere Kolle­gen von der Inter­na­tio­na­len Forschungs­stelle DDR (IFDDR) in Berlin erin­nern an die Welt­fest­spiele 1973 mit einer Kampa­gne vom 28. Juli bis zum 5. August 2023 über die Auswir­kun­gen des Festi­vals auf verschie­dene Länder, von Viet­nam bis Kuba, von Guinea-Bissau bis zu den USA und Chile (ihr könnt die Serie auf den Social-Media-Kanä­len der IFDDR verfol­gen).

 

Einen Monat nach dem Ende der Fest­spiele verließ ein Teil des chile­ni­schen Mili­tärs unter der Führung von Gene­ral Augusto Pino­chet seine Kaser­nen, griff die Regie­rung der Unidad Popu­lar von Präsi­dent Salva­dor Allende an (der bei einem Hand­ge­menge ums Leben kam) und begann mit der Unter­drü­ckung aller linken Kräfte im Lande. Im Septem­ber, zum 50. Jahres­tag des Putsches, wird Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch zusam­men mit dem chile­ni­schen Insti­tuto de Cien­cias Alejan­dro Lipschutz Centro de Pensa­mi­ento e Inves­ti­ga­ción Social y Polí­tica (ICAL) unser Dossier Nr. 68, The Coup Against the Third World: Chile, 1973 («Der Putsch gegen die Dritte Welt: Chile, 1973»). Das Dossier wird den Kontext dieses Putsches und seine globa­len Auswir­kun­gen näher beleuch­ten, die sich in der Stim­mung der Jugend­welt­fest­spiele von 1973 abzeich­ne­ten. Diese Stim­mung wird in einem Arti­kel der IFDDR beschrie­ben wird, den wir in den News­let­ters einbetten.

Chilen*innen auf den Fest­spie­len von 1973. Foto: Jürgen Sinder­mann via Bundes­ar­chiv Bild 183-M0804-0760.

1970 gewann die Unidad Popu­lar, ein Bünd­nis linker Kräfte, die Wahlen in Chile, und Salva­dor Allende wurde Präsi­dent. Die Eupho­rie über diesen Sieg hallte in ande­ren sozia­lis­ti­schen Staa­ten nach, auch wenn die Lage vor Ort ange­spannt blieb. Die Tatsa­che, dass das rohstoff­rei­che Land einen unab­hän­gi­gen Weg einschla­gen und die Souve­rä­ni­tät über seine Rohstoff­in­dus­trien – die jahr­zehn­te­lang von US-ameri­ka­ni­schen und euro­päi­schen Unter­neh­men beherrscht worden waren – erlan­gen wollte, wurde vom Westen nicht akzeptiert.

 

Allen­des Maßnah­men, wie die Verstaat­li­chung des Berg­bau­sek­tors, provo­zier­ten dieje­ni­gen, die am meis­ten zu verlie­ren hatten: die alten chile­ni­schen Eliten, Großgrundbesitzer*innen, auslän­di­sche Unter­neh­men und deren Regie­run­gen. Diese reak­tio­näre Bedro­hung hing von Anfang an wie ein dunk­ler Schat­ten über dem progres­si­ven Bünd­nis. Anschläge und Ermor­dun­gen von Vertreter*innen der Volks­front waren keine Seltenheit.

 

Ange­sichts der prekä­ren Situa­tion in ihrem Heimat­land betonte Gladys Marín, dama­lige Gene­ral­se­kre­tä­rin der Kommu­nis­ti­schen Jugend Chiles, in einem Inter­view: «Das Soli­da­ri­täts­tref­fen für Chile hier in Berlin hatte ein großes inter­na­tio­na­les Gewicht, weil es in einer sehr kriti­schen Zeit für mein Heimat­land statt­fand». Sie führte die 60-köpfige chile­ni­sche Dele­ga­tion, die sich aus einem Quer­schnitt der in der Regie­rungs­ko­ali­tion vertre­te­nen Orga­ni­sa­tio­nen zusam­men­setzte, zu den 10. Welt­fest­spie­len in die DDR. Chile war eines der bestim­men­den Themen des Festi­vals, bei dem die Soli­da­ri­tät mit der Unidad Popu­lar ange­sichts der andau­ern­den impe­ria­lis­ti­schen Offen­sive immer wieder betont wurde und Vence­re­mos in der Menge erklang.

