Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du heute für den Frieden kämpfst.

Der dreißigste Newsletter (2022)

Fuyuko Matsui (Japan), Beco­ming Friends with All the Child­ren of the World, 2004

 

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Wie unsi­cher die euro­päi­sche Ener­gie­ver­sor­gung ist, hat sich in den letz­ten Mona­ten einmal mehr gezeigt. Die Gaslie­fe­run­gen durch die Nord Stream 1‑Pipeline, die von Russ­land nach Deutsch­land führt, wurden im Juni auf 40 % der Kapa­zi­tät redu­ziert, was laut Moskau auf Verzö­ge­run­gen der Wartung einer Turbine durch das deut­sche Unter­neh­men Siemens zurück­zu­füh­ren war. Kurz darauf, am 11. Juli, wurde die Pipe­line für die jähr­li­che Routi­ne­war­tung für zehn Tage vom Netz genom­men. Trotz der Zusi­che­rung Moskaus, dass die Liefe­run­gen plan­mä­ßig wieder aufge­nom­men würden, äußer­ten die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs die Befürch­tung, dass die Abschal­tung als Vergel­tung für die gegen Russ­land nach der Inva­sion in der Ukraine verhäng­ten Sank­tio­nen auf unbe­stimmte Zeit andau­ern würde. Am 21. Juli wurden die russi­schen Gaslie­fe­run­gen nach Europa wieder aufge­nom­men. Klaus Müller, Leiter der deut­schen Ener­gie­re­gu­lie­rungs­be­hörde, sagte, dass die Gasflüsse durch Nord Stream 1 in den ersten Stun­den nach der Wieder­auf­nahme unter dem Niveau vor den Wartungs­ar­bei­ten lagen, jetzt aber 40 % der Kapa­zi­tät erreicht haben. 

 

Die Ängste in Europa in Bezug auf die Ener­gie­ver­sor­gung hängen mit den Befürch­tun­gen der Regie­run­gen der Region vor einer weite­ren Insta­bi­li­tät in der Euro­zone zusam­men. Am selben Tag, an dem Nord Stream 1 wieder in Betrieb genom­men wurde, trat der italie­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Mario Draghi zurück – der bislang letzte in einer Reihe von drama­ti­schen Rück­trit­ten von Regie­rungs­chefs in Bulga­rien, Estland und dem Verei­nig­ten König­reich. Der Wider­stand in Europa gegen ein Frie­dens­ab­kom­men mit Russ­land geht einher mit der Erkennt­nis, dass Handel mit Russ­land unver­meid­lich ist.

 

Bei No Cold War, einer inter­na­tio­na­len Platt­form, die bestrebt ist, Vernunft in die inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen zu brin­gen, haben wir den sich verän­dern­den Tenor des Krie­ges in der Ukraine und die von den USA gesteu­erte Hetz­kam­pa­gne gegen China genau beob­ach­tet. Wir haben in unse­ren News­let­tern drei frühere Brie­fings dieser Platt­form veröf­fent­licht; unten finden Sie Brie­fing Nr. 4, The World Does Not Want A Global NATO, in dem es um die zuneh­mende Klar­heit im globa­len Süden hinsicht­lich des US-ameri­ka­nisch-euro­päi­schen Versuchs geht, eine krie­ge­ri­sche Agenda in der Welt durch­zu­set­zen. Diese neue Klar­heit besteht nicht nur in Bezug auf die Mili­ta­ri­sie­rung des Plane­ten, sondern auch auf die sich verschär­fen­den Konflikte in den Berei­chen Handel und Entwick­lung, wie die neue Initia­tive der G7, die Part­ner­schaft für globale Infra­struk­tur und Entwick­lung, zeigt, die eindeu­tig auf Chinas Belt and Road Initia­tive abzielt.

 

 

Im Juni kamen die Mitglied­staa­ten der Nord­at­lan­tik­ver­trags-Orga­ni­sa­tion (NATO) in Madrid, Spanien, zu ihrem jähr­li­chen Gipfel zusam­men. Auf dem Tref­fen verab­schie­dete die NATO ein neues Stra­te­gi­sches Konzept, das zuletzt 2010 aktua­li­siert worden war. Darin bezeich­net die NATO Russ­land als ihre «bedeu­tendste und unmit­tel­barste Bedro­hung» und nennt China als «Heraus­for­de­rung [für] unsere Inter­es­sen». Nach den Worten von NATO-Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg stellt dieses Leit­do­ku­ment eine grund­le­gende Verän­de­rung «für das Mili­tär­bünd­nis dar, seine größte Gene­ral­über­ho­lung … seit dem Kalten Krieg». 

