Die Vereinigten Staaten wollen eine historische Tatsache verhindern – die eurasische Integration.

Der siebenundzwanzigste Newsletter (2022).

Max Ernst (Deutsch­land), Europa nach dem Regen, 1940–42.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

In den letz­ten fünf­zehn Jahren stan­den die euro­päi­schen Länder vor großen Chan­cen, die es zu nutzen galt, und vor komple­xen Entschei­dun­gen. Die unhalt­bare Abhän­gig­keit von den Verei­nig­ten Staa­ten in Bezug auf Handel und Inves­ti­tio­nen sowie die selt­same Ablen­kung des Brexit führ­ten zu einer konti­nu­ier­li­chen Inte­gra­tion der euro­päi­schen Länder in russi­sche Ener­gie­märkte und zu einer stär­ke­ren Nutzung chine­si­scher Inves­ti­ti­ons­mög­lich­kei­ten und Produktionskapazitäten.

 

Die engere Verflech­tung zwischen Europa und diesen beiden großen asia­ti­schen Ländern (China und Russ­land) brachte die Verhin­de­rung oder zumin­dest Verzö­ge­rung dieser Inte­gra­tion auf die Agenda der USA. Diese Agenda, die nun während des jüngs­ten Tref­fens der Gruppe der 7 (G7) in Deutsch­land und des Gipfels der Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) in Spanien vertieft wurde, schafft eine gefähr­li­che Situa­tion für die Welt.

Bram Demun­ter (Belgien), Linking Reve­la­ti­ons and Beekee­ping, 2019.

All dies geht zurück auf die Finanz­krise von 2007-08, die durch den Zusam­men­bruch des US-Immo­bi­li­en­mark­tes und mehre­rer wich­ti­ger US-Finanz­in­sti­tute ausge­löst wurde. Die Krise signa­li­sierte dem Rest der Welt, dass das auf die USA ausge­rich­tete Finanz­sys­tem nicht vertrau­ens­wür­dig war. Die USA konn­ten nicht der Markt der letz­ten Instanz für die Rohstoffe der Welt blei­ben. Die G7-Länder, die sich als Hüter des globa­len kapi­ta­lis­ti­schen Systems sahen, baten Staa­ten außer­halb ihres Einfluss­be­reichs, wie China und Indien, ihre Über­schüsse in das west­li­che Finanz­sys­tem zu inves­tie­ren, um dessen Zusam­men­bruch zu verhin­dern. Als Gegen­leis­tung für diesen Dienst wurde den Ländern außer­halb der G7 mitge­teilt, dass von nun an die G20 das Exeku­tiv­or­gan des Welt­sys­tems sein würde, und die G7 schritt­weise aufge­löst würde. Doch fast zwan­zig Jahre später gibt es die G7 immer noch, und sie hat sich selbst die Rolle der Welt­herr­schaft ange­maßt, während die NATO, das troja­ni­sche Pferd der USA, sich nun als Welt­po­li­zist positioniert.

Claude Venard (Frank­reich), Nature Morte au Sacre Coeur, 1991.

Der Gene­ral­se­kre­tär der NATO, Jens Stol­ten­berg, hat erklärt, dass die Orga­ni­sa­tion die größte Über­ar­bei­tung ihrer «kollek­ti­ven Abschre­ckung und Vertei­di­gung seit dem Kalten Krieg» durch­füh­ren wird. Die NATO-Mitglieds­staa­ten, zu denen nun auch Finn­land und Schwe­den hinzu­kom­men, werden ihre «Streit­kräfte mit hoher Bereit­schaft» von 40.000 auf 300.000 Mann aufsto­cken, die mit einer Reihe von tödli­chen Waffen ausge­stat­tet sind und «für den Einsatz in bestimm­ten Gebie­ten an der Ostflanke des Bünd­nis­ses», nämlich an der russi­schen Grenze, bereit­ste­hen werden. Der neue Gene­ral­stabs­chef des Verei­nig­ten König­reichs, Gene­ral Sir Patrick Sanders, sagte, diese Streit­kräfte soll­ten sich darauf vorbe­rei­ten, in einem Krieg gegen Russ­land «zu kämp­fen und zu gewinnen».

