Wenn alle der NATO beitreten, wozu gibt es dann noch die Vereinten Nationen? 

Der neunundzwanzigste Newsletter (2023).

Bassim Al Shaker (Irak), Sympho­nie of Death 1, 2019.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Die Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) hat am 11. und 12. Juli in Vilnius, Litauen, ihren jähr­li­chen Gipfel abge­hal­ten. Im Kommu­ni­qué, das nach dem ersten Tag veröf­fent­licht wurde, heißt es, dass die NATO ein Vertei­di­gungs­bünd­nis ist. Diese Aussage bringt auf den Punkt, warum es vielen schwer fällt, das wahre Wesen der NATO zu begrei­fen. Ein Blick auf die jüngs­ten Zahlen zu Mili­tär­aus­ga­ben zeigt im Gegen­teil, dass auf die NATO-Länder und die mit ihr eng verbün­de­ten Länder fast drei Vier­tel der gesam­ten jähr­li­chen welt­wei­ten Ausga­ben für Waffen entfal­len. Viele dieser Staa­ten verfü­gen über hoch­mo­derne Waffen­sys­teme, die quali­ta­tiv gese­hen zerstö­re­ri­scher sind als die der Streit­kräfte der meis­ten Nicht-NATO-Staa­ten. Im letz­ten Vier­tel­jahr­hun­dert hat die NATO ihre mili­tä­ri­sche Macht einge­setzt, um mehrere Staa­ten wie Afgha­ni­stan (2001) und Libyen (2011) zu zerstö­ren und Gesell­schaf­ten mit der rohen Kraft ihres aggres­si­ven Bünd­nis­ses zu zertrüm­mern und den Status Jugo­sla­wi­ens (1999) als einheit­li­cher Staat zu been­den. Ange­sichts dieser Bilanz ist es schwie­rig, die Ansicht aufrecht­zu­er­hal­ten, die NATO sei ein «Vertei­di­gungs­bünd­nis».

 

Der NATO gehö­ren derzeit einund­drei­ßig Mitglied­staa­ten an, zuletzt Finn­land, das im April 2023 beigetre­ten ist. Ihre Mitglie­der­zahl hat sich mehr als verdop­pelt, seit die zwölf Grün­dungs­mit­glie­der, alle­samt Länder in Europa und Nord­ame­rika, die am Krieg gegen die Achsen­mächte betei­ligt waren, am 4. April 1949 den Washing­to­ner Vertrag (auch bekannt als Nord­at­lan­tik­ver­trag) unter­zeich­ne­ten, mit dem die NATO gegrün­det wurde. Es ist bezeich­nend, dass eines dieser ursprüng­li­chen Mitglie­der — Portu­gal — zu dieser Zeit noch unter einer faschis­ti­schen Dikta­tur stand, dem soge­nann­ten Estado Novo (der von 1933 bis 1974 bestand).

 

In Arti­kel 10 dieses Vertrags heißt es, dass die NATO-Mitglie­der «einstim­mig» jeden ande­ren euro­päi­schen Staat «zum Beitritt zum Mili­tär­bünd­nis einla­den» können. Auf der Grund­lage dieses Grund­sat­zes nahm die NATO Grie­chen­land und die Türkei (1952), West­deutsch­land (1955) und Spanien (1982) auf und erwei­terte damit ihre Mitglied­schaft auf sech­zehn Länder. Der Zerfall der UdSSR und der kommu­nis­ti­schen Staa­ten Osteu­ro­pas — die angeb­li­che Bedro­hung, die die Notwen­dig­keit der NATO über­haupt erst begrün­dete — hat das Bünd­nis­ses nicht obso­let werden lassen. Statt­des­sen hat die wach­sende Mitglie­der­zahl der NATO ihren Ehrgeiz verstärkt, ihre mili­tä­ri­sche Macht — gestützt auf Arti­kel 5 — einzu­set­zen, um alle zu unter­wer­fen, die das «Atlan­ti­sche Bünd­nis» herausfordern.

Nino Morbe­dadze (Geor­gien), Strol­ling Couple, 2017.