 

Eine Monroe-Doktrin für das 21. Jahrhundert?

 

Zwar gibt die NATO vor, ein «Vertei­di­gungs» Bünd­nis zu sein, doch diese Behaup­tung wird durch ihr zerstö­re­ri­sches Erbe – wie in Serbien (1999), Afgha­ni­stan (2001) und Libyen (2011) – und ihre immer größer werdende globale Präsenz wider­legt. Auf dem Gipfel machte die NATO deut­lich, dass sie beab­sich­tigt, ihre globale Expan­sion fort­zu­set­zen, um Russ­land und China entge­gen­zu­tre­ten. Schein­bar unge­ach­tet des uner­mess­li­chen mensch­li­chen Leids, das der Krieg in der Ukraine verur­sacht hat, erklärte die NATO, dass ihre «Erwei­te­rung ein histo­ri­scher Erfolg war … und zu Frie­den und Stabi­li­tät im euro-atlan­ti­schen Raum beigetra­gen hat», und sprach Finn­land und Schwe­den eine offi­zi­elle Einla­dung zur Mitglied­schaft aus. 

 

Der Blick der NATO geht jedoch weit über den «euro-atlan­ti­schen» Raum hinaus und rich­tet sich auf den Globa­len Süden. In dem Bestre­ben, in Asien Fuß zu fassen, begrüßte die NATO zum ersten Mal Japan, Südko­rea, Austra­lien und Neusee­land als Gipfel­teil­neh­mer und erklärte, dass der indo­pa­zi­fi­sche Raum für die NATO wich­tig sei. Darüber hinaus nannte das Stra­te­gi­sche Konzept in Anleh­nung an die Monroe-Doktrin (1823) von vor zwei­hun­dert Jahren «Afrika und den Nahen Osten» als «südli­che Nach­bar­schaft der NATO», und Stol­ten­berg verwies in ominö­ser Weise darauf, dass «der zuneh­mende Einfluss Russ­lands und Chinas in der südli­chen Nach­bar­schaft [des Bünd­nis­ses]» eine «Heraus­for­de­rung» darstelle.

 

Pavel Pepper­stein (Russ­land), Groß­va­ter und Groß­mutter sind längst weg, 2013.

 

85% der Welt stre­ben nach Frieden

 

Die NATO-Mitglied­staa­ten mögen zwar glau­ben, dass sie über globale Auto­ri­tät verfü­gen, aber die über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Welt glaubt dies nicht. Die inter­na­tio­nale Reak­tion auf den Krieg in der Ukraine zeigt, dass eine tiefe Kluft zwischen den Verei­nig­ten Staa­ten und ihren engs­ten Verbün­de­ten auf der einen und dem Globa­len Süden auf der ande­ren Seite besteht.

 

Regie­run­gen, die 6,7 Milli­ar­den Menschen – 85 % der Welt­be­völ­ke­rung – vertre­ten, haben sich gewei­gert, die von den USA und ihren Verbün­de­ten gegen Russ­land verhäng­ten Sank­tio­nen zu befol­gen, während Länder, die nur 15 % der Welt­be­völ­ke­rung reprä­sen­tie­ren, diesen Maßnah­men gefolgt sind. Laut Reuters sind die einzi­gen nicht-west­li­chen Regie­run­gen, die Sank­tio­nen gegen Russ­land verhängt haben, Japan, Südko­rea, die Baha­mas und Taiwan – alle­samt Länder, die US-Mili­tär­stütz­punkte oder ‑perso­nal beherbergen.

 

Noch weni­ger Unter­stüt­zung findet der von den USA und der Euro­päi­schen Union voran­ge­trie­bene Vorstoß, den Luft­raum für russi­sche Flug­zeuge zu sper­ren. Regie­run­gen, die nur 12 % der Welt­be­völ­ke­rung reprä­sen­tie­ren, haben sich dieser Poli­tik ange­schlos­sen, während 88 % dies nicht tun.