 

Doch die Sieges­ge­wiss­heit erfuhr einen herben Rück­schlag. Kurz nach ihrer Rück­kehr von einer ausge­dehn­ten Reise als Vertre­te­rin der neuen Regie­rung, die bis nach Asien reichte, musste Marín nach Pino­chets Putsch am 11. Septem­ber 1973 unter­tau­chen. In West­deutsch­land wurde der Putsch mit Freude aufge­nom­men, und der Handel mit der Pino­chet-Dikta­tur boomte in der Folge. Im Jahr 1974 stie­gen die Exporte aus West­deutsch­land um über 40 Prozent und die Importe um 65 Prozent. Franz Josef Strauß, lang­jäh­ri­ger west­deut­scher Poli­ti­ker und Vorsit­zen­der der Christ­lich-Sozia­len Union (CSU), kommen­tierte den Putsch damals zynisch: «Ange­sichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort ‹Ordnung› für die Chile­nen plötz­lich wieder einen süßen Klang».

 

Marín, nun im Exil, reiste wieder in befreun­dete Länder. Dieser Weg führte sie erneut durch die DDR, die neben ande­ren Ländern Exilchilen*innen wie Michelle Bache­let (die spätere Präsi­den­tin Chiles im Jahr 2006) Zuflucht bot. Die Ereig­nisse in Chile vertief­ten die Soli­da­ri­täts­be­we­gung in der DDR. Unmit­tel­bar nach dem Putsch versam­mel­ten sich Menschen spon­tan auf den Stra­ßen Berlins und brach­ten ihre Unter­stüt­zung für die Volks­ein­heit zum Ausdruck. Das Soli­da­ri­täts­ko­mi­tee der DDR rich­tete das Chile­zen­trum in Berlin ein, das Spen­den­ak­tio­nen und Hilfe für fast 2.000 chile­ni­sche Emigrant*innen koor­di­nierte. Es wurden inter­na­tio­nale Soli­da­ri­täts­kam­pa­gnen gestar­tet, darun­ter eine für die Frei­las­sung von Luis Corvalán, dem Gene­ral­se­kre­tär der Kommu­nis­ti­schen Partei Chiles. Der Besuch der chile­ni­schen Dele­ga­tion bei den Welt­fest­spie­len Anfang des Jahres hatte die Soli­da­ri­täts­be­we­gung gefes­tigt, die sich in den Jahren nach dem Putsch von 1973 als entschei­dend erwei­sen sollte. Marín sagte zu den begeis­ter­ten Jugend­li­chen, die sie auf dem Festi­val empfin­gen: «Wir sind mit großen Erwar­tun­gen nach Berlin gekom­men … Das Festi­val wird unse­ren gemein­sa­men welt­wei­ten Kampf gegen den Impe­ria­lis­mus weiter stärken».

Inti-Illi­mani mit Gladys Marin bei den 10. Weltjugendspielen. 

Jorge Coulon, ein Grün­dungs­mit­glied der Band Inti-Illi­mani, der aus Sant­iago ange­reist war, um auf dem Festi­val in Berlin zu singen, erzählte mir:

 

Wir waren Teil einer sehr großen Dele­ga­tion von Gewerk­schafts­füh­rern, Kunst­schaf­fen­den, Arbei­tern, sozia­len Orga­ni­sa­tio­nen, Jour­na­lis­ten und Studen­ten. … Wenige Monate zuvor hatte Salva­dor Allende Chile als ein stil­les Viet­nam bezeich­net, weil die Nixon-Regie­rung die Grund­la­gen der chile­ni­schen Wirt­schaft angriff und Mächte finan­zierte, die die Regie­rung der Unidad Popu­lar stür­zen woll­ten. Mit dem Geist des Wider­stands, umge­ben von der groß­ar­ti­gen Soli­da­ri­tät der Welt­ju­gend, sangen wir bei der Eröff­nung die Hymne der Unidad, und die soli­da­ri­sche Welt sang mit uns den Refrain: «Vence­re­mos, tausend Ketten müssen wir sprengen».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.