Die Vereinigten Staaten wollen eine historische Tatsache verhindern – die eurasische Integration.
Der siebenundzwanzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
In den letzten fünfzehn Jahren standen die europäischen Länder vor großen Chancen, die es zu nutzen galt, und vor komplexen Entscheidungen. Die unhaltbare Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in Bezug auf Handel und Investitionen sowie die seltsame Ablenkung des Brexit führten zu einer kontinuierlichen Integration der europäischen Länder in russische Energiemärkte und zu einer stärkeren Nutzung chinesischer Investitionsmöglichkeiten und Produktionskapazitäten.
Die engere Verflechtung zwischen Europa und diesen beiden großen asiatischen Ländern (China und Russland) brachte die Verhinderung oder zumindest Verzögerung dieser Integration auf die Agenda der USA. Diese Agenda, die nun während des jüngsten Treffens der Gruppe der 7 (G7) in Deutschland und des Gipfels der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) in Spanien vertieft wurde, schafft eine gefährliche Situation für die Welt.
All dies geht zurück auf die Finanzkrise von 2007-08, die durch den Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes und mehrerer wichtiger US-Finanzinstitute ausgelöst wurde. Die Krise signalisierte dem Rest der Welt, dass das auf die USA ausgerichtete Finanzsystem nicht vertrauenswürdig war. Die USA konnten nicht der Markt der letzten Instanz für die Rohstoffe der Welt bleiben. Die G7-Länder, die sich als Hüter des globalen kapitalistischen Systems sahen, baten Staaten außerhalb ihres Einflussbereichs, wie China und Indien, ihre Überschüsse in das westliche Finanzsystem zu investieren, um dessen Zusammenbruch zu verhindern. Als Gegenleistung für diesen Dienst wurde den Ländern außerhalb der G7 mitgeteilt, dass von nun an die G20 das Exekutivorgan des Weltsystems sein würde, und die G7 schrittweise aufgelöst würde. Doch fast zwanzig Jahre später gibt es die G7 immer noch, und sie hat sich selbst die Rolle der Weltherrschaft angemaßt, während die NATO, das trojanische Pferd der USA, sich nun als Weltpolizist positioniert.
Der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, hat erklärt, dass die Organisation die größte Überarbeitung ihrer «kollektiven Abschreckung und Verteidigung seit dem Kalten Krieg» durchführen wird. Die NATO-Mitgliedsstaaten, zu denen nun auch Finnland und Schweden hinzukommen, werden ihre «Streitkräfte mit hoher Bereitschaft» von 40.000 auf 300.000 Mann aufstocken, die mit einer Reihe von tödlichen Waffen ausgestattet sind und «für den Einsatz in bestimmten Gebieten an der Ostflanke des Bündnisses», nämlich an der russischen Grenze, bereitstehen werden. Der neue Generalstabschef des Vereinigten Königreichs, General Sir Patrick Sanders, sagte, diese Streitkräfte sollten sich darauf vorbereiten, in einem Krieg gegen Russland «zu kämpfen und zu gewinnen».
Angesichts des anhaltenden Konflikts in der Ukraine war es offensichtlich, dass die NATO auf dem Madrider Gipfel Russland in den Vordergrund stellen würde. Die von der NATO erstellten Unterlagen machten jedoch deutlich, dass es nicht nur um die Ukraine oder Russland ging, sondern darum, die eurasische Integration zu verhindern. Auf der Londoner Tagung 2019 wurde China zum ersten Mal in einem NATO-Dokument erwähnt, und es hieß, das Land biete «sowohl Chancen als auch Herausforderungen». Bis 2021 hatte sich der Ton geändert, und im Kommuniqué des NATO-Gipfels in Brüssel wurde China beschuldigt, «die auf Regeln basierende internationale Ordnung systemisch herauszufordern». Im überarbeiteten Strategischen Konzept von 2022 wird diese bedrohliche Rhetorik noch verschärft, indem China vorgeworfen wird, dass seine «systemische Konkurrenz … unsere Interessen, Sicherheit und Werte herausfordert und versucht, die auf Regeln basierende internationale Ordnung zu untergraben».
Vier Nicht-NATO-Staaten, Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea (die Asia-Pacific Four) nahmen zum ersten Mal am NATO-Gipfel teil, was sie näher zur Agenda der USA und der NATO bringt, Druck auf China auszuüben. Australien und Japan gehören zusammen mit Indien und den USA dem vierseitigen Sicherheitsdialog (Quad) an, der oft als asiatische NATO bezeichnet wird und dessen klarer Auftrag darin besteht, Chinas Partnerschaften im pazifischen Raum einzuschränken. Die Asia-Pacific Four hielten während des Gipfels ein Treffen ab, um die militärische Zusammenarbeit gegen China zu erörtern und jeden Zweifel an den Absichten der NATO und ihrer Verbündeten auszuräumen.
