Das chinesische Volk hält seine Reisschüssel fest in seinen Händen.
Der siebenundzwanzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Auf der Konferenz über nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen 2012 in Rio de Janeiro (Brasilien) haben die Mitgliedsstaaten beschlossen, die im Jahr 2000 aufgestellten Millenniumsentwicklungsziele (Millennium Development Goals) durch die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) zu ersetzen. Das erste SDG lautete: «Armut in all ihren Formen überall beenden». Trotz der enthusiastischen Formulierungen war klar, dass die Armut nicht überall auf der Welt beseitigt werden würde. Schon vor der COVID-19-Pandemie zeigten die Daten, dass die Armut unüberwindbar geworden war.
Im Oktober 2022 veröffentlichten das UN-Entwicklungsprogramm und die Oxford Poverty and Human Development Initiative ihren Bericht zum globalen multidimensionalen Armutsindex 2022, aus dem hervorging, dass mindestens 1,2 Milliarden Menschen in 111 Entwicklungsländern in akuter multidimensionaler Armut leben. Der Begriff «Deprivationsbündel», auf den im Titel des Berichts Bezug genommen wird, beschreibt, wie für über eine Milliarde Menschen eine ganze Reihe an notwendigen Einrichtungen fehlen. So heißt es in dem Bericht: «Fast die Hälfte der armen Menschen (470,1 Millionen) ist sowohl in Bezug auf die Ernährung als auch auf die sanitären Einrichtungen benachteiligt, was sie potentiell anfälliger für Infektionskrankheiten macht. Darüber hinaus ist mehr als die Hälfte der Armen (593,3 Millionen) gleichzeitig in Bezug auf Kochbrennstoffe und Elektrizität benachteiligt». Diese «Deprivationsbündel» — wie eben z.B. das Fehlen von Strom und sauberem Brennstoff zum Kochen — bedeuten eine zusätzliche Belastung für die niedrigen Einkommen, von denen Milliarden von Menschen leben.
Im Jahr 2017 stellte die Weltbank fest, dass die Armutsgrenze, die bei 1,90 US-Dollar Einkommen pro Tag lag, viel zu niedrig war. Sie setzte die neue Armutsgrenze auf 2,15 US-Dollar pro Tag fest, was die Zahl von Menschen unter der Armutsgrenze schlagartig um 700 Millionen Menschen erhöhte. Der Weltbankbericht von 2022 zu Poverty and Shared Prosperity zeigt anhand von Daten aus dem Jahr 2019, dass bei einer Armutsgrenze von 3,65 US-Dollar pro Tag 23 Prozent der Weltbevölkerung in Armut leben, und bei einer Grenze von 6,85 US-Dollar pro Tag fast die Hälfte der Weltbevölkerung (47 Prozent) unterhalb der Armutsgrenze lebt. Diese Zahlen sind erschreckend.
Unverständlich ist, dass der UN-Bericht über die Deprivationsbündel nicht auf das Programm zur Beseitigung der extremen Armut in China eingeht. Am 25. Februar 2021 erklärte die chinesische Regierung, dass die letzten 100 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, durch die Anstrengungen des chinesischen Volkes über diese Grenze gehoben wurden und damit die absolute Armut in China beendet ist. Im Juni 2021 schrieben die Autor*innen der chinesischen Kommission zur freiwilligen nationalen Überprüfung der SDGs: «Alle 98,99 Millionen Einwohner[*innen] aus ländlichen Regionen, die unter der aktuellen Armutsgrenze lebten, wurden aus der Armut befreit, womit das Ziel der Beseitigung der Armut in der Agenda 2030 zehn Jahre früher als geplant erreicht wurde». «Das chinesische Volk», so der Bericht, «hält seine Reisschüssel fest in seinen eigenen Händen». Einige Monate später lobte UN-Generalsekretär António Guterres das «starke Engagement und die bedeutenden Fortschritte Chinas bei der Beseitigung der Armut in allen Formen und Dimensionen, einer der größten Herausforderungen der Welt». Selbst eine Studie eines ehemaligen UN-Beamten, der einige der chinesischen Daten anzweifelte, erkannte die enorme Leistung an. Im April 2022 veröffentlichten die Weltbank und das chinesische Entwicklungsforschungszentrum des Staatsrats eine wichtige Studie mit dem Titel Four Decades of Poverty Reduction in China («Vier Jahrzehnte Armutsbekämpfung in China»), in der der Verlauf dieser historischen Leistung nachgezeichnet wurde. Dennoch wurde in dem UN-Bericht weder hervorgehoben, dass China die absolute Armut beseitigt haben, noch wurde eine Bewertung der Art und Weise vorgenommen, wie sie dies getan haben.