Das «Atlan­ti­sche Bünd­nis», eine Formu­lie­rung, die Bestand­teil des NATO-Namens ist, war Teil eines umfas­sen­de­ren Netzes von Mili­tär­ver­trä­gen, die die USA gegen die UdSSR und – nach Okto­ber 1949 – gegen die Volks­re­pu­blik China abge­schlos­sen hatten. Zu diesem Netz­werk gehör­ten der Manila-Pakt vom Septem­ber 1954, mit dem die Südost­asia­ti­sche Vertrags­or­ga­ni­sa­tion (SEATO) gegrün­det wurde, und der Bagdad-Pakt vom Februar 1955, mit dem die Zentrale Vertrags­or­ga­ni­sa­tion (CENTO) gegrün­det wurde. Die Türkei und Paki­stan unter­zeich­ne­ten im April 1954 ein Mili­tär­ab­kom­men, das sie in einem Bünd­nis gegen die UdSSR zusam­men­führte und dieses Netz­werk durch das südlichste Mitglied der NATO (Türkei) und das west­lichste Mitglied der SEATO (Paki­stan) verband. Die USA unter­zeich­ne­ten mit jedem Mitglied der CENTO und der SEATO ein Mili­tär­ab­kom­men und stell­ten sicher, dass sie in diesen Struk­tu­ren einen Sitz am Tisch hatten.

 

Auf der Asia­tisch-Afri­ka­ni­schen Konfe­renz, die im April 1955 in Bandung (Indo­ne­sien) statt­fand, reagierte der indi­sche Premier­mi­nis­ter Jawa­harlal Nehru scharf auf die Schaf­fung dieser Mili­tär­bünd­nisse, die die Span­nun­gen zwischen den USA und der UdSSR nach Asien expor­tier­ten. Das Konzept der NATO, so Nehru, habe sich «in zwei­er­lei Hinsicht ausge­wei­tet»: Erstens habe sich die NATO «weit vom Atlan­tik entfernt und andere Ozeane und Meere erreicht», und zwei­tens sei «die NATO heute einer der mäch­tigs­ten Vertei­di­ger des Kolo­nia­lis­mus». Als Beispiel verwies Nehru auf Goa, das immer noch vom faschis­ti­schen Portu­gal gehal­ten wurde und dessen Herr­schaft von den NATO-Mitglie­dern gestützt worden war — ein Akt, den Nehru als «grobe Unver­schämt­heit» bezeich­nete. Diese Charak­te­ri­sie­rung der NATO als globa­ler Kriegs­trei­ber und Vertei­di­ger des Kolo­nia­lis­mus bleibt, mit eini­gen Modi­fi­ka­tio­nen, erhalten.

Slobo­dan Traj­ko­vić (Jugo­sla­wien), The Flag, 1983.

Die SEATO wurde 1977 aufge­löst, unter ande­rem wegen der Nieder­lage der USA in Viet­nam, und die CENTO wurde 1979 geschlos­sen, gerade wegen der irani­schen Revo­lu­tion in diesem Jahr. Mit der Einrich­tung des US Central Command im Jahr 1983 und der Wieder­be­le­bung des US Paci­fic Command im selben Jahr änderte sich die US-Mili­tär­stra­te­gie von der Anwen­dung dieser Art von Pakten hin zu direk­ten mili­tä­ri­schen Auftrit­ten. Die USA weite­ten die Macht ihrer eige­nen globa­len mili­tä­ri­schen Präsenz aus, einschließ­lich ihrer Fähig­keit, aufgrund ihrer Stütz­punkt­struk­tur und ihrer bewaff­ne­ten Flot­til­len (die nicht mehr durch den Zwei­ten Londo­ner Flot­ten­ver­trag von 1930, der 1939 auslief, beschränkt waren) über­all auf der Welt anzu­grei­fen. Obwohl die NATO schon immer globale Ambi­tio­nen hatte, wurde ein solches Bünd­nis nach und nach in Reali­tät umge­setzt – durch Demons­tra­tio­nen der Macht des US-Mili­tärs und die Schaf­fung neuer Struk­tu­ren, die verbün­dete Staa­ten noch stär­ker in die NATO-Umlauf­bahn einban­den (mit Program­men wie der 1994 ins Leben geru­fe­nen «Part­ner­schaft für den Frie­den» und Kate­go­rien wie «globale NATO-Part­ner» und «Nicht-NATO-Verbün­dete», Rollen die etwa Japan und Südko­rea einnah­men). In ihrem Stra­te­gi­schen Konzept von 1991 schrieb die NATO, dass sie «durch die Bereit­stel­lung von Streit­kräf­ten für Missio­nen der Verein­ten Natio­nen einen Beitrag zu Stabi­li­tät und Frie­den in der Welt leis­ten» würde, was mit tödli­cher Gewalt in Jugo­sla­wien (1999), Afgha­ni­stan (2003) und Libyen (2011) umge­setzt wurde.