Nach den Enthüllungen der Finanzkrise 2007-08 und den gebrochenen Versprechen der G7 hat China zwei Wege eingeschlagen, um unabhängiger vom US-Konsummarkt zu werden. Erstens verbesserten sie den chinesischen Binnenmarkt durch höhere Soziallöhne, die Integration der westlichen Provinzen Chinas in die Wirtschaft und die Beseitigung der absoluten Armut. Zweitens bauten sie Handels‑, Entwicklungs- und Finanzsysteme auf, die sich nicht auf die USA konzentrierten. Die Chinesen beteiligten sich aktiv an der Zusammenarbeit mit Brasilien, Indien, Russland und Südafrika, um den BRICS-Prozess (2009) in Gang zu setzen, und stellten beträchtliche Mittel für die Belt and Road Initiative (BRI) bereit (2013). China und Russland legten einen langjährigen Grenzstreit bei, intensivierten ihren grenzüberschreitenden Handel und entwickelten eine strategische Zusammenarbeit (ohne jedoch, wie der Westen, einen Militärvertrag zu schließen).
In dieser Zeit stiegen die russischen Energieverkäufe sowohl nach China als auch nach Europa, und mehrere europäische Länder schlossen sich der BRI an, was die gegenseitigen Investitionen zwischen Europa und China erhöhte. Frühere Formen der Globalisierung in Eurasien waren durch den Kolonialismus und den Kalten Krieg begrenzt; dies war das erste Mal seit 200 Jahren, dass die Integration in der gesamten Region auf einer gleichberechtigten Grundlage stattfand. Europas Handels- und Investitionsentscheidungen waren absolut vernünftig, denn Erdgas in Pipelines durch Nord Stream 2 war viel billiger und weniger gefährlich als verflüssigtes Erdgas aus dem Persischen Golf und dem Golf von Mexiko. In Anbetracht der chaotischen Brexit-Situation und der Schwierigkeiten, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft auf den Weg zu bringen, sahen viele europäische Staaten die chinesischen Investitionsmöglichkeiten als weitaus großzügiger und zuverlässiger an als andere Alternativen. Im Gegensatz dazu wurde risikoscheues und renditesüchtiges privates Beteiligungskapital von der Wall Street für den europäischen Finanzsektor weniger attraktiv.
Europa driftete unaufhaltsam in Richtung Asien, was die Grundlage des von den USA dominierten wirtschaftlichen und politischen Systems (auch bekannt als die «regelbasierte internationale Ordnung») bedrohte. Im Jahr 2018 schimpfte US-Präsident Donald Trump öffentlich über NATO-Chef Stoltenberg: «Wir schützen also Deutschland. Wir schützen Frankreich. Wir schützen all diese Länder. Und dann gehen zahlreiche [sic] dieser Länder los und schließen einen Pipeline-Deal mit Russland ab, bei dem sie Milliarden von Dollar in die Kassen Russlands einzahlen … Deutschland ist in der Gefangenschaft Russlands … Ich halte das für sehr unangemessen».
Während die Sprache der NATO zu Kriegsdrohungen gegen China und Russland übergegangen ist, hat sich die G7 verpflichtet, die von China angeführten Initiativen durch die Entwicklung eines neuen Projekts herauszufordern, der Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen (PGII), einem 200 Milliarden Dollar schweren Fonds für Investitionen im Globalen Süden. Auf dem zeitgleich stattfindenden BRICS-Gipfel zogen die Staats- und Regierungschefs eine nüchterne Bilanz der Lage ab und forderten Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sowie Maßnahmen zur Eindämmung der sich immer weiter verschärfenden Krisen, denen die Armen der Welt ausgesetzt sind. Von Krieg war in diesem Gremium, das 40 % der Weltbevölkerung vertritt, nicht die Rede, und die Stärke der BRICS könnte noch zunehmen, da Argentinien und der Iran den Beitritt zum Block beantragt haben.
Die USA und ihre Verbündeten wollen entweder hegemonial bleiben und China und Russland schwächen oder einen neuen Eisernen Vorhang um diese beiden Länder errichten. Beide Ansätze könnten zu einem selbstmörderischen militärischen Konflikt führen. Im gesamten Globalen Süden herrscht die Stimmung vor, die Realität der eurasischen Integration mit mehr Augenmaß zu akzeptieren und eine Weltordnung zu schaffen, die auf nationaler und regionaler Souveränität und der Würde aller Menschen beruht. Nichts von alledem kann durch Krieg und Spaltung erreicht werden.
Die Vorahnung eines Krieges von bisher ungekanntem Ausmaß erinnert an «A Personal Song» des irakischen Dichters Saadi Yousif (1934–2021), den er kurz vor Beginn der vernichtenden Bombardierung des Irak durch die USA im Jahr 2003 schrieb.
Ist es der Irak?
Gesegnet ist derjenige, der sagte
Ich kenne den Weg, der dorthin führt;
Gesegnet sei der, dessen Lippen die vier Buchstaben aussprachen:
Irak, Irak, nichts als Irak.
Entfernte Raketen werden applaudieren;
bis an die Zähne bewaffnete Soldaten werden uns stürmen;
Minarette und Häuser werden zerbröckeln
Palmen werden unter dem Bombardement zerbersten;
die Küsten werden überfüllt sein
mit schwimmenden Leichen.
Wir werden den Al-Tahrir-Platz nur noch selten sehen
in Büchern mit Elegien und Fotos;
Restaurants und Hotels werden unsere Wegweiser sein
und unser Zuhause im Paradies des Schutzes:
McDonald’s
KFC
Holiday Inn;
und wir werden ertränkt werden
wie dein Name, oh Irak,
Irak, Irak, nichts als Irak.
Herzlichst,
Vijay