Werden unsere Kinder lesen und schreiben können? Werden sie mit Würde in die Zukunft blicken?
Der achtundzwanzigste Newsletter (2022)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Die Welt treibt in den Gezeiten des Hungers und der Verwüstung. Es ist schwierig, über Bildung oder irgendetwas anderes nachzudenken, wenn die eigenen Kinder nicht in der Lage sind, zu essen. Und doch zwingt uns der massive Angriff auf die Bildung in diesem Jahrzehnt dazu, darüber nachzudenken, welche Art von Zukunft jungen Menschen hinterlassen wird. Im Jahr 2018, also vor der Pandemie, gingen nach Berechnungen der Vereinten Nationen 258 Millionen oder eines von sechs Kindern im schulpflichtigen Alter nicht in die Schule. Im März 2020, dem Beginn der Pandemie, schätzte die UNESCO, dass 1,5 Milliarden Kinder und Jugendliche von Schulschließungen betroffen waren; bei unglaublichen 91 % der Schüler weltweit wurde die Ausbildung durch die Lockdowns unterbrochen.
Eine neue UN-Studie, die im Juni 2022 veröffentlicht wurde, ergab, dass sich die Zahl der Kinder, die in ihrer Bildung beeinträchtigt sind, seit 2016 fast verdreifacht hat und von 75 Millionen auf heute 222 Millionen gestiegen ist. «Diese 222 Millionen Kinder», so das UN-Programm «Education Cannot Wait» (Bildung kann nicht warten), «sind mit einem Spektrum an Bildungsproblemen konfrontiert: Etwa 78,2 Millionen (54 % Frauen, 17 % mit funktionalen Schwierigkeiten, 16 % gewaltsam Vertriebene) gehen nicht zur Schule, während 119,6 Millionen trotz Schulbesuch in den ersten Klassenstufen keine Mindestkenntnisse in Lesen oder Mathematik erreichen». Viel zu wenig Aufmerksamkeit wird der Katastrophe gewidmet, die sich daraus für die kommenden Generationen ergibt.
Die Weltbank hat in Zusammenarbeit mit der UNESCO darauf hingewiesen, dass die Mittel für die Bildung in den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zurückgegangen sind. 41 % dieser Länder hätten ihre Bildungsausgaben mit dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 gekürzt, im Durchschnitt um 13,5 %. Während die reicheren Länder das Finanzierungsniveau von vor der Pandemie wieder erreicht haben, sind die Mittel in den ärmsten Ländern unter die Durchschnittswerte von vor der Pandemie gesunken. Der Rückgang der in Bildung investierten Mittel wird zu einem Verlust von fast 21 Billionen Dollar an Lebenseinkommen führen, viel mehr als die geschätzten 17 Billionen Dollar im Jahr 2021. Da die Wirtschaft lahmt und die Kapitaleigner sich mit der Tatsache abgefunden haben, dass sie Milliarden von Menschen, die sie demnach als «Überschussbevölkerung» betrachten, einfach nicht anstellen werden, ist es kein Wunder, dass der Fokus auf Bildung so marginal ist.
Ein Blick auf die nationalen Befreiungsversuche einer früheren Ära offenbart ein völlig anderes Wertesystem, bei dem die Beendigung des Hungers, die Verbesserung der Alphabetisierung und andere soziale Fortschritte, die die Menschenwürde stärken, im Vordergrund standen. Das Tricontinental: Institute for Social Research gibt eine neue Reihe mit dem Titel Studies in National Liberation heraus. Die erste Studie in dieser Reihe, The PAIGC’s Political Education for Liberation in Guinea-Bissau, 1963–74, ist ein wunderbarer Text, der auf den Archivrecherchen von Sónia Vaz-Borges, Historikerin und Autorin von Militant Education, Liberation Struggle, and Consciousness: The PAIGC education in Guinea Bissau, 1963–1978 (Peter Lang, 2019) basiert.
Die PAIGC, kurz für Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde (Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde) wurde 1956 gegründet. Wie viele nationale Befreiungsprojekte begann die PAIGC im politischen Rahmen des portugiesischen Kolonialstaates. Im Jahr 1959 streikten die Hafenarbeiter*innen in den Docks von Pidjiguiti für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, mussten jedoch feststellen, dass die Portugiesen mit der Waffe verhandelten, als diese etwa fünfzig Arbeiter*innen töteten und viele andere verletzten. Dieses Massaker überzeugte die PAIGC, sich einem bewaffneten Kampf zu widmen und von der Kolonialherrschaft befreite Zonen im damaligen Guinea (heute Guinea-Bissau) einzurichten.
In diesen befreiten Zonen baute die PAIGC ein sozialistisches Projekt auf, zu dem auch ein Bildungssystem gehörte, das darauf abzielte, das Analphabetentum abzuschaffen und ein würdiges kulturelles Leben für die Bevölkerung zu schaffen. Die PAIGC verfolgte ein egalitäres Bildungskonzept, das unsere Aufmerksamkeit erregte, denn selbst in einem armen Land, das der bewaffneten Unterdrückung des Kolonialstaates ausgesetzt war, hat die PAIGC wertvolle Ressourcen vom bewaffneten Kampf abgezogen, um die Würde des Volkes zu stärken. 1974 erlangte das Land seine Unabhängigkeit von Portugal; die Werte des nationalen Befreiungsprojekts wirken bis heute in uns nach.
Das nationale Befreiungsprojekt, das die PAIGC verfolgte, hatte zwei gleichzeitige Ziele:
- Die kolonialen Institutionen der Unterdrückung und Ausbeutung zu stürzen.
- Ein Projekt des nationalen Wiederaufbaus zu schaffen, um die wirtschaftliche, politische und soziale Befreiung des Volkes zu erreichen. Dieses Projekt sollte die toxischen Rückstände bekämpfen, die die kolonialen Strukturen in den Körpern und Köpfen des Volkes hinterlassen haben.
