Israel kann die Apartheid nicht abstreiten. 

Der sechsundzwanzigste Newsletter (2023).

Samia Halaby (Paläs­tina), Pales­tine, from the Medi­ter­ra­nean Sea to the Jordan River, 2003.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 24. Juni 2023 veröf­fent­lich­ten der Stabs­chef der israe­li­schen Streit­kräfte (IDF) Herzl Halevi, der Chef des Shin Bet (Geheim­dienst) Ronen Bar und der Poli­zei­prä­si­dent Kobi Shab­tai eine gemein­same Erklä­rung. Sie spra­chen darin von «gewalt­tä­ti­gen Angrif­fen … durch israe­li­sche Bürger[*innen] gegen unschul­dige Palästinenser[*innnen]», die sie als «natio­na­lis­ti­schen Terror in jeder Hinsicht» bezeich­ne­ten. Eine solche Aussage ist rar, insbe­son­dere die Beschrei­bung der Gewalt als «natio­na­lis­ti­scher Terror» und die Darstel­lung der paläs­ti­nen­si­schen Opfer als «unschul­dig». Norma­ler­weise stel­len hoch­ran­gige Beamte der israe­li­schen Regie­rung solche Angriffe als Vergel­tung für Terror­an­schläge von Palästinenser*innen dar.

 

Drei Tage vor diesem State­ment erklärte die US-Regie­rung, sie habe «beun­ru­hi­gende Berichte über extre­mis­ti­sche Sied­ler­ge­walt gegen paläs­ti­nen­si­sche Zivilist*innen» erhal­ten. Sied­ler­grup­pen – oder besser gesagt, israe­li­sche natio­na­lis­ti­sche Terror­grup­pen – haben an der Seite der israe­li­schen Streit­kräfte im West­jor­dan­land gewü­tet und nach Belie­ben Palästinenser*innen getö­tet, um in diesem Teil Paläs­ti­nas Angst zu verbrei­ten und weitere ethni­sche Säube­run­gen voran­zu­trei­ben, die euphe­mis­tisch als «Demo­gra­fie-Manage­ment» bezeich­net werden.


Die israe­li­sche Gewalt gegen Palästinenser*innen ist nicht neu, aber sie ist in letz­ter Zeit rapide eska­liert. Von Januar bis Mai dieses Jahres haben nach Berech­nun­gen der Verein­ten Natio­nen israe­li­sche Streit­kräfte 143 Palästinenser*innen getö­tet (112 im West­jor­dan­land und 31 im Gaza­strei­fen) – mehr als doppelt so viele wie im glei­chen Zeit­raum des Vorjah­res. Im Jahr 2022 wurden insge­samt 181 Palästinenser*innen getö­tet (151 im West­jor­dan­land und 30 im Gaza­strei­fen). Unter­des­sen stell­ten die UN-Orga­ni­sa­tio­nen fest, dass 2022 das sechste Jahr in Folge ein Anstieg der Sied­ler­an­griffe zu verzeich­nen war, die seit 2006, nach der Nieder­schla­gung der Zwei­ten Inti­fada durch Israel, stetig zuneh­men. Im Jahr 2009 warn­ten die Verein­ten Natio­nen, dass 250.000 Palästinenser*innen in 83 Gemein­den im West­jor­dan­land «der Gefahr erhöh­ter Gewalt» durch israe­li­sche Siedler*innen ausge­setzt seien. Sie bezeich­ne­ten diese Angriffe als «Preisschild»-Angriffe, weil die Siedler*innen von den Palästinenser*innen einen hohen Preis für ihre Exis­tenz in den von den Israe­lis Judäa und Sama­ria genann­ten Gebie­ten fordern.

Tayseer Bara­kat (Paläs­tina), Shore­less Sea #11, 2019.

Auf einer Kabi­netts­sit­zung am 25. Juni erklärte der israe­li­sche Premier­mi­nis­ter Benja­min Netan­jahu seinen Kolleg*innen, dass auch er die «Aufrufe zum ille­ga­len Land­raub und die Hand­lun­gen des ille­ga­len Land­raubs» für «inak­zep­ta­bel» halte. Wenn man Netan­ja­hus Erklä­rung vor dem Kabi­nett genau liest, stellt man jedoch fest, dass er die Poli­tik der Land­nahme und des Demo­gra­fie-Manage­ments nicht ablehnt. Die gewalt­tä­ti­gen Aktio­nen der Siedler*innen, so Netan­jahu, «stär­ken die Sied­lun­gen nicht – im Gegen­teil, sie scha­den ihnen. Ich sage dies als jemand, der die Sied­lun­gen in Judäa und Sama­ria verdop­pelt hat und trotz des großen und beispiel­lo­sen inter­na­tio­na­len Drucks den Rück­zug nicht voll­zo­gen habe und auch nicht tun werde». Diese Sied­lun­gen, die Netan­jahu anpreist, sind nach inter­na­tio­na­lem Recht ille­gal. Erst 2016 stimmte der UN-Sicher­heits­rat für die Reso­lu­tion 2334, die «alle Maßnah­men verur­teilt, die darauf abzie­len, die demo­gra­fi­sche Zusam­men­set­zung, den Charak­ter und den Status der seit 1967 besetz­ten paläs­ti­nen­si­schen Gebiete, einschließ­lich Ostje­ru­sa­lems, zu verän­dern, einschließ­lich unter ande­rem des Baus und der Erwei­te­rung von Sied­lun­gen, der Umsied­lung israe­li­scher Siedler[*innen], der Beschlag­nahme von Land, des Abris­ses von Häusern und der Vertrei­bung paläs­ti­nen­si­scher Zivilist[*inn]en».