Bei Tricontinental: Institute for Social Research haben wir uns eingehend mit Chinas Projekt zur Abschaffung der absoluten Armut beschäftigt. Im Juli 2021 veröffentlichten wir eine Studie mit dem Titel Serve the People: The Eradication of Extreme Poverty in China («Im Dienst des Volkes: Die Beseitigung der extremen Armut in China»), in der die Methoden untersucht wurden, die der chinesische Staat und die chinesischen sozialen Einrichtungen anwenden, um das zu überwinden, was Guterres von der UNO als «eine der größten Herausforderungen der Welt» bezeichnete. Chinas Erfolg, so schrieben wir, «ist weder ein Wunder noch ein Zufall, sondern vielmehr ein Beweis für sein sozialistisches Engagement». Dieser Begriff — «sozialistisches Engagement» — bestimmt unser Verständnis dessen, was in China seit 1949 geschehen ist. In Ausgabe Nr. 2 der internationalen Ausgabe von Wenhua Zongheng, mit dem Titel «Chinas Weg von der extremen Armut zur sozialistischen Modernisierung», gehen wir dieser Idee von Chinas «sozialistischem Engagement» und der Beseitigung der extremen Armut nach. Die Ausgabe enthält drei wichtige Aufsätze:
- Socialism 3.0: The Practice and Prospects of Socialism in China («Sozialismus 3.0: Praxis und Aussichten des Sozialismus in China») der Longway-Stiftung
- The Battle Against Poverty: An Alternative Revolutionary Practice in China’s Post-Revolutionary Era («Der Kampf gegen die Armut: Eine alternative revolutionäre Praxis in Chinas nachrevolutionärem Zeitalter») von Li Xiaoyun und Yang Chengxue
- How Targeted Poverty Alleviation Has Changed the Structure of Rural Governance in China («Wie die gezielte Armutsbekämpfung die Struktur der ländlichen Verwaltung in China verändert hat») von Wang Xiaoyi
In den Artikeln der Longway-Stiftung sowie von Li Xiaoyun und Yang Chengxue wird die Bedeutung der Armutsbekämpfung in allen historischen Phasen des sozialistischen Projekts Chinas hervorgehoben, mit der Doppelstrategie der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse und der Ausweitung des gesellschaftlichen Wohlstands. Li und Yang betonen die Rolle der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) während der gezielten Phase der Armutsbekämpfungskampagne, die unter Präsident Xi Jinping stattfand. Die Kampagne umfasste die Beteiligung von 800.000 Kadern an Erhebungen im Jahr 2014 und die Entsendung von drei Millionen Kadern, die für mindestens zwei Jahre in den armen Dörfern lebten, wobei 1.800 Kader während dieses Kampfes gegen die Armut starben. Dieser enorme Wandel, der von der KPCh angeführt wurde, hat die moralische Autorität der Partei wiederhergestellt und die Frage des Sozialismus und der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der chinesischen Diskussion gerückt.
Wang Xiaoyi nimmt uns mit aufs Land, wo die Armutsprobleme einst unlösbar schienen, und zeigt auf, wie die ländlichen Gebiete durch die Massenabwanderung ausgehöhlt und die ländlichen Einrichtungen während der Reformperiode nach 1978 verarmten. Im Mittelpunkt des Programms zur Beseitigung der extremen Armut stand laut Wang der Wiederaufbau der ländlichen Institutionen, der durch die Versetzung von drei Millionen KPCh-Kadern aufs Land ermöglicht wurde, wobei man sich auf Erfahrungen aus der kampagnenartigen Regierungsführung der Mao-Zedong-Ära stützte. Wang setzt seine Hoffnungen darauf, dass die neue ländliche Infrastruktur, die durch das Programm zur Beseitigung der extremen Armut geschaffen wurde, erhalten bleibt, einschließlich des «hohen Maßes an Beteiligung der Dorfbewohner an öffentlichen Angelegenheiten» durch ihre Dorfkomitees.
Ein zentraler Punkt, der in den Artikeln dieser zweiten Ausgabe von Wenhua Zongheng angesprochen wird, ist, dass es das von der KPCh getragene Prinzip des Sozialismus und die sozialistische Infrastruktur waren, die die Beseitigung der extremen Armut ermöglichten. Es wird schwierig sein, den chinesischen Weg zur sozialistischen Modernisierung als Modell für andere Länder zu betrachten, wenn diese Länder ihre Programme nicht ebenfalls auf eine sozialistische Grundlage stellen. Die Armut wurde nicht allein durch Geldtransfersysteme oder medizinische Programme für den ländlichen Raum beseitigt, auch wenn dies wertvolle politische Optionen sind: Sie wurde durch das sozialistische Engagement beseitigt, Ideen wie die Würde in die Welt zu tragen und zu verwirklichen.
Als unser Forscher*innenteam die Gemeinde Wangjia in der Provinz Guizhou besuchte, um die Programme zur Beseitigung der extremen Armut zu verfolgen, trafen wir He Ying, die bei ihrem Kampf, sich aus dem Leben einer armen Wanderarbeiterin zu befreien, zu einer Führerinungsperson der KPCh wurde. Als Mitglied der Allchinesischen Frauenföderation beschrieb He Ying, wie sie mit neu zugewanderten Bäuerinnen arbeitet, um ihnen das Selbstvertrauen zu geben, ihre Situation zu verändern. Das Dorfleben der alten Art liegt hinter ihnen. He Ying lebt jetzt in einer Gemeinde mit Wohnkomplexen, die Kindergärten, Grund- und Mittelschulen sowie Gesundheitszentren beherbergen. Als sie uns Fotos ihres alten und verfallenen Hauses zeigte, sagte sie — ohne Romantik, aber mit einem Gefühl der Verbundenheit — «Ich werde meine Kinder in mein altes Dorf zurückbringen, damit sie sich an das Leben von gestern erinnern und das Leben von heute schätzen können».
Herzlichst,
Vijay