
Wenn alle der NATO beitreten, wozu gibt es dann noch die Vereinten Nationen?
Der neunundzwanzigste Newsletter (2023).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Die Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) hat am 11. und 12. Juli in Vilnius, Litauen, ihren jährlichen Gipfel abgehalten. Im Kommuniqué, das nach dem ersten Tag veröffentlicht wurde, heißt es, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Diese Aussage bringt auf den Punkt, warum es vielen schwer fällt, das wahre Wesen der NATO zu begreifen. Ein Blick auf die jüngsten Zahlen zu Militärausgaben zeigt im Gegenteil, dass auf die NATO-Länder und die mit ihr eng verbündeten Länder fast drei Viertel der gesamten jährlichen weltweiten Ausgaben für Waffen entfallen. Viele dieser Staaten verfügen über hochmoderne Waffensysteme, die qualitativ gesehen zerstörerischer sind als die der Streitkräfte der meisten Nicht-NATO-Staaten. Im letzten Vierteljahrhundert hat die NATO ihre militärische Macht eingesetzt, um mehrere Staaten wie Afghanistan (2001) und Libyen (2011) zu zerstören und Gesellschaften mit der rohen Kraft ihres aggressiven Bündnisses zu zertrümmern und den Status Jugoslawiens (1999) als einheitlicher Staat zu beenden. Angesichts dieser Bilanz ist es schwierig, die Ansicht aufrechtzuerhalten, die NATO sei ein «Verteidigungsbündnis».
Der NATO gehören derzeit einunddreißig Mitgliedstaaten an, zuletzt Finnland, das im April 2023 beigetreten ist. Ihre Mitgliederzahl hat sich mehr als verdoppelt, seit die zwölf Gründungsmitglieder, allesamt Länder in Europa und Nordamerika, die am Krieg gegen die Achsenmächte beteiligt waren, am 4. April 1949 den Washingtoner Vertrag (auch bekannt als Nordatlantikvertrag) unterzeichneten, mit dem die NATO gegründet wurde. Es ist bezeichnend, dass eines dieser ursprünglichen Mitglieder — Portugal — zu dieser Zeit noch unter einer faschistischen Diktatur stand, dem sogenannten Estado Novo (der von 1933 bis 1974 bestand).
In Artikel 10 dieses Vertrags heißt es, dass die NATO-Mitglieder «einstimmig» jeden anderen europäischen Staat «zum Beitritt zum Militärbündnis einladen» können. Auf der Grundlage dieses Grundsatzes nahm die NATO Griechenland und die Türkei (1952), Westdeutschland (1955) und Spanien (1982) auf und erweiterte damit ihre Mitgliedschaft auf sechzehn Länder. Der Zerfall der UdSSR und der kommunistischen Staaten Osteuropas — die angebliche Bedrohung, die die Notwendigkeit der NATO überhaupt erst begründete — hat das Bündnisses nicht obsolet werden lassen. Stattdessen hat die wachsende Mitgliederzahl der NATO ihren Ehrgeiz verstärkt, ihre militärische Macht — gestützt auf Artikel 5 — einzusetzen, um alle zu unterwerfen, die das «Atlantische Bündnis» herausfordern.

Das «Atlantische Bündnis», eine Formulierung, die Bestandteil des NATO-Namens ist, war Teil eines umfassenderen Netzes von Militärverträgen, die die USA gegen die UdSSR und – nach Oktober 1949 – gegen die Volksrepublik China abgeschlossen hatten. Zu diesem Netzwerk gehörten der Manila-Pakt vom September 1954, mit dem die Südostasiatische Vertragsorganisation (SEATO) gegründet wurde, und der Bagdad-Pakt vom Februar 1955, mit dem die Zentrale Vertragsorganisation (CENTO) gegründet wurde. Die Türkei und Pakistan unterzeichneten im April 1954 ein Militärabkommen, das sie in einem Bündnis gegen die UdSSR zusammenführte und dieses Netzwerk durch das südlichste Mitglied der NATO (Türkei) und das westlichste Mitglied der SEATO (Pakistan) verband. Die USA unterzeichneten mit jedem Mitglied der CENTO und der SEATO ein Militärabkommen und stellten sicher, dass sie in diesen Strukturen einen Sitz am Tisch hatten.