 

Auf dem Gipfel von Riga (2006) gab sich die NATO zuver­sicht­lich, dass sie «von Afgha­ni­stan bis zum Balkan und vom Mittel­meer bis nach Darfur» einsatz­fä­hig war. Nehrus Fokus auf den Kolo­nia­lis­mus mag heute anachro­nis­tisch erschei­nen, aber in Wirk­lich­keit ist die NATO zu einem Instru­ment gewor­den, mit dem der Wunsch der globa­len Mehr­heit nach Souve­rä­ni­tät und Würde — zwei zentra­len anti­ko­lo­nia­len Konzep­ten — unter­drückt werden kann. Jedes popu­läre Projekt, das diese beiden Konzepte zum Tragen bringt, findet sich in der Schuss­li­nie eines NATO-Waffen­sys­tems wieder.

Shefa Salem al-Baraesi (Libyen), Dance of War, 2020.

Der Zusam­men­bruch der UdSSR und des osteu­ro­päi­schen kommu­nis­ti­schen Staa­ten­sys­tems verän­derte die Reali­tät in Europa. Die NATO igno­rierte rasch die «eiser­nen Garan­tien», die US-Außen­mi­nis­ter James Baker dem sowje­ti­schen Außen­mi­nis­ter Eduard Sche­ward­n­adse am 9. Februar 1990 in Moskau gege­ben hatte, wonach sich die NATO-Trup­pen «nicht nach Osten» über die deut­sche Grenze hinaus bewe­gen würden. Mehrere Staa­ten, die an die NATO-Zone grenz­ten, litten in der unmit­tel­ba­ren Zeit nach dem Fall der Berli­ner Mauer sehr unter der wirt­schaft­li­chen Flaute, da die Priva­ti­sie­rung die Möglich­kei­ten der Bevöl­ke­rung für ein menschen­wür­di­ges Leben zunichte machte. Viele osteu­ro­päi­sche Staa­ten woll­ten unbe­dingt in die Euro­päi­sche Union (EU) eintre­ten, die zumin­dest den Zugang zum gemein­sa­men Markt versprach, und sahen in einem Beitritt zur NATO den Preis für die Aufnahme. Im Jahr 1999 traten die Tsche­chi­sche Repu­blik, Ungarn und Polen der NATO bei, und 2004 folg­ten die balti­schen Staa­ten (Estland, Lett­land und Litauen), Bulga­rien, Rumä­nien, Slowe­nien und die Slowa­kei. Viele dieser Länder, die sich nach Inves­ti­tio­nen und Märk­ten sehn­ten, traten 2004 in das Atlan­ti­sche Bünd­nis der NATO und der EU ein.


Die NATO erwei­terte sich weiter und nahm 2009 Alba­nien und Kroa­tien, 2017 Monte­ne­gro und 2020 Nord­ma­ze­do­nien auf. Der Zusam­men­bruch eini­ger US-Banken, die schwin­dende Attrak­ti­vi­tät der USA als Markt der letz­ten Instanz und eine uner­bitt­li­che wirt­schaft­li­che Depres­sion in der atlan­ti­schen Welt in verän­der­ten jedoch nach 2007 den Kontext. Die atlan­ti­schen Staa­ten waren als Inves­to­ren oder Märkte nicht mehr verläss­lich. Nach 2008 gingen die Infra­struk­tur­in­ves­ti­tio­nen in der EU aufgrund gekürz­ter öffent­li­cher Ausga­ben um 75 % zurück, und die Euro­päi­sche Inves­ti­ti­ons­bank warnte, dass die staat­li­chen Inves­ti­tio­nen ein Fünf­und­zwan­zig­jah­res­tief errei­chen würden.

ArtLords (darun­ter Kabir Moka­mel, Abdul Hakim Maqsodi, Meher Agha Sultani, Omaid Sharifi, Yama Farhard, Negina Azimi, Enayat Hikmat, Zahid Amini, Ali Hash­imi, Moham­mad Razeq Meher­pour, Abdul Razaq Hash­emi und Nadima Rustam), The Unseen Afgha­ni­stan, 2021.

