Das chinesische Volk hält seine Reisschüssel fest in seinen Händen. 

Der siebenundzwanzigste Newsletter (2023)

Fan Wennan (China), 中国 2098: 太阳照常升起 («China 2098: Die Sonne geht immer noch auf»), 2019–2022.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Auf der Konfe­renz über nach­hal­tige Entwick­lung der Verein­ten Natio­nen 2012 in Rio de Janeiro (Brasi­lien) haben die Mitglieds­staa­ten beschlos­sen, die im Jahr 2000 aufge­stell­ten Mill­en­ni­ums­ent­wick­lungs­ziele (Mill­en­nium Deve­lo­p­ment Goals) durch die Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung (Sustainable Deve­lo­p­ment Goals, kurz SDGs) zu erset­zen. Das erste SDG lautete: «Armut in all ihren Formen über­all been­den». Trotz der enthu­si­as­ti­schen Formu­lie­run­gen war klar, dass die Armut nicht über­all auf der Welt besei­tigt werden würde. Schon vor der COVID-19-Pande­mie zeig­ten die Daten, dass die Armut unüber­wind­bar gewor­den war.

 

Im Okto­ber 2022 veröf­fent­lich­ten das UN-Entwick­lungs­pro­gramm und die Oxford Poverty and Human Deve­lo­p­ment Initia­tive ihren Bericht zum globa­len multi­di­men­sio­na­len Armuts­in­dex 2022, aus dem hervor­ging, dass mindes­tens 1,2 Milli­ar­den Menschen in 111 Entwick­lungs­län­dern in akuter multi­di­men­sio­na­ler Armut leben. Der Begriff «Depri­va­ti­ons­bün­del», auf den im Titel des Berichts Bezug genom­men wird, beschreibt, wie für über eine Milli­arde Menschen eine ganze Reihe an notwen­di­gen Einrich­tun­gen fehlen. So heißt es in dem Bericht: «Fast die Hälfte der armen Menschen (470,1 Millio­nen) ist sowohl in Bezug auf die Ernäh­rung als auch auf die sani­tä­ren Einrich­tun­gen benach­tei­ligt, was sie poten­ti­ell anfäl­li­ger für Infek­ti­ons­krank­hei­ten macht. Darüber hinaus ist mehr als die Hälfte der Armen (593,3 Millio­nen) gleich­zei­tig in Bezug auf Koch­brenn­stoffe und Elek­tri­zi­tät benach­tei­ligt». Diese «Depri­va­ti­ons­bün­del» — wie eben z.B. das Fehlen von Strom und saube­rem Brenn­stoff zum Kochen — bedeu­ten eine zusätz­li­che Belas­tung für die nied­ri­gen Einkom­men, von denen Milli­ar­den von Menschen leben.


Im Jahr 2017 stellte die Welt­bank fest, dass die Armuts­grenze, die bei 1,90 US-Dollar Einkom­men pro Tag lag, viel zu nied­rig war. Sie setzte die neue Armuts­grenze auf 2,15 US-Dollar pro Tag fest, was die Zahl von Menschen unter der Armuts­grenze schlag­ar­tig um 700 Millio­nen Menschen erhöhte. Der Welt­bank­be­richt von 2022 zu Poverty and Shared Prospe­rity zeigt anhand von Daten aus dem Jahr 2019, dass bei einer Armuts­grenze von 3,65 US-Dollar pro Tag 23 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung in Armut leben, und bei einer Grenze von 6,85 US-Dollar pro Tag fast die Hälfte der Welt­be­völ­ke­rung (47 Prozent) unter­halb der Armuts­grenze lebt. Diese Zahlen sind erschreckend.

Fan Wennan, (China), 嫦娥同志 («Genosse Chán­g’é»), 2022.

