Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du heute für den Frieden kämpfst.
Der dreißigste Newsletter (2022)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Wie unsicher die europäische Energieversorgung ist, hat sich in den letzten Monaten einmal mehr gezeigt. Die Gaslieferungen durch die Nord Stream 1‑Pipeline, die von Russland nach Deutschland führt, wurden im Juni auf 40 % der Kapazität reduziert, was laut Moskau auf Verzögerungen der Wartung einer Turbine durch das deutsche Unternehmen Siemens zurückzuführen war. Kurz darauf, am 11. Juli, wurde die Pipeline für die jährliche Routinewartung für zehn Tage vom Netz genommen. Trotz der Zusicherung Moskaus, dass die Lieferungen planmäßig wieder aufgenommen würden, äußerten die europäischen Staats- und Regierungschefs die Befürchtung, dass die Abschaltung als Vergeltung für die gegen Russland nach der Invasion in der Ukraine verhängten Sanktionen auf unbestimmte Zeit andauern würde. Am 21. Juli wurden die russischen Gaslieferungen nach Europa wieder aufgenommen. Klaus Müller, Leiter der deutschen Energieregulierungsbehörde, sagte, dass die Gasflüsse durch Nord Stream 1 in den ersten Stunden nach der Wiederaufnahme unter dem Niveau vor den Wartungsarbeiten lagen, jetzt aber 40 % der Kapazität erreicht haben.
Die Ängste in Europa in Bezug auf die Energieversorgung hängen mit den Befürchtungen der Regierungen der Region vor einer weiteren Instabilität in der Eurozone zusammen. Am selben Tag, an dem Nord Stream 1 wieder in Betrieb genommen wurde, trat der italienische Ministerpräsident Mario Draghi zurück – der bislang letzte in einer Reihe von dramatischen Rücktritten von Regierungschefs in Bulgarien, Estland und dem Vereinigten Königreich. Der Widerstand in Europa gegen ein Friedensabkommen mit Russland geht einher mit der Erkenntnis, dass Handel mit Russland unvermeidlich ist.
Bei No Cold War, einer internationalen Plattform, die bestrebt ist, Vernunft in die internationalen Beziehungen zu bringen, haben wir den sich verändernden Tenor des Krieges in der Ukraine und die von den USA gesteuerte Hetzkampagne gegen China genau beobachtet. Wir haben in unseren Newslettern drei frühere Briefings dieser Plattform veröffentlicht; unten finden Sie Briefing Nr. 4, The World Does Not Want A Global NATO, in dem es um die zunehmende Klarheit im globalen Süden hinsichtlich des US-amerikanisch-europäischen Versuchs geht, eine kriegerische Agenda in der Welt durchzusetzen. Diese neue Klarheit besteht nicht nur in Bezug auf die Militarisierung des Planeten, sondern auch auf die sich verschärfenden Konflikte in den Bereichen Handel und Entwicklung, wie die neue Initiative der G7, die Partnerschaft für globale Infrastruktur und Entwicklung, zeigt, die eindeutig auf Chinas Belt and Road Initiative abzielt.
Im Juni kamen die Mitgliedstaaten der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) in Madrid, Spanien, zu ihrem jährlichen Gipfel zusammen. Auf dem Treffen verabschiedete die NATO ein neues Strategisches Konzept, das zuletzt 2010 aktualisiert worden war. Darin bezeichnet die NATO Russland als ihre «bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung» und nennt China als «Herausforderung [für] unsere Interessen». Nach den Worten von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt dieses Leitdokument eine grundlegende Veränderung «für das Militärbündnis dar, seine größte Generalüberholung … seit dem Kalten Krieg».
Eine Monroe-Doktrin für das 21. Jahrhundert?
Zwar gibt die NATO vor, ein «Verteidigungs» Bündnis zu sein, doch diese Behauptung wird durch ihr zerstörerisches Erbe – wie in Serbien (1999), Afghanistan (2001) und Libyen (2011) – und ihre immer größer werdende globale Präsenz widerlegt. Auf dem Gipfel machte die NATO deutlich, dass sie beabsichtigt, ihre globale Expansion fortzusetzen, um Russland und China entgegenzutreten. Scheinbar ungeachtet des unermesslichen menschlichen Leids, das der Krieg in der Ukraine verursacht hat, erklärte die NATO, dass ihre «Erweiterung ein historischer Erfolg war … und zu Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum beigetragen hat», und sprach Finnland und Schweden eine offizielle Einladung zur Mitgliedschaft aus.
Der Blick der NATO geht jedoch weit über den «euro-atlantischen» Raum hinaus und richtet sich auf den Globalen Süden. In dem Bestreben, in Asien Fuß zu fassen, begrüßte die NATO zum ersten Mal Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland als Gipfelteilnehmer und erklärte, dass der indopazifische Raum für die NATO wichtig sei. Darüber hinaus nannte das Strategische Konzept in Anlehnung an die Monroe-Doktrin (1823) von vor zweihundert Jahren «Afrika und den Nahen Osten» als «südliche Nachbarschaft der NATO», und Stoltenberg verwies in ominöser Weise darauf, dass «der zunehmende Einfluss Russlands und Chinas in der südlichen Nachbarschaft [des Bündnisses]» eine «Herausforderung» darstelle.
85% der Welt streben nach Frieden
Die NATO-Mitgliedstaaten mögen zwar glauben, dass sie über globale Autorität verfügen, aber die überwältigende Mehrheit der Welt glaubt dies nicht. Die internationale Reaktion auf den Krieg in der Ukraine zeigt, dass eine tiefe Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und ihren engsten Verbündeten auf der einen und dem Globalen Süden auf der anderen Seite besteht.
Regierungen, die 6,7 Milliarden Menschen – 85 % der Weltbevölkerung – vertreten, haben sich geweigert, die von den USA und ihren Verbündeten gegen Russland verhängten Sanktionen zu befolgen, während Länder, die nur 15 % der Weltbevölkerung repräsentieren, diesen Maßnahmen gefolgt sind. Laut Reuters sind die einzigen nicht-westlichen Regierungen, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben, Japan, Südkorea, die Bahamas und Taiwan – allesamt Länder, die US-Militärstützpunkte oder ‑personal beherbergen.
Noch weniger Unterstützung findet der von den USA und der Europäischen Union vorangetriebene Vorstoß, den Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren. Regierungen, die nur 12 % der Weltbevölkerung repräsentieren, haben sich dieser Politik angeschlossen, während 88 % dies nicht tun.
Die von den USA geführten Bemühungen, Russland auf der internationalen Bühne politisch zu isolieren, waren bisher erfolglos. Im März stimmte die UN-Generalversammlung über eine nicht bindende Resolution ab, in der der Einmarsch Russlands in die Ukraine verurteilt wurde: 141 Länder stimmten dafür, 5 Länder stimmten dagegen, 35 Länder enthielten sich und 12 Länder waren nicht anwesend. Diese Zahl gibt jedoch nicht die ganze Geschichte wieder. Die Länder, die entweder gegen die Resolution stimmten, sich der Stimme enthielten oder nicht anwesend waren, repräsentieren 59 % der Weltbevölkerung. In der Folge wurde die Forderung der Regierung Biden, Russland vom G20-Gipfel in Indonesien auszuschließen, ignoriert.
In der Zwischenzeit sind die Bemühungen, Unterstützung für die Ukraine im Globalen Süden zu gewinnen, trotz intensiver Unterstützung durch die NATO völlig gescheitert. Am 20. Juni sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij nach mehrmaliger Aufforderung vor der Afrikanischen Union; nur zwei Staatsoberhäupter der 55 Mitglieder der kontinentalen Organisation nahmen an dem Treffen teil. Kurz darauf wurde Selenskijs Antrag, vor dem lateinamerikanischen Handelsblock Mercosur zu sprechen, abgelehnt.
Es ist klar, dass die Behauptung der NATO, ein «Bollwerk der auf Regeln basierenden internationalen Ordnung» zu sein, von den meisten Menschen in der Welt nicht geteilt wird. Die Unterstützung für die Politik des Militärbündnisses beschränkt sich fast ausschließlich auf seine Mitgliedsstaaten und eine Handvoll Verbündeter, die zusammen eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung darstellen. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lehnt die Politik und die globalen Bestrebungen der NATO ab und möchte die internationale Gemeinschaft nicht in überholte Blöcke aus dem Kalten Krieg aufteilen.
1955, zehn Jahre nach dem Atombombenabwurf der USA auf Hiroshima (Japan), schrieb der türkische Dichter Nâzim Hikmet ein Gedicht in der Stimme eines siebenjährigen Mädchens, das bei diesem schrecklichen Ereignis ums Leben kam. Das Gedicht wurde später von Nobuyuki Nakamoto als «Shinda Onnanoko» («Totes Mädchen») ins Japanische übersetzt und wird häufig bei Gedenkfeiern für diese Gräueltat gesungen. Angesichts der Härte des Krieges und der Eskalation der Konflikte lohnt es sich, noch einmal über Hikmets schönen, eindringlichen Text nachzudenken:
Nâzim Hikmet
Das kleine tote Mädchen
Ich klopf an deiner Türe an,
– bei wie viel Türen ich schon war! –
wenn mich auch keiner sehen kann;
denn die Toten sind unsichtbar.
Ich lebte in Hiroshima
Das ist zehn Jahre her
Jetzt bleib ich für immer sieben Jahr‘
Tote Kinder wachsen nicht mehr.
Zuerst fing das Feuer mein Haar,
dann sind mir die Augen verbrannt,
die Hände‑, mein Blut ist verdampft.
Bis ich nurmehr Asche war.
Nichts Liebes mehr tun könnt ihr mir.
Nichts, nichts. Ihr müsst bedenken,
ein Kind ist verbrannt wie Papier.
Ihr könnt ihm nichts mehr schenken.
Leis’ klopf ich an eure Türen
Gebt mir eure Unterschrift
Dass es nie mehr Kinder trifft,
dass nie mehr Kinder verbrennen,
und dass sie Bonbons essen können
Herzlichst,
Vijay