Überall auf der Welt werden Frauen in die Ecke gedrängt.
Der siebenundzwanzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 2021 haben die Vereinten Nationen und andere multilaterale Organisationen das «Generation Equality Forum» in Paris (Frankreich) abgehalten. Das Forum fand anlässlich des 25. Jahrestages der Pekinger Erklärung und Aktionsplattform statt, die auf der Vierten Weltfrauenkonferenz (1995) verabschiedet wurde. Die Pekinger Plattform heute zu lesen macht eindeutig, dass viele Länder in Sachen der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung nicht nur nicht vorangekommen sind, sondern ganz im Gegenteil rückwärts gegangen sind. Zu den wesentlichsten Bereichen, die es in Angriff zu nehmen gilt, gehörten die folgenden:
- Die Last der Armut auf Frauen.
- Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten beim Zugang zu Bildung, Trainings, Gesundheitsversorgung, Anstellung und Entscheidungsgewalt.
- Gewalt gegen Frauen, einschließlich der großen Gefahren, die Frauen in bewaffneten Konflikten ausgesetzt sind.
- Mangelnder Respekt vor Frauen sowie unzureichende Förderung und Schutz der Menschenrechte von Frauen.
- Anhaltende Diskriminierung und Verletzung der Rechte von Mädchen.
- Unzureichende Mechanismen auf allen Ebenen, um die Förderung von Frauen voranzutreiben.
Als Teil des Forums, das letzte Woche in Paris stattfand, veröffentlichte eine Gruppe von Organisationen – darunter die Weltgesundheitsorganisation (WHO) – eine Reihe von zwölf Dossiers, die die Entwicklungen der letzten 25 Jahre betrachten, wobei der Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie liegt. Das Leitpapier stellt fest, dass es «entmutigend ist, dass immer noch kein einziges Land behaupten kann, die Gleichstellung der Geschlechter erreicht zu haben». Darüber hinaus «war die COVID-19-Pandemie ein schwerer Rückschlag für die Gleichstellung der Geschlechter und die Gesundheit von Frauen». Aus diesen zwölf Papieren gehen einige zentrale Forderungen für die Zukunft hervor:
- Die erste Forderung ist, dass bezahlte Arbeit und unbezahlte Betreuungsarbeit gleichwertig behandelt werden, wobei die Tatsache anerkannt werden muss, dass viele Frauen nicht erwerbstätig sind oder im informellen Sektor arbeiten und dass Frauen eine unverhältnismäßig große Last an unbezahlter Betreuungsarbeit tragen.
- Eine universelle Gesundheitsversorgung ist notwendig, die auch eine umfassende sexuelle und reproduktive Gesundheitsversorgung beinhaltet.
- Universeller Sozialschutz muss Kinderbetreuung, bezahlten Eltern‑, Krankheits- und Familienpflegeurlaub und eine Rente für ältere Menschen miteinbeziehen.
- Frauenbewegungen müssen unterstützt werden, und Frauen müssen an der Gestaltung der politischen Strategien in allen Bereichen der Gesellschaft voll beteiligt werden. Mit Blick auf die Rolle der Frauen in Politik und Regierung sagte die Leiterin von UN Women, Phumzile Mlambo-Ngcuka, auf dem Forum: «Frauen machen ein Viertel der Führungskräfte aus, sie stellen ein Viertel der Parlamentarier*innen auf der ganzen Welt, sie sind ein Viertel derer, die über den Klimawandel verhandeln, sie sind weniger als ein Viertel derer, die Friedensabkommen aushandeln. All diese Entscheidungen haben einen fundamentalen Einfluss auf ihre Fähigkeit, ein sinnvolles Leben zu führen.»
Letztes Jahr kam UN Women in einem umfangreichen Bericht zu dem Schluss, dass die Errungenschaften des letzten Vierteljahrhunderts verwelkt sind. Die Hauptgründe für diesen Rückschritt sind Klimanotstand, grausame Sparpolitik, Konflikte, Gewalt, der «Aufstieg ausgrenzender Politik, die von Frauenfeindlichkeit und Fremdenhass geprägt ist», dass die gesamte Care-Ökonomie von Frauen getragen wird, und die Kombination mit weiteren Faktoren. Zu diesen Ursachen kommt nun die Pandemie hinzu, die – wie unsere Studie CoronaShock and Patriarchy gezeigt hat – Frauen besonders hart getroffen hat.
Einige wichtige Punkte sollen hier herausgehoben werden:
- 510 Millionen Frauen auf der ganzen Welt – etwa 40 % aller berufstätigen Frauen – sind in den am stärksten von der Pandemie betroffenen Sektoren beschäftigt, wie z. B. in der Unterhaltungsbranche, der Gastronomie, dem Gastgewerbe, der verarbeitenden Industrie und dem Tourismus.
- Frauen sind überproportional im informellen Sektor zu finden (60 %), wo sie keinen sozialen und wirtschaftlichen Schutz genießen.
- Frauen haben während der Pandemie häufiger als Männer ihren Arbeitsplatz verloren.
- Während der Pandemie haben mindestens 64 Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz verloren, was zu einem Einkommensverlust von mindestens 800 Milliarden Dollar führte. Darin sind die Frauen im informellen Sektor nicht enthalten, der im südlichen Asien und in Afrika der Hauptbereich für arbeitende Frauen ist.