 

In den letz­ten Jahren hat eine Reihe von poli­ti­schen Maßnah­men und Aktio­nen der israe­li­schen Regie­rung das Schreck­ge­spenst der Apart­heid herauf­be­schwo­ren, einem Begriff, der aus dem Afri­kaans stammt und so viel bedeu­tet wie «der Zustand des Getrennt-Seins». Dieser Begriff wird zuneh­mend verwen­det, um die insti­tu­tio­na­li­sierte Diskri­mi­nie­rung von Palästinenser*innen durch Israel inner­halb der israe­li­schen Gren­zen von 1948, in den besetz­ten paläs­ti­nen­si­schen Gebie­ten (Occu­p­ied Pales­ti­nian Terri­to­ries, kurz OPT, bestehend aus Ost-Jeru­sa­lem, Gaza und dem West­jor­dan­land) seit 1967 und im Exil in der Diaspora zu beschrei­ben. 2017 veröf­fent­lichte die UN-Wirt­schafts- und Sozi­al­kom­mis­sion für West­asien (ESCWA) einen umfas­sen­den Bericht mit dem Titel Israeli Prac­ti­ces towards the Pales­ti­nian People and the Ques­tion of Apart­heid. Die dama­lige Leite­rin der ESCWA, Rima Khalaf, erklärte, dass Isra­els Apart­heid­re­gime auf zwei Ebenen funk­tio­niert. Erstens frag­men­tiert es das paläs­ti­nen­si­sche Volk (inner­halb Isra­els, in den OPT und in der Diaspora). Zwei­tens unter­drückt es die Palästinenser*innen durch «eine Reihe von Geset­zen, poli­ti­schen Maßnah­men und Prak­ti­ken, die ihre Beherr­schung durch eine rassi­sche Gruppe sicher­stel­len und der Aufrecht­erhal­tung des Regimes dienen».

 

Die Verwen­dung des Wortes Apart­heid zur Beschrei­bung von Isra­els Behand­lung der Palästinenser*innen ist inzwi­schen fast allge­gen­wär­tig. Amnesty Inter­na­tio­nal beispiels­weise veröf­fent­lichte 2022 einen Bericht mit einem aussa­ge­kräf­ti­gen Titel: Israel’s Apart­heid against Pales­ti­ni­ans: Cruel System of Domi­na­tion and Crime against Huma­nity. In der unmiss­ver­ständ­li­chen Schluss­fol­ge­rung schrieb Amnesty:

 

Israel hat das inter­na­tio­nale Unrecht der Apart­heid als Menschen­rechts­ver­let­zung und Verlet­zung des Völker­rechts began­gen, wo immer es dieses System durch­setzt. … Fast alle zivi­len Verwal­tungs- und Mili­tär­be­hör­den Isra­els sowie staat­li­che und quasi-staat­li­che Insti­tu­tio­nen sind an der Durch­set­zung des Apart­heid­sys­tems gegen Palästinenser[*innen] in ganz Israel und in den OPT sowie gegen paläs­ti­nen­si­sche Flücht­linge und ihre Nach­kom­men außer­halb des Gebiets beteiligt.

Dina Mattar (Paläs­tina), Untit­led 1, 2019.

Vom 20. bis 22. Juni besuch­ten zwei ehema­lige hoch­ran­gige UN-Beamte, Ban Ki-moon (ehema­li­ger UN-Gene­ral­se­kre­tär) und Mary Robin­son (ehema­lige UN-Hoch­kom­mis­sa­rin für Menschen­rechte und Präsi­den­tin von Irland), Paläs­tina und Israel. Sie reis­ten im Auftrag von The Elders in die Region, einer Gruppe, die 2007 von Nelson Mandela gegrün­det wurde, um ehema­lige Regie­rungs­mit­ar­bei­ter und Spit­zen­be­amte multi­la­te­ra­ler Insti­tu­tio­nen zusam­men­zu­brin­gen, damit sie sich mit den Dilem­mata der Mensch­heit befas­sen. Nach ihrer Abreise aus Tel Aviv veröf­fent­lich­ten die beiden Elders-Mitglie­der einen vernich­ten­den Bericht über ihren Besuch.