Auf der Asiatisch-Afrikanischen Konferenz, die im April 1955 in Bandung (Indonesien) stattfand, reagierte der indische Premierminister Jawaharlal Nehru scharf auf die Schaffung dieser Militärbündnisse, die die Spannungen zwischen den USA und der UdSSR nach Asien exportierten. Das Konzept der NATO, so Nehru, habe sich «in zweierlei Hinsicht ausgeweitet»: Erstens habe sich die NATO «weit vom Atlantik entfernt und andere Ozeane und Meere erreicht», und zweitens sei «die NATO heute einer der mächtigsten Verteidiger des Kolonialismus». Als Beispiel verwies Nehru auf Goa, das immer noch vom faschistischen Portugal gehalten wurde und dessen Herrschaft von den NATO-Mitgliedern gestützt worden war — ein Akt, den Nehru als «grobe Unverschämtheit» bezeichnete. Diese Charakterisierung der NATO als globaler Kriegstreiber und Verteidiger des Kolonialismus bleibt, mit einigen Modifikationen, erhalten.

Die SEATO wurde 1977 aufgelöst, unter anderem wegen der Niederlage der USA in Vietnam, und die CENTO wurde 1979 geschlossen, gerade wegen der iranischen Revolution in diesem Jahr. Mit der Einrichtung des US Central Command im Jahr 1983 und der Wiederbelebung des US Pacific Command im selben Jahr änderte sich die US-Militärstrategie von der Anwendung dieser Art von Pakten hin zu direkten militärischen Auftritten. Die USA weiteten die Macht ihrer eigenen globalen militärischen Präsenz aus, einschließlich ihrer Fähigkeit, aufgrund ihrer Stützpunktstruktur und ihrer bewaffneten Flottillen (die nicht mehr durch den Zweiten Londoner Flottenvertrag von 1930, der 1939 auslief, beschränkt waren) überall auf der Welt anzugreifen. Obwohl die NATO schon immer globale Ambitionen hatte, wurde ein solches Bündnis nach und nach in Realität umgesetzt – durch Demonstrationen der Macht des US-Militärs und die Schaffung neuer Strukturen, die verbündete Staaten noch stärker in die NATO-Umlaufbahn einbanden (mit Programmen wie der 1994 ins Leben gerufenen «Partnerschaft für den Frieden» und Kategorien wie «globale NATO-Partner» und «Nicht-NATO-Verbündete», Rollen die etwa Japan und Südkorea einnahmen). In ihrem Strategischen Konzept von 1991 schrieb die NATO, dass sie «durch die Bereitstellung von Streitkräften für Missionen der Vereinten Nationen einen Beitrag zu Stabilität und Frieden in der Welt leisten» würde, was mit tödlicher Gewalt in Jugoslawien (1999), Afghanistan (2003) und Libyen (2011) umgesetzt wurde.
Auf dem Gipfel von Riga (2006) gab sich die NATO zuversichtlich, dass sie «von Afghanistan bis zum Balkan und vom Mittelmeer bis nach Darfur» einsatzfähig war. Nehrus Fokus auf den Kolonialismus mag heute anachronistisch erscheinen, aber in Wirklichkeit ist die NATO zu einem Instrument geworden, mit dem der Wunsch der globalen Mehrheit nach Souveränität und Würde — zwei zentralen antikolonialen Konzepten — unterdrückt werden kann. Jedes populäre Projekt, das diese beiden Konzepte zum Tragen bringt, findet sich in der Schusslinie eines NATO-Waffensystems wieder.

Der Zusammenbruch der UdSSR und des osteuropäischen kommunistischen Staatensystems veränderte die Realität in Europa. Die NATO ignorierte rasch die «eisernen Garantien», die US-Außenminister James Baker dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am 9. Februar 1990 in Moskau gegeben hatte, wonach sich die NATO-Truppen «nicht nach Osten» über die deutsche Grenze hinaus bewegen würden. Mehrere Staaten, die an die NATO-Zone grenzten, litten in der unmittelbaren Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer sehr unter der wirtschaftlichen Flaute, da die Privatisierung die Möglichkeiten der Bevölkerung für ein menschenwürdiges Leben zunichte machte. Viele osteuropäische Staaten wollten unbedingt in die Europäische Union (EU) eintreten, die zumindest den Zugang zum gemeinsamen Markt versprach, und sahen in einem Beitritt zur NATO den Preis für die Aufnahme. Im Jahr 1999 traten die Tschechische Republik, Ungarn und Polen der NATO bei, und 2004 folgten die baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen), Bulgarien, Rumänien, Slowenien und die Slowakei. Viele dieser Länder, die sich nach Investitionen und Märkten sehnten, traten 2004 in das Atlantische Bündnis der NATO und der EU ein.
Die NATO erweiterte sich weiter und nahm 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmazedonien auf. Der Zusammenbruch einiger US-Banken, die schwindende Attraktivität der USA als Markt der letzten Instanz und eine unerbittliche wirtschaftliche Depression in der atlantischen Welt in veränderten jedoch nach 2007 den Kontext. Die atlantischen Staaten waren als Investoren oder Märkte nicht mehr verlässlich. Nach 2008 gingen die Infrastrukturinvestitionen in der EU aufgrund gekürzter öffentlicher Ausgaben um 75 % zurück, und die Europäische Investitionsbank warnte, dass die staatlichen Investitionen ein Fünfundzwanzigjahrestief erreichen würden.

Die Ankunft chinesischer Investitionen und die Möglichkeit der Integration in die chinesische Wirtschaft führten zu einer Neuorientierung vieler Volkswirtschaften, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, weg vom Atlantik. Im Jahr 2012 fand in Warschau (Polen) das erste Gipfeltreffen zwischen China und den mittel- und osteuropäischen Ländern (China-CEEC-Gipfel) statt, an dem sechzehn Länder der Region teilnahmen. An diesem Prozess nahmen schließlich fünfzehn NATO-Mitglieder teil, darunter Albanien, Bulgarien, Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Nordmazedonien, Montenegro, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn (in den Jahren 2021 und 2022 zogen sich Estland, Lettland und Litauen aus dieser Initiative zurück). Im März 2015 traten sechs damalige EU-Mitgliedstaaten – Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, Schweden und das Vereinigte Königreich – der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank mit Sitz in Peking bei. Vier Jahre später trat Italien als erstes G7-Land der Belt and Road Initiative (BRI) bei. Zwei Drittel der EU-Mitgliedstaaten sind nun Teil der BRI, und die EU hat ein umfassendes Investitionsabkommen für 2020 abgeschlossen.
Diese Manöver in Richtung China drohten das Atlantische Bündnis zu schwächen, da die USA das Land in ihrer National Defense Strategy von 2018 als «strategischen Konkurrenten» bezeichneten — eine Formulierung, die auf den veränderten Fokus auf die sogenannte Bedrohung durch China hinweist. Dennoch sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch im November 2019, dass es «keine Pläne, keinen Vorschlag und keine Absicht gibt, die NATO beispielsweise ins Südchinesische Meer zu verlegen». Im Jahr 2020 hatte sich die Stimmung jedoch geändert: Nur sieben Monate später sagte Stoltenberg: «Die NATO sieht China nicht als neuen Feind oder Gegner. Wir stellen jedoch fest, dass der Aufstieg Chinas das globale Gleichgewicht der Kräfte grundlegend verändert». Die Reaktion der NATO bestehe darin, mit ihren Partnern — darunter Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea — zusammenzuarbeiten, «um die sicherheitspolitischen Folgen des Aufstiegs Chinas zu bewältigen», so Stoltenberg weiter. Die Möglichkeit einer globalen NATO und einer asiatischen NATO steht bei diesen Erwägungen im Vordergrund, wobei Stoltenberg in Vilnius erklärte, dass die Idee eines Verbindungsbüros in Japan «auf dem Tisch» liege.
Der Krieg in der Ukraine hat dem Atlantischen Bündnis neues Leben eingehaucht und mehrere zögerliche europäische Länder – wie Schweden – in seine Reihen getrieben. Doch selbst unter den Menschen, die in den NATO-Staaten leben, gibt es Gruppen, die den Zielen des Bündnisses skeptisch gegenüberstehen, und der Gipfel von Vilnius war von Anti-NATO-Protesten geprägt. Das Kommuniqué des Vilniuser Gipfels bekräftigte den Weg der Ukraine in die NATO und verschärfte den selbstdefinierten Universalismus der NATO. Im Kommuniqué heißt es beispielsweise, dass China «unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte» in Frage stellt, wobei das Wort «unsere» nicht nur für die NATO-Staaten, sondern für die gesamte internationale Ordnung steht. Langsam positioniert sich die NATO als Ersatz für die Vereinten Nationen und behauptet, sie — und nicht die eigentliche internationale Gemeinschaft — sei der Schiedsrichter und Hüter der «Interessen, Sicherheit und Werte» der Welt. Diese Ansicht wird von der großen Mehrheit der Weltbevölkerung angezweifelt, von der sieben Milliarden Menschen nicht einmal in den Mitgliedsländern des NATO-Bündnisses leben (deren Gesamtbevölkerung weniger als eine Milliarde beträgt). Diese Milliarden fragen sich, warum die NATO die Vereinten Nationen verdrängen will.
Herzlichst,
Vijay