 

Ange­sichts des anhal­ten­den Konflikts in der Ukraine war es offen­sicht­lich, dass die NATO auf dem Madri­der Gipfel Russ­land in den Vorder­grund stel­len würde. Die von der NATO erstell­ten Unter­la­gen mach­ten jedoch deut­lich, dass es nicht nur um die Ukraine oder Russ­land ging, sondern darum, die eura­si­sche Inte­gra­tion zu verhin­dern. Auf der Londo­ner Tagung 2019 wurde China zum ersten Mal in einem NATO-Doku­ment erwähnt, und es hieß, das Land biete «sowohl Chan­cen als auch Heraus­for­de­run­gen». Bis 2021 hatte sich der Ton geän­dert, und im Kommu­ni­qué des NATO-Gipfels in Brüs­sel wurde China beschul­digt, «die auf Regeln basie­rende inter­na­tio­nale Ordnung syste­misch heraus­zu­for­dern». Im über­ar­bei­te­ten Stra­te­gi­schen Konzept von 2022 wird diese bedroh­li­che Rheto­rik noch verschärft, indem China vorge­wor­fen wird, dass seine «syste­mi­sche Konkur­renz … unsere Inter­es­sen, Sicher­heit und Werte heraus­for­dert und versucht, die auf Regeln basie­rende inter­na­tio­nale Ordnung zu untergraben».

 

Vier Nicht-NATO-Staa­ten, Austra­lien, Japan, Neusee­land und Südko­rea (die Asia-Paci­fic Four) nahmen zum ersten Mal am NATO-Gipfel teil, was sie näher zur Agenda der USA und der NATO bringt, Druck auf China auszu­üben. Austra­lien und Japan gehö­ren zusam­men mit Indien und den USA dem vier­sei­ti­gen Sicher­heits­dia­log (Quad) an, der oft als asia­ti­sche NATO bezeich­net wird und dessen klarer Auftrag darin besteht, Chinas Part­ner­schaf­ten im pazi­fi­schen Raum einzu­schrän­ken. Die Asia-Paci­fic Four hiel­ten während des Gipfels ein Tref­fen ab, um die mili­tä­ri­sche Zusam­men­ar­beit gegen China zu erör­tern und jeden Zwei­fel an den Absich­ten der NATO und ihrer Verbün­de­ten auszuräumen.

Ma Changli (China), Daqing People, 1964.

Nach den Enthül­lun­gen der Finanz­krise 2007-08 und den gebro­che­nen Verspre­chen der G7 hat China zwei Wege einge­schla­gen, um unab­hän­gi­ger vom US-Konsum­markt zu werden. Erstens verbes­ser­ten sie den chine­si­schen Binnen­markt durch höhere Sozi­al­löhne, die Inte­gra­tion der west­li­chen Provin­zen Chinas in die Wirt­schaft und die Besei­ti­gung der abso­lu­ten Armut. Zwei­tens bauten sie Handels‑, Entwick­lungs- und Finanz­sys­teme auf, die sich nicht auf die USA konzen­trier­ten. Die Chine­sen betei­lig­ten sich aktiv an der Zusam­men­ar­beit mit Brasi­lien, Indien, Russ­land und Südafrika, um den BRICS-Prozess (2009) in Gang zu setzen, und stell­ten beträcht­li­che Mittel für die Belt and Road Initia­tive (BRI) bereit (2013). China und Russ­land legten einen lang­jäh­ri­gen Grenz­streit bei, inten­si­vier­ten ihren grenz­über­schrei­ten­den Handel und entwi­ckel­ten eine stra­te­gi­sche Zusam­men­ar­beit (ohne jedoch, wie der Westen, einen Mili­tär­ver­trag zu schließen).

 

In dieser Zeit stie­gen die russi­schen Ener­gie­ver­käufe sowohl nach China als auch nach Europa, und mehrere euro­päi­sche Länder schlos­sen sich der BRI an, was die gegen­sei­ti­gen Inves­ti­tio­nen zwischen Europa und China erhöhte. Frühere Formen der Globa­li­sie­rung in Eura­sien waren durch den Kolo­nia­lis­mus und den Kalten Krieg begrenzt; dies war das erste Mal seit 200 Jahren, dass die Inte­gra­tion in der gesam­ten Region auf einer gleich­be­rech­tig­ten Grund­lage statt­fand. Euro­pas Handels- und Inves­ti­ti­ons­ent­schei­dun­gen waren abso­lut vernünf­tig, denn Erdgas in Pipe­lines durch Nord Stream 2 war viel billi­ger und weni­ger gefähr­lich als verflüs­sig­tes Erdgas aus dem Persi­schen Golf und dem Golf von Mexiko. In Anbe­tracht der chao­ti­schen Brexit-Situa­tion und der Schwie­rig­kei­ten, die Trans­at­lan­ti­sche Handels- und Inves­ti­ti­ons­part­ner­schaft auf den Weg zu brin­gen, sahen viele euro­päi­sche Staa­ten die chine­si­schen Inves­ti­ti­ons­mög­lich­kei­ten als weit­aus groß­zü­gi­ger und zuver­läs­si­ger an als andere Alter­na­ti­ven. Im Gegen­satz dazu wurde risi­ko­scheues und rendi­te­süch­ti­ges priva­tes Betei­li­gungs­ka­pi­tal von der Wall Street für den euro­päi­schen Finanz­sek­tor weni­ger attraktiv.