 

Auf der Grund­lage ihrer Gesprä­che mit Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und ihrer eige­nen Unter­su­chun­gen wiesen Ban und Robin­son darauf hin, dass sich die Beweise immer mehr verdich­ten, dass die Situa­tion der völker­recht­li­chen Defi­ni­tion von Apart­heid entspricht. Als sie diese Beweise mit israe­li­schen Beam­ten disku­tier­ten, hörten sie «keine detail­lierte Wider­le­gung der Beweise für Apart­heid». Die Regie­rungs­richt­li­nien für das Kabi­nett Netan­jahu, so Ban und Robin­son, «zeigen deut­lich die Absicht, eher eine dauer­hafte Anne­xion als eine vorüber­ge­hende Beset­zung anzu­stre­ben, die auf jüdi­scher Vorherr­schaft beruht. Zu den Maßnah­men gehö­ren die Über­tra­gung der Verwal­tungs­be­fug­nisse über das besetzte West­jor­dan­land von mili­tä­ri­schen auf zivile Behör­den, die Beschleu­ni­gung der Geneh­mi­gungs­ver­fah­ren für den Bau von Sied­lun­gen und der Bau neuer Infra­struk­tu­ren, die einen künf­ti­gen paläs­ti­nen­si­schen Staat unren­ta­bel machen würden.»

 

Dies sind deut­li­che Worte von hohen Beam­ten, die zwei der höchs­ten Ämter der Verein­ten Natio­nen innehatten.

Clément Jacques-Vossen (Belgien), Lock­down, 2020.

Am 25. März 1986 verhaf­te­ten die israe­li­schen Behör­den Walid Daqqah, der aus der Stadt Baqa al-Ghar­bi­y­yeh stammt. Er wurde zu 37 Jahren Gefäng­nis verur­teilt, weil er einer Gruppe ange­hörte, die den israe­li­schen Solda­ten Moshe Tamam tötete. Seine Inhaf­tie­rung verstößt gegen das Oslo-Abkom­men von 1993, wonach alle paläs­ti­nen­si­schen Gefan­ge­nen, die vor der Unter­zeich­nung des Abkom­mens inhaf­tiert waren, frei­ge­las­sen werden müssen. Seine 37-jährige Haft­strafe lief am 24. März 2023 ab, aber Daqqah, der während seiner Inhaf­tie­rung ein erfolg­rei­cher Roman­au­tor gewor­den ist, bleibt aufgrund einer neuen Anklage aus dem Jahr 2018 wegen des Schmug­gels von Mobil­te­le­fo­nen ins Gefäng­nis inhaf­tiert. Dadurch verlän­gerte sich seine Strafe um zwei weitere Jahre. Der 61-jährige Walid, der gegen Krebs kämpft (eine Diagnose, die er 2022 erhielt), sollte eine Anhö­rung zur Bewäh­rung erhal­ten, die jedoch von der israe­li­schen Regie­rung verscho­ben wurde.

 

Während die inter­na­tio­nale Empö­rung über diesen Fall zunimmt, hat die Inter­na­tio­nal Union of Left Publishers, zu der auch das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute of Social Rese­arch gehört, eine Erklä­rung veröf­fent­licht, in der sie die israe­li­sche Regie­rung auffor­dert, Daqqah frei­zu­las­sen. Ihr könnt sie hier lesen:

Wir, die Inter­na­tio­nal Union of Left Publishers (IULP), rufen alle Verleger*innen, Schriftsteller*innen, Kunst­schaf­fen­den, Intel­lek­tu­el­len und Menschen mit Gewis­sen auf, die sofor­tige Frei­las­sung des revo­lu­tio­nä­ren Schrift­stel­lers und Denkers Walid Daqqah aus den Gefäng­nis­sen der israe­li­schen Besat­zung zu fordern.

 

Walid Daqqah ist seit seinem 25. Lebens­jahr wegen seines Wider­stands gegen die israe­li­sche Besat­zung und seiner Vertei­di­gung des paläs­ti­nen­si­schen Volkes inhaf­tiert. Der heute 61-Jährige erträgt diese unge­rechte Inhaf­tie­rung seit 37 Jahren. Sein Gesund­heits­zu­stand verschlech­tert sich rapide, und es ist drin­gend erfor­der­lich, dass er eine Knochen­mark­trans­plan­ta­tion und andere nötige medi­zi­ni­sche Versor­gung erhält, aber die israe­li­schen Behör­den verwei­gern ihm die medi­zi­ni­sche Behandlung.

 

Als einer der wich­tigs­ten Denker und Visio­näre des paläs­ti­nen­si­schen Wider­stands ist Walid Daqqah in den Gefäng­nis­sen der Besat­zungs­macht in beson­de­rem Maße Folter, Miss­brauch und Vernach­läs­si­gung ausge­setzt. Er ist eine Stimme des Volkes, eine Stimme, vor der sich die Besatzer*innen fürch­ten und die sie zum Schwei­gen brin­gen wollen. Doch obwohl sein Körper hinter Gittern gefan­gen ist, hat sich seine Stimme durch seine Romane, Essays und Briefe befreit, die die paläs­ti­nen­si­sche Gefan­ge­nen­be­we­gung, den Wider­stand und die inter­na­tio­nale Soli­da­ri­täts­be­we­gung in allen Teilen der Welt genährt und moti­viert haben. Die Inhaