Überall auf der Welt werden Frauen in die Ecke gedrängt.

Der siebenundzwanzigste Newsletter (2021).

Sandra Eleta (Panama), La servid­umbre (Knecht­schaft), 1978–79.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 2021 haben die Verein­ten Natio­nen und andere multi­la­te­rale Orga­ni­sa­tio­nen das «Gene­ra­tion Equa­lity Forum» in Paris (Frank­reich) abge­hal­ten. Das Forum fand anläss­lich des 25. Jahres­ta­ges der Pekin­ger Erklä­rung und Akti­ons­platt­form statt, die auf der Vier­ten Welt­frau­en­kon­fe­renz (1995) verab­schie­det wurde. Die Pekin­ger Platt­form heute zu lesen macht eindeu­tig, dass viele Länder in Sachen der Gerech­tig­keit und Gleich­be­rech­ti­gung nicht nur nicht voran­ge­kom­men sind, sondern ganz im Gegen­teil rück­wärts gegan­gen sind. Zu den wesent­lichs­ten Berei­chen, die es in Angriff zu nehmen gilt, gehör­ten die folgenden:

 

    • Die Last der Armut auf Frauen.
    • Ungleich­hei­ten und Unzu­läng­lich­kei­ten beim Zugang zu Bildung, Trai­nings, Gesund­heits­ver­sor­gung, Anstel­lung und Entscheidungsgewalt.
    • Gewalt gegen Frauen, einschließ­lich der großen Gefah­ren, die Frauen in bewaff­ne­ten Konflik­ten ausge­setzt sind.
    • Mangeln­der Respekt vor Frauen sowie unzu­rei­chende Förde­rung und Schutz der Menschen­rechte von Frauen.
    • Anhal­tende Diskri­mi­nie­rung und Verlet­zung der Rechte von Mädchen.
    • Unzu­rei­chende Mecha­nis­men auf allen Ebenen, um die Förde­rung von Frauen voranzutreiben.

 

Als Teil des Forums, das letzte Woche in Paris statt­fand, veröf­fent­lichte eine Gruppe von Orga­ni­sa­tio­nen – darun­ter die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO) – eine Reihe von zwölf Dossiers, die die Entwick­lun­gen der letz­ten 25 Jahre betrach­ten, wobei der Schwer­punkt auf den gesell­schaft­li­chen Auswir­kun­gen der Pande­mie liegt. Das Leit­pa­pier stellt fest, dass es «entmu­ti­gend ist, dass immer noch kein einzi­ges Land behaup­ten kann, die Gleich­stel­lung der Geschlech­ter erreicht zu haben». Darüber hinaus «war die COVID-19-Pande­mie ein schwe­rer Rück­schlag für die Gleich­stel­lung der Geschlech­ter und die Gesund­heit von Frauen». Aus diesen zwölf Papie­ren gehen einige zentrale Forde­run­gen für die Zukunft hervor:

 

    1. Die erste Forde­rung ist, dass bezahlte Arbeit und unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit gleich­wer­tig behan­delt werden, wobei die Tatsa­che aner­kannt werden muss, dass viele Frauen nicht erwerbs­tä­tig sind oder im infor­mel­len Sektor arbei­ten und dass Frauen eine unver­hält­nis­mä­ßig große Last an unbe­zahl­ter Betreu­ungs­ar­beit tragen.
    2. Eine univer­selle Gesund­heits­ver­sor­gung ist notwen­dig, die auch eine umfas­sende sexu­elle und repro­duk­tive Gesund­heits­ver­sor­gung beinhaltet.
    3. Univer­sel­ler Sozi­al­schutz muss Kinder­be­treu­ung, bezahl­ten Eltern‑, Krank­heits- und Fami­li­en­pfle­ge­ur­laub und eine Rente für ältere Menschen miteinbeziehen.
    4. Frau­en­be­we­gun­gen müssen unter­stützt werden, und Frauen müssen an der Gestal­tung der poli­ti­schen Stra­te­gien in allen Berei­chen der Gesell­schaft voll betei­ligt werden. Mit Blick auf die Rolle der Frauen in Poli­tik und Regie­rung sagte die Leite­rin von UN Women, Phum­zile Mlambo-Ngcuka, auf dem Forum: «Frauen machen ein Vier­tel der Führungs­kräfte aus, sie stel­len ein Vier­tel der Parlamentarier*innen auf der ganzen Welt, sie sind ein Vier­tel derer, die über den Klima­wan­del verhan­deln, sie sind weni­ger als ein Vier­tel derer, die Frie­dens­ab­kom­men aushan­deln. All diese Entschei­dun­gen haben einen funda­men­ta­len Einfluss auf ihre Fähig­keit, ein sinn­vol­les Leben zu führen.»
Olga Roza­nova (Russ­land), Auf der Straße, 1915.