- Studien aus aller Welt zeigen, dass Frauen während der Pandemie aufgrund erhöhter Pflegeverpflichtungen ihre Arbeitsstunden reduzieren mussten und dass sich diese Kürzungen langfristig auf Lohn und Rente auswirken. Dies wirkt sich auch auf die Fähigkeit der Frauen aus, wieder in den Beruf zurückzukehren, und führt langfristig oft zu einer stärkeren Zunahme der Betreuungs- und Pflegearbeit. Darüber hinaus sind Frauen, wie die Internationale Arbeitsorganisation betont, «nicht nur vom Verlust von Arbeitsplätzen betroffen, sondern auch von Ausgabenkürzungen, die öffentliche Dienstleistungen, insbesondere Pflegedienste, einschränken».
- Eine Umfrage von UNAIDS ergab, dass 47 % der befragten LGBTQIA+ Personen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, wobei «ein Viertel nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, also Mahlzeiten ausfallen lassen oder reduzieren müssen».
Hinter diesen Berichten verbirgt sich die Realität von Frauen, die in ländlichen Gebieten leben. In Indien zum Beispiel stellen Frauen auf dem Land 81,29 % der Arbeitskräfte, aber nur 12,9 % der Frauen besitzen Land. Die meisten dieser Frauen sind landlose Landarbeiterinnen oder arbeiten im informellen Sektor. Während der jüngsten Pandemiewelle in Indien im April 2021 verschwanden 5,7 Millionen Arbeitsplätze von Frauen auf dem Land; dieser Arbeitsplatzverlust macht fast 80% aller Arbeitsplatzverluste in diesem Monat aus. Die Erholung im Mai fiel schwach aus. Das Dossier von Tricontinental: Institute for Social Research über den Bäuer*innenaufstand ist eine wichtige Lektüre für den Kontext der Krise im ländlichen Indien. Nikore Associates, mit Sitz in Delhi, nennt vier Gründe für die Krise der Frauen auf dem Land:
- Im ländlichen Indien verbrachten Frauen vor der Pandemie 5,017 Stunden pro Tag mit unbezahlter Betreuungsarbeit; im Vergleich dazu entfielen auf Männer 1,67 Stunden pro Tag. Während der Pandemie, als Familienmitglieder erkrankten, kam den Frauen die Pflicht der Pflegearbeit zu.
- Aufgrund der Lockdowns und anderer Einschränkungen war es für Frauen, die ihr Einkommen durch den Handel mit Waren und landwirtschaftlichen Erzeugnissen, einschließlich des Fischverkaufs, aufbesserten, schwierig, auf die Märkte zu gehen.
- Frauen waren wichtige Nutznießer des staatlichen Programms für ländliche Arbeit (MNREGA), das im Regierungsbudget für 2020–21 um fast 35% gekürzt wurde. Im April-Mai 2021 sanken die durch dieses Programm bereitgestellten Arbeitsplätze um 21%.
- Frauen, die im Handwerks- und Kleinindustriesektor arbeiteten – auch in Akkord- und Heimarbeit – erlebten, wie der Sektor während der zweiten Welle ins Stocken geriet und sich in den Monaten danach nicht erholte.
Bei dem Treffen in Paris sagte Mlambo-Ngcuka von UN Women: «Frauen werden überall auf der Welt in eine enge Ecke gedrängt». Natürlich wehren sie sich auch. Überall auf der Welt wehren sich Gewerkschaften und Landwirtschaftsgewerkschaften, Frauenorganisationen und Menschenrechtsgruppen sowie politische Parteien der Linken. Sie treten aus der Ecke heraus und versuchen, die Agenda der arbeitenden Frauen auf den Tisch zu bringen. Die Forderungen, die gestellt werden, sind grundlegend. Achtzehn davon werden am Ende der CoronaShock and Patriarchy-Studie aufgelistet. Hier ist eine Zusammenfassung, verdichtet auf acht Forderungen:
- Nominiert Anführerinnen von Frauenorganisationen der Arbeiterklasse in einflussreiche Gremien, die die Politik gestalten.
- Anerkennt informelle Arbeiterinnen und zählt sie in volkswirtschaftlichen Berechnungen mit.
- Stellt sicher, dass informelle Arbeiterinnen eine grundlegende Arbeitssicherheit haben.
- Sofortige Bargeld- und Nahrungsmittelhilfe für Arbeiterinnen bereitstellen.
- Sofortige Gesundheitsversorgung für alle Arbeiterinnen.
- Ein Moratorium für die Zahlung von Mieten und Nebenkosten.
- Verbesserung der Sozialschutzsysteme, einschließlich Programmen zur Betreuung von Kindern und älteren Menschen.
- Bereitstellung von Krediten für Frauenkooperativen.
1995 wählten die Delegierten Chen Muhua (1921–2011) zur Präsidentin der UN-Weltfrauenkonferenz. 1938 war Chen nach Yan’an gegangen, um sich der kommunistischen Revolution anzuschliessen, wo sie Kàngda studierte und beim Aufbau der wirtschaftlichen Belastbarkeit der Basisgebiete mithalf. Nach 1949 arbeitete Chen in der Kommunistischen Partei (sie stieg zum stellvertretenden Mitglied des Politbüros auf), im chinesischen Staat (sie wurde Gouverneurin der People’s Bank of China) und in der Frauenbewegung (sie leitete die All-China Women’s Federation). Auf der Peking-Konferenz hielt Chen ein starkes Plädoyer für die Emanzipation der Frauen. «Der Ruf der Frauen nach einer Verbesserung ihres Status ist nicht zu überhören. Die Zeiten verlangen es. Die Menschheit strebt danach».
Herzlichst,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.