Die Ankunft chine­si­scher Inves­ti­tio­nen und die Möglich­keit der Inte­gra­tion in die chine­si­sche Wirt­schaft führ­ten zu einer Neuori­en­tie­rung vieler Volks­wirt­schaf­ten, insbe­son­dere in Mittel- und Osteu­ropa, weg vom Atlan­tik. Im Jahr 2012 fand in Warschau (Polen) das erste Gipfel­tref­fen zwischen China und den mittel- und osteu­ro­päi­schen Ländern (China-CEEC-Gipfel) statt, an dem sech­zehn Länder der Region teil­nah­men. An diesem Prozess nahmen schließ­lich fünf­zehn NATO-Mitglie­der teil, darun­ter Alba­nien, Bulga­rien, Estland, Grie­chen­land, Kroa­tien, Lett­land, Litauen, Nord­ma­ze­do­nien, Monte­ne­gro, Polen, Rumä­nien, die Slowa­kei, Slowe­nien, die Tsche­chi­sche Repu­blik und Ungarn (in den Jahren 2021 und 2022 zogen sich Estland, Lett­land und Litauen aus dieser Initia­tive zurück). Im März 2015 traten sechs dama­lige EU-Mitglied­staa­ten – Frank­reich, Deutsch­land, Italien, Luxem­burg, Schwe­den und das Verei­nigte König­reich – der Asia­ti­schen Infra­struk­tur-Inves­ti­ti­ons­bank mit Sitz in Peking bei. Vier Jahre später trat Italien als erstes G7-Land der Belt and Road Initia­tive (BRI) bei. Zwei Drit­tel der EU-Mitglied­staa­ten sind nun Teil der BRI, und die EU hat ein umfas­sen­des Inves­ti­ti­ons­ab­kom­men für 2020 abge­schlos­sen.

 

Diese Manö­ver in Rich­tung China droh­ten das Atlan­ti­sche Bünd­nis zu schwä­chen, da die USA das Land in ihrer Natio­nal Defense Stra­tegy von 2018 als «stra­te­gi­schen Konkur­ren­ten» bezeich­ne­ten — eine Formu­lie­rung, die auf den verän­der­ten Fokus auf die soge­nannte Bedro­hung durch China hinweist. Dennoch sagte NATO-Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg noch im Novem­ber 2019, dass es «keine Pläne, keinen Vorschlag und keine Absicht gibt, die NATO beispiels­weise ins Südchi­ne­si­sche Meer zu verle­gen». Im Jahr 2020 hatte sich die Stim­mung jedoch geän­dert: Nur sieben Monate später sagte Stol­ten­berg: «Die NATO sieht China nicht als neuen Feind oder Gegner. Wir stel­len jedoch fest, dass der Aufstieg Chinas das globale Gleich­ge­wicht der Kräfte grund­le­gend verän­dert». Die Reak­tion der NATO bestehe darin, mit ihren Part­nern — darun­ter Austra­lien, Japan, Neusee­land und Südko­rea — zusam­men­zu­ar­bei­ten, «um die sicher­heits­po­li­ti­schen Folgen des Aufstiegs Chinas zu bewäl­ti­gen», so Stol­ten­berg weiter. Die Möglich­keit einer globa­len NATO und einer asia­ti­schen NATO steht bei diesen Erwä­gun­gen im Vorder­grund, wobei Stol­ten­berg in Vilnius erklärte, dass die Idee eines Verbin­dungs­bü­ros in Japan «auf dem Tisch» liege.

 

Der Krieg in der Ukraine hat dem Atlan­ti­schen Bünd­nis neues Leben einge­haucht und mehrere zöger­li­che euro­päi­sche Länder – wie Schwe­den – in seine Reihen getrie­ben. Doch selbst unter den Menschen, die in den NATO-Staa­ten leben, gibt es Grup­pen, die den Zielen des Bünd­nis­ses skep­tisch gegen­über­ste­hen, und der Gipfel von Vilnius war von Anti-NATO-Protes­ten geprägt. Das Kommu­ni­qué des Vilni­user Gipfels bekräf­tigte den Weg der Ukraine in die NATO und verschärfte den selbst­de­fi­nier­ten Univer­sa­lis­mus der NATO. Im Kommu­ni­qué heißt es beispiels­weise, dass China «unsere Inter­es­sen, unsere Sicher­heit und unsere Werte» in Frage stellt, wobei das Wort «unsere» nicht nur für die NATO-Staa­ten, sondern für die gesamte inter­na­tio­nale Ordnung steht. Lang­sam posi­tio­niert sich die NATO als Ersatz für die Verein­ten Natio­nen und behaup­tet, sie — und nicht die eigent­li­che inter­na­tio­nale Gemein­schaft — sei der Schieds­rich­ter und Hüter der «Inter­es­sen, Sicher­heit und Werte» der Welt. Diese Ansicht wird von der großen Mehr­heit der Welt­be­völ­ke­rung ange­zwei­felt, von der sieben Milli­ar­den Menschen nicht einmal in den Mitglieds­län­dern des NATO-Bünd­nis­ses leben (deren Gesamt­be­völ­ke­rung weni­ger als eine Milli­arde beträgt). Diese Milli­ar­den fragen sich, warum die NATO die Verein­ten Natio­nen verdrän­gen will.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.