Letz­tes Jahr kam UN Women in einem umfang­rei­chen Bericht zu dem Schluss, dass die Errun­gen­schaf­ten des letz­ten Vier­tel­jahr­hun­derts verwelkt sind. Die Haupt­gründe für diesen Rück­schritt sind Klima­not­stand, grau­same Spar­po­li­tik, Konflikte, Gewalt, der «Aufstieg ausgren­zen­der Poli­tik, die von Frau­en­feind­lich­keit und Frem­den­hass geprägt ist», dass die gesamte Care-Ökono­mie von Frauen getra­gen wird, und die Kombi­na­tion mit weite­ren Fakto­ren. Zu diesen Ursa­chen kommt nun die Pande­mie hinzu, die – wie unsere Studie Coro­naS­hock and Patri­ar­chy gezeigt hat – Frauen beson­ders hart getrof­fen hat.

 

Einige wich­tige Punkte sollen hier heraus­ge­ho­ben werden:

 

    1. 510 Millio­nen Frauen auf der ganzen Welt – etwa 40 % aller berufs­tä­ti­gen Frauen – sind in den am stärks­ten von der Pande­mie betrof­fe­nen Sekto­ren beschäf­tigt, wie z. B. in der Unter­hal­tungs­bran­che, der Gastro­no­mie, dem Gast­ge­werbe, der verar­bei­ten­den Indus­trie und dem Tourismus.
    2. Frauen sind über­pro­por­tio­nal im infor­mel­len Sektor zu finden (60 %), wo sie keinen sozia­len und wirt­schaft­li­chen Schutz genießen.
    3. Frauen haben während der Pande­mie häufi­ger als Männer ihren Arbeits­platz verloren.
    4. Während der Pande­mie haben mindes­tens 64 Millio­nen Frauen ihren Arbeits­platz verlo­ren, was zu einem Einkom­mens­ver­lust von mindes­tens 800 Milli­ar­den Dollar führte. Darin sind die Frauen im infor­mel­len Sektor nicht enthal­ten, der im südli­chen Asien und in Afrika der Haupt­be­reich für arbei­tende Frauen ist.
    5. Studien aus aller Welt zeigen, dass Frauen während der Pande­mie aufgrund erhöh­ter Pfle­ge­ver­pflich­tun­gen ihre Arbeits­stun­den redu­zie­ren muss­ten und dass sich diese Kürzun­gen lang­fris­tig auf Lohn und Rente auswir­ken. Dies wirkt sich auch auf die Fähig­keit der Frauen aus, wieder in den Beruf zurück­zu­keh­ren, und führt lang­fris­tig oft zu einer stär­ke­ren Zunahme der Betreu­ungs- und Pfle­ge­ar­beit. Darüber hinaus sind Frauen, wie die Inter­na­tio­nale Arbeits­or­ga­ni­sa­tion betont, «nicht nur vom Verlust von Arbeits­plät­zen betrof­fen, sondern auch von Ausga­ben­kür­zun­gen, die öffent­li­che Dienst­leis­tun­gen, insbe­son­dere Pfle­ge­dienste, einschränken».
    6. Eine Umfrage von UNAIDS ergab, dass 47 % der befrag­ten LGBTQIA+ Perso­nen in wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten stecken, wobei «ein Vier­tel nicht in der Lage ist, die Grund­be­dürf­nisse zu befrie­di­gen, also Mahl­zei­ten ausfal­len lassen oder redu­zie­ren müssen».
Aurora Reyes Flores (Mexiko), Escena revo­lu­cio­na­ria (Revo­lu­tio­näre Szene), 1935.

Hinter diesen Berich­ten verbirgt sich die Reali­tät von Frauen, die in länd­li­chen Gebie­ten leben. In Indien zum Beispiel stel­len Frauen auf dem Land 81,29 % der Arbeits­kräfte, aber nur 12,9 % der Frauen besit­zen Land. Die meis­ten dieser Frauen sind land­lose Land­ar­bei­te­rin­nen oder arbei­ten im infor­mel­len Sektor. Während der jüngs­ten Pande­mie­welle in Indien im April 2021 verschwan­den 5,7 Millio­nen Arbeits­plätze von Frauen auf dem Land; dieser Arbeits­platz­ver­lust macht fast 80% aller Arbeits­platz­ver­luste in diesem Monat aus. Die Erho­lung im Mai fiel schwach aus. Das Dossier von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch über den Bäuer*innenaufstand ist eine wich­tige Lektüre für den Kontext der Krise im länd­li­chen Indien. Nikore Asso­cia­tes, mit Sitz in Delhi, nennt vier Gründe für die Krise der Frauen auf dem Land:

 

    1. Im länd­li­chen Indien verbrach­ten Frauen vor der Pande­mie 5,017 Stun­den pro Tag mit unbe­zahl­ter Betreu­ungs­ar­beit; im Vergleich dazu entfie­len auf Männer 1,67 Stun­den pro Tag. Während der Pande­mie, als Fami­li­en­mit­glie­der erkrank­ten, kam den Frauen die Pflicht der Pfle­ge­ar­beit zu.
    2. Aufgrund der Lock­downs und ande­rer Einschrän­kun­gen war es für Frauen, die ihr Einkom­men durch den Handel mit Waren und land­wirt­schaft­li­chen Erzeug­nis­sen, einschließ­lich des Fisch­ver­kaufs, aufbes­ser­ten, schwie­rig, auf die Märkte zu gehen.
    3. Frauen waren wich­tige Nutz­nie­ßer des staat­li­chen Programms für länd­li­che Arbeit (MNREGA), das im Regie­rungs­bud­get für 2020–21 um fast 35% gekürzt wurde. Im April-Mai 2021 sanken die durch dieses Programm bereit­ge­stell­ten Arbeits­plätze um 21%.
    4. Frauen, die im Hand­werks- und Klein­in­dus­trie­sek­tor arbei­te­ten – auch in Akkord- und Heim­ar­beit – erleb­ten, wie der Sektor während der zwei­ten Welle ins Stocken geriet und sich in den Mona­ten danach nicht erholte.

 

Colette Omog­bai (Nige­ria), Agony (Agonie), 1963.

Bei dem Tref­fen in Paris sagte Mlambo-Ngcuka von UN Women: «Frauen werden über­all auf der Welt in eine enge Ecke gedrängt». Natür­lich wehren sie sich auch. Über­all auf der Welt wehren sich Gewerk­schaf­ten und Land­wirt­schafts­ge­werk­schaf­ten, Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen und Menschen­rechts­grup­pen sowie poli­ti­sche Parteien der Linken. Sie treten aus der Ecke heraus und versu­chen, die Agenda der arbei­ten­den Frauen auf den Tisch zu brin­gen. Die Forde­run­gen, die gestellt werden, sind grund­le­gend. Acht­zehn davon werden am Ende der Coro­naS­hock and Patri­ar­chy-Studie aufge­lis­tet. Hier ist eine Zusam­men­fas­sung, verdich­tet auf acht Forderungen:

 

    1. Nomi­niert Anfüh­re­rin­nen von Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen der Arbei­ter­klasse in einfluss­rei­che Gremien, die die Poli­tik gestalten.
    2. Aner­kennt infor­melle Arbei­te­rin­nen und zählt sie in volks­wirt­schaft­li­chen Berech­nun­gen mit.
    3. Stellt sicher, dass infor­melle Arbei­te­rin­nen eine grund­le­gende Arbeits­si­cher­heit haben. 
    4. Sofor­tige Bargeld- und Nahrungs­mit­tel­hilfe für Arbei­te­rin­nen bereitstellen.
    5. Sofor­tige Gesund­heits­ver­sor­gung für alle Arbeiterinnen.
    6. Ein Mora­to­rium für die Zahlung von Mieten und Nebenkosten.
    7. Verbes­se­rung der Sozi­al­schutz­sys­teme, einschließ­lich Program­men zur Betreu­ung von Kindern und älte­ren Menschen.
    8. Bereit­stel­lung von Kredi­ten für Frauenkooperativen.

 

1995 wähl­ten die Dele­gier­ten Chen Muhua (1921–2011) zur Präsi­den­tin der UN-Welt­frau­en­kon­fe­renz. 1938 war Chen nach Yan’an gegan­gen, um sich der kommu­nis­ti­schen Revo­lu­tion anzu­schlies­sen, wo sie Kàngda studierte und beim Aufbau der wirt­schaft­li­chen Belast­bar­keit der Basis­ge­biete mithalf. Nach 1949 arbei­tete Chen in der Kommu­nis­ti­schen Partei (sie stieg zum stell­ver­tre­ten­den Mitglied des Polit­bü­ros auf), im chine­si­schen Staat (sie wurde Gouver­neu­rin der People’s Bank of China) und in der Frau­en­be­we­gung (sie leitete die All-China Women’s Fede­ra­tion). Auf der Peking-Konfe­renz hielt Chen ein star­kes Plädoyer für die Eman­zi­pa­tion der Frauen. «Der Ruf der Frauen nach einer Verbes­se­rung ihres Status ist nicht zu über­hö­ren. Die Zeiten verlan­gen es. Die Mensch­heit strebt danach».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.