Bis 1959 gab es in Guinea-Bissau, das seit 1588 von der portugiesischen Monarchie kontrolliert wurde, keine weiterführenden Schulen. 1964 versprach der erste Kongress der PAIGC unter der Leitung von Amílcar Cabral folgendes:
Einrichtung von Schulen und Ausbau des Unterrichts in allen befreiten Gebieten … Verbesserung der Arbeit in den bestehenden Schulen, Vermeidung einer hohen Anzahl von Schüler[*innen], die den Vorteil für alle beeinträchtigen könnte. Gründung von Schulen, aber das reale Potential im Auge behalten, das uns zur Verfügung steht, damit wir später nicht einige Schulen aus Mangel an Mitteln wieder schließen müssen … stetige Verstärkung der politischen Ausbildung von Lehrer[*innen] … Kurse einrichten, um Erwachsenen Lesen und Schreiben beizubringen, unabhängig davon, ob sie kämpfen oder Teile der Bevölkerung sind … nach und nach einfache Bibliotheken erschaffen in den befreiten Gebieten, anderen die Bücher ausliehen, die wir besitzen, und ihnen helfen, ein Buch oder die Zeitung lesen zu lernen und das Gelesene zu verstehen.
Alle, die etwas wissen, müssen diejenigen unterrichten, die nichts wissen, sagten die Kader der PAIGC, die sich sehr für die Vermittlung von Grundkenntnissen, der Geschichte ihres Landes und der Bedeutung ihres Kampfes für die nationale Befreiung einsetzen.
In unserer Studie wird der gesamte Prozess des von der PAIGC eingerichteten Bildungssystems erläutert, einschließlich einer Bewertung der Bildungsformen und ‑praktiken. Im Mittelpunkt der Studie stehen die Pädagogik der PAIGC und ihr antikolonialer, auf Afrika ausgerichteter Lehrplan. Unsere Studie stellt fest:
Die Erfahrungen der afrikanischen Menschen, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft mussten im Mittelpunkt dieser neuen Bildung stehen. Die Lehrpläne mussten sich mit den Wissensformen auseinandersetzen, die in den lokalen Gemeinschaften existierten und von diesen geprägt sein. Mit diesen neuen Ansätzen des Wissens wollte die PAIGC bei den Lernenden ein persönliches Gefühl der Verpflichtung gegenüber sich selbst, ihren Mitschüler*innen und ihren Gemeinschaften wecken. Bereits 1949 plädierte Cabral aufgrund seiner Forschungserfahrungen mit den landwirtschaftlichen Bedingungen in Portugal und seinen afrikanischen Territorien dafür, die Wissensproduktion auf die bestehenden afrikanischen Realitäten auszurichten. Er vertrat die Ansicht, dass eine der besten Möglichkeiten, das Land zu verteidigen, darin besteht, zu lernen und zu verstehen, wie man den Boden nachhaltig nutzen und den Nutzen, den wir aus ihm ziehen, bewusst verbessern kann. Das Land zu kennen und zu verstehen sei eine Form der Verteidigung der Menschen und ihres Rechts, ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Die Studie ist fesselnd, ein Fenster in eine Welt, die von der Strukturanpassungspolitik des Internationalen Währungsfonds verdrängt wurde, die Guinea-Bissau seit 1995 in den Abgrund reißt, mit einer Alphabetisierungsrate von knapp 50 %, schockierend für ein Land mit den Möglichkeiten der nationalen Befreiung, wie sie von der PAIGC in Gang gesetzt wurden. Die Lektüre der Studie öffnet frühere Fenster, Hoffnungen, die lebendig bleiben, solange unsere Bewegungen aufmerksam bleiben und zur Quelle zurückkehren, um eine bessere Zukunft aufzubauen.
Der Anführer der PAIGC, Amílcar Cabral, wurde am 20. Januar 1973 ermordet, ein Jahr bevor der portugiesische Kolonialismus eine historische Niederlage erlitt. Die PAIGC hatte mit dem Verlust ihres Anführers zu kämpfen. Im Jahr 1946 schrieb Cabral ein lyrisches Gedicht, Regresso («Rückkehr»), das auf die Ethik der Bewegung hinwies, für die er sein Leben gab. «Rückkehr» war ein wichtiger Begriff in Cabrals Vokabular, der Ausdruck «Rückkehr zum Ursprung» zentral für seine Auffassung, dass die nationale Befreiung die Vergangenheit als Ressource und nicht als Ziel behandeln muss. Hört, wie die große Sängerin aus Cabo Verde, Cesária Évora, das obige Gedicht von Cabral singt, und lest es hier, ein Tor zu den Hoffnungen, die wir für eine Bildung der Befreiung haben:
Alte Mama, komm, lass uns lauschen
dem Schlag des Regens gegen die Tür.
Es ist ein freundlicher Rhythmus,
der in meinem Herzen pocht.
Unser Freund, der Regen, alte Mama, der Regen
der nicht mehr so gefallen ist …
seit langer Zeit…
Ich habe gehört, dass die Cidade Velha
– die ganze Insel –
ein Garten wird
in ein paar Tagen …
Sie sagen, das Land sei in Grün gehüllt,
die schönste Farbe, weil es die Farbe der Hoffnung ist.
Dass das Land jetzt wirklich wie Kap Verde aussehe –
Ruhe hat jetzt den Sturm ersetzt …
Komm, alte Mama, komm
finde deine Kraft wieder und komm zum Tor.
Unser Freund, der Regen, hat uns bereits gesagt, wir sollen durchhalten
und er schlägt in meinem Herzen.
Herzlichst,
Vijay