 

Europa drif­tete unauf­halt­sam in Rich­tung Asien, was die Grund­lage des von den USA domi­nier­ten wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Systems (auch bekannt als die «regel­ba­sierte inter­na­tio­nale Ordnung») bedrohte. Im Jahr 2018 schimpfte US-Präsi­dent Donald Trump öffent­lich über NATO-Chef Stol­ten­berg: «Wir schüt­zen also Deutsch­land. Wir schüt­zen Frank­reich. Wir schüt­zen all diese Länder. Und dann gehen zahl­rei­che [sic] dieser Länder los und schlie­ßen einen Pipe­line-Deal mit Russ­land ab, bei dem sie Milli­ar­den von Dollar in die Kassen Russ­lands einzah­len … Deutsch­land ist in der Gefan­gen­schaft Russ­lands … Ich halte das für sehr unangemessen».


Während die Spra­che der NATO zu Kriegs­dro­hun­gen gegen China und Russ­land über­ge­gan­gen ist, hat sich die G7 verpflich­tet, die von China ange­führ­ten Initia­ti­ven durch die Entwick­lung eines neuen Projekts heraus­zu­for­dern, der Part­ner­schaft für globale Infra­struk­tur und Inves­ti­tio­nen (PGII), einem 200 Milli­ar­den Dollar schwe­ren Fonds für Inves­ti­tio­nen im Globa­len Süden. Auf dem zeit­gleich statt­fin­den­den BRICS-Gipfel zogen die Staats- und Regie­rungs­chefs eine nüch­terne Bilanz der Lage ab und forder­ten Verhand­lun­gen zur Been­di­gung des Ukraine-Kriegs sowie Maßnah­men zur Eindäm­mung der sich immer weiter verschär­fen­den Krisen, denen die Armen der Welt ausge­setzt sind. Von Krieg war in diesem Gremium, das 40 % der Welt­be­völ­ke­rung vertritt, nicht die Rede, und die Stärke der BRICS könnte noch zuneh­men, da Argen­ti­nien und der Iran den Beitritt zum Block bean­tragt haben.

Jamal Penj­weny (Irak), Iraq Is Flying, 2006-10.

Die USA und ihre Verbün­de­ten wollen entwe­der hege­mo­nial blei­ben und China und Russ­land schwä­chen oder einen neuen Eiser­nen Vorhang um diese beiden Länder errich­ten. Beide Ansätze könn­ten zu einem selbst­mör­de­ri­schen mili­tä­ri­schen Konflikt führen. Im gesam­ten Globa­len Süden herrscht die Stim­mung vor, die Reali­tät der eura­si­schen Inte­gra­tion mit mehr Augen­maß zu akzep­tie­ren und eine Welt­ord­nung zu schaf­fen, die auf natio­na­ler und regio­na­ler Souve­rä­ni­tät und der Würde aller Menschen beruht. Nichts von alle­dem kann durch Krieg und Spal­tung erreicht werden.

 

Die Vorah­nung eines Krie­ges von bisher unge­kann­tem Ausmaß erin­nert an «A Perso­nal Song» des iraki­schen Dich­ters Saadi Yousif (1934–2021), den er kurz vor Beginn der vernich­ten­den Bombar­die­rung des Irak durch die USA im Jahr 2003 schrieb.

 

Ist es der Irak?

Geseg­net ist derje­nige, der sagte

Ich kenne den Weg, der dort­hin führt;

Geseg­net sei der, dessen Lippen die vier Buch­sta­ben aussprachen:

Irak, Irak, nichts als Irak.

 

Entfernte Rake­ten werden applaudieren;

bis an die Zähne bewaff­nete Solda­ten werden uns stürmen;

Mina­rette und Häuser werden zerbröckeln

Palmen werden unter dem Bombar­de­ment zerbersten;

die Küsten werden über­füllt sein

mit schwim­men­den Leichen.

Wir werden den Al-Tahrir-Platz nur noch selten sehen

in Büchern mit Elegien und Fotos;

Restau­rants und Hotels werden unsere Wegwei­ser sein

und unser Zuhause im Para­dies des Schutzes:

McDonald’s

KFC

Holi­day Inn;

und wir werden ertränkt werden

wie dein Name, oh Irak,

Irak, Irak, nichts als Irak.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.