Unver­ständ­lich ist, dass der UN-Bericht über die Depri­va­ti­ons­bün­del nicht auf das Programm zur Besei­ti­gung der extre­men Armut in China eingeht. Am 25. Februar 2021 erklärte die chine­si­sche Regie­rung, dass die letz­ten 100 Millio­nen Menschen, die unter­halb der Armuts­grenze leben, durch die Anstren­gun­gen des chine­si­schen Volkes über diese Grenze geho­ben wurden und damit die abso­lute Armut in China been­det ist. Im Juni 2021 schrie­ben die Autor*innen der chine­si­schen Kommis­sion zur frei­wil­li­gen natio­na­len Über­prü­fung der SDGs: «Alle 98,99 Millio­nen Einwohner[*innen] aus länd­li­chen Regio­nen, die unter der aktu­el­len Armuts­grenze lebten, wurden aus der Armut befreit, womit das Ziel der Besei­ti­gung der Armut in der Agenda 2030 zehn Jahre früher als geplant erreicht wurde». «Das chine­si­sche Volk», so der Bericht, «hält seine Reis­schüs­sel fest in seinen eige­nen Händen». Einige Monate später lobte UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res das «starke Enga­ge­ment und die bedeu­ten­den Fort­schritte Chinas bei der Besei­ti­gung der Armut in allen Formen und Dimen­sio­nen, einer der größ­ten Heraus­for­de­run­gen der Welt». Selbst eine Studie eines ehema­li­gen UN-Beam­ten, der einige der chine­si­schen Daten anzwei­felte, erkannte die enorme Leis­tung an. Im April 2022 veröf­fent­lich­ten die Welt­bank und das chine­si­sche Entwick­lungs­for­schungs­zen­trum des Staats­rats eine wich­tige Studie mit dem Titel Four Deca­des of Poverty Reduc­tion in China («Vier Jahr­zehnte Armuts­be­kämp­fung in China»), in der der Verlauf dieser histo­ri­schen Leis­tung nach­ge­zeich­net wurde. Dennoch wurde in dem UN-Bericht weder hervor­ge­ho­ben, dass China die abso­lute Armut besei­tigt haben, noch wurde eine Bewer­tung der Art und Weise vorge­nom­men, wie sie dies getan haben.

Fan Wennan (China), 中国2098: 欢迎回家 («China 2098: Will­kom­men Zuhause»), 2019–2022.

Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch haben wir uns einge­hend mit Chinas Projekt zur Abschaf­fung der abso­lu­ten Armut beschäf­tigt. Im Juli 2021 veröf­fent­lich­ten wir eine Studie mit dem Titel Serve the People: The Eradi­ca­tion of Extreme Poverty in China («Im Dienst des Volkes: Die Besei­ti­gung der extre­men Armut in China»), in der die Metho­den unter­sucht wurden, die der chine­si­sche Staat und die chine­si­schen sozia­len Einrich­tun­gen anwen­den, um das zu über­win­den, was Guter­res von der UNO als «eine der größ­ten Heraus­for­de­run­gen der Welt» bezeich­nete. Chinas Erfolg, so schrie­ben wir, «ist weder ein Wunder noch ein Zufall, sondern viel­mehr ein Beweis für sein sozia­lis­ti­sches Enga­ge­ment». Dieser Begriff — «sozia­lis­ti­sches Enga­ge­ment» — bestimmt unser Verständ­nis dessen, was in China seit 1949 gesche­hen ist. In Ausgabe Nr. 2 der inter­na­tio­na­len Ausgabe von Wenhua Zongh­eng, mit dem Titel «Chinas Weg von der extre­men Armut zur sozia­lis­ti­schen Moder­ni­sie­rung», gehen wir dieser Idee von Chinas «sozia­lis­ti­schem Enga­ge­ment» und der Besei­ti­gung der extre­men Armut nach. Die Ausgabe enthält drei wich­tige Aufsätze:

 

    1. Socia­lism 3.0: The Prac­tice and Pros­pects of Socia­lism in China («Sozia­lis­mus 3.0: Praxis und Aussich­ten des Sozia­lis­mus in China») der Longway-Stiftung
    2. The Battle Against Poverty: An Alter­na­tive Revo­lu­tio­nary Prac­tice in China’s Post-Revo­lu­tio­nary Era («Der Kampf gegen die Armut: Eine alter­na­tive revo­lu­tio­näre Praxis in Chinas nach­re­vo­lu­tio­nä­rem Zeit­al­ter») von Li Xiaoyun und Yang Chengxue
    3. How Targe­ted Poverty Alle­via­tion Has Chan­ged the Struc­ture of Rural Gover­nance in China («Wie die gezielte Armuts­be­kämp­fung die Struk­tur der länd­li­chen Verwal­tung in China verän­dert hat») von Wang Xiaoyi

 