 

Die von den USA geführ­ten Bemü­hun­gen, Russ­land auf der inter­na­tio­na­len Bühne poli­tisch zu isolie­ren, waren bisher erfolg­los. Im März stimmte die UN-Gene­ral­ver­samm­lung über eine nicht bindende Reso­lu­tion ab, in der der Einmarsch Russ­lands in die Ukraine verur­teilt wurde: 141 Länder stimm­ten dafür, 5 Länder stimm­ten dage­gen, 35 Länder enthiel­ten sich und 12 Länder waren nicht anwe­send. Diese Zahl gibt jedoch nicht die ganze Geschichte wieder. Die Länder, die entwe­der gegen die Reso­lu­tion stimm­ten, sich der Stimme enthiel­ten oder nicht anwe­send waren, reprä­sen­tie­ren 59 % der Welt­be­völ­ke­rung. In der Folge wurde die Forde­rung der Regie­rung Biden, Russ­land vom G20-Gipfel in Indo­ne­sien auszu­schlie­ßen, ignoriert.

 

Tadesse Mesfin (Äthio­pien), Säulen des Lebens: Harmo­nie, 2018.

 

In der Zwischen­zeit sind die Bemü­hun­gen, Unter­stüt­zung für die Ukraine im Globa­len Süden zu gewin­nen, trotz inten­si­ver Unter­stüt­zung durch die NATO völlig geschei­tert. Am 20. Juni sprach der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolo­dymyr Selen­s­kij nach mehr­ma­li­ger Auffor­de­rung vor der Afri­ka­ni­schen Union; nur zwei Staats­ober­häup­ter der 55 Mitglie­der der konti­nen­ta­len Orga­ni­sa­tion nahmen an dem Tref­fen teil. Kurz darauf wurde Selen­s­kijs Antrag, vor dem latein­ame­ri­ka­ni­schen Handels­block Merco­sur zu spre­chen, abge­lehnt.

 

Es ist klar, dass die Behaup­tung der NATO, ein «Boll­werk der auf Regeln basie­ren­den inter­na­tio­na­len Ordnung» zu sein, von den meis­ten Menschen in der Welt nicht geteilt wird. Die Unter­stüt­zung für die Poli­tik des Mili­tär­bünd­nis­ses beschränkt sich fast ausschließ­lich auf seine Mitglieds­staa­ten und eine Hand­voll Verbün­de­ter, die zusam­men eine kleine Minder­heit der Welt­be­völ­ke­rung darstel­len. Die Mehr­heit der Welt­be­völ­ke­rung lehnt die Poli­tik und die globa­len Bestre­bun­gen der NATO ab und möchte die inter­na­tio­nale Gemein­schaft nicht in über­holte Blöcke aus dem Kalten Krieg aufteilen.

 

Baha­dır Gökay (Türkei) Evvel, 2013.

 

1955, zehn Jahre nach dem Atom­bom­ben­ab­wurf der USA auf Hiro­shima (Japan), schrieb der türki­sche Dich­ter Nâzim Hikmet ein Gedicht in der Stimme eines sieben­jäh­ri­gen Mädchens, das bei diesem schreck­li­chen Ereig­nis ums Leben kam. Das Gedicht wurde später von Nobuy­uki Naka­moto als «Shinda Onna­noko» («Totes Mädchen») ins Japa­ni­sche über­setzt und wird häufig bei Gedenk­fei­ern für diese Gräu­el­tat gesun­gen. Ange­sichts der Härte des Krie­ges und der Eska­la­tion der Konflikte lohnt es sich, noch einmal über Hikmets schö­nen, eindring­li­chen Text nachzudenken: 

 

Nâzim Hikmet 

Das kleine tote Mädchen

 

Ich klopf an deiner Türe an,
– bei wie viel Türen ich schon war! –
wenn mich auch keiner sehen kann;
denn die Toten sind unsichtbar. 

 

Ich lebte in Hiro­shima
Das ist zehn Jahre her
Jetzt bleib ich für immer sieben Jahr‘
Tote Kinder wach­sen nicht mehr. 

 

Zuerst fing das Feuer mein Haar,
dann sind mir die Augen verbrannt,
die Hände‑, mein Blut ist verdampft.
Bis ich nurmehr Asche war. 

 

Nichts Liebes mehr tun könnt ihr mir.
Nichts, nichts. Ihr müsst beden­ken,
ein Kind ist verbrannt wie Papier.
Ihr könnt ihm nichts mehr schenken. 

 

Leis’ klopf ich an eure Türen
Gebt mir eure Unter­schrift
Dass es nie mehr Kinder trifft,
dass nie mehr Kinder verbren­nen,
und dass sie Bonbons essen können 

 

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.