In den Arti­keln der Longway-Stif­tung sowie von Li Xiaoyun und Yang Chen­g­xue wird die Bedeu­tung der Armuts­be­kämp­fung in allen histo­ri­schen Phasen des sozia­lis­ti­schen Projekts Chinas hervor­ge­ho­ben, mit der Doppel­stra­te­gie der Umge­stal­tung der Produk­ti­ons­ver­hält­nisse und der Auswei­tung des gesell­schaft­li­chen Wohl­stands. Li und Yang beto­nen die Rolle der Kommu­nis­ti­schen Partei Chinas (KPCh) während der geziel­ten Phase der Armuts­be­kämp­fungs­kam­pa­gne, die unter Präsi­dent Xi Jinping statt­fand. Die Kampa­gne umfasste die Betei­li­gung von 800.000 Kadern an Erhe­bun­gen im Jahr 2014 und die Entsen­dung von drei Millio­nen Kadern, die für mindes­tens zwei Jahre in den armen Dörfern lebten, wobei 1.800 Kader während dieses Kamp­fes gegen die Armut star­ben. Dieser enorme Wandel, der von der KPCh ange­führt wurde, hat die mora­li­sche Auto­ri­tät der Partei wieder­her­ge­stellt und die Frage des Sozia­lis­mus und der sozia­len Gerech­tig­keit in den Mittel­punkt der chine­si­schen Diskus­sion gerückt.

 

Wang Xiaoyi nimmt uns mit aufs Land, wo die Armuts­pro­bleme einst unlös­bar schie­nen, und zeigt auf, wie die länd­li­chen Gebiete durch die Massen­ab­wan­de­rung ausge­höhlt und die länd­li­chen Einrich­tun­gen während der Reform­pe­ri­ode nach 1978 verarm­ten. Im Mittel­punkt des Programms zur Besei­ti­gung der extre­men Armut stand laut Wang der Wieder­auf­bau der länd­li­chen Insti­tu­tio­nen, der durch die Verset­zung von drei Millio­nen KPCh-Kadern aufs Land ermög­licht wurde, wobei man sich auf Erfah­run­gen aus der kampa­gnen­ar­ti­gen Regie­rungs­füh­rung der Mao-Zedong-Ära stützte. Wang setzt seine Hoff­nun­gen darauf, dass die neue länd­li­che Infra­struk­tur, die durch das Programm zur Besei­ti­gung der extre­men Armut geschaf­fen wurde, erhal­ten bleibt, einschließ­lich des «hohen Maßes an Betei­li­gung der Dorf­be­woh­ner an öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten» durch ihre Dorfkomitees.

Fan Wennan (China), 中国2098: 塔里木湖南段- 若羌泵站 («China 2098: Tarim-Hunan-Sektion – Ruoqiang-Pumping-Station»), 2019–2022.

Ein zentra­ler Punkt, der in den Arti­keln dieser zwei­ten Ausgabe von Wenhua Zongh­eng ange­spro­chen wird, ist, dass es das von der KPCh getra­gene Prin­zip des Sozia­lis­mus und die sozia­lis­ti­sche Infra­struk­tur waren, die die Besei­ti­gung der extre­men Armut ermög­lich­ten. Es wird schwie­rig sein, den chine­si­schen Weg zur sozia­lis­ti­schen Moder­ni­sie­rung als Modell für andere Länder zu betrach­ten, wenn diese Länder ihre Programme nicht eben­falls auf eine sozia­lis­ti­sche Grund­lage stel­len. Die Armut wurde nicht allein durch Geld­trans­fer­sys­teme oder medi­zi­ni­sche Programme für den länd­li­chen Raum besei­tigt, auch wenn dies wert­volle poli­ti­sche Optio­nen sind: Sie wurde durch das sozia­lis­ti­sche Enga­ge­ment besei­tigt, Ideen wie die Würde in die Welt zu tragen und zu verwirklichen.

 

Als unser Forscher*innenteam die Gemeinde Wang­jia in der Provinz Guiz­hou besuchte, um die Programme zur Besei­ti­gung der extre­men Armut zu verfol­gen, trafen wir He Ying, die bei ihrem Kampf, sich aus dem Leben einer armen Wander­ar­bei­te­rin zu befreien, zu einer Führe­ri­nungs­per­son der KPCh wurde. Als Mitglied der Allchi­ne­si­schen Frau­en­fö­de­ra­tion beschrieb He Ying, wie sie mit neu zuge­wan­der­ten Bäue­rin­nen arbei­tet, um ihnen das Selbst­ver­trauen zu geben, ihre Situa­tion zu verän­dern. Das Dorf­le­ben der alten Art liegt hinter ihnen. He Ying lebt jetzt in einer Gemeinde mit Wohn­kom­ple­xen, die Kinder­gär­ten, Grund- und Mittel­schu­len sowie Gesund­heits­zen­tren beher­ber­gen. Als sie uns Fotos ihres alten und verfal­le­nen Hauses zeigte, sagte sie — ohne Roman­tik, aber mit einem Gefühl der Verbun­den­heit — «Ich werde meine Kinder in mein altes Dorf zurück­brin­gen, damit sie sich an das Leben von gestern erin­nern und das Leben von heute schät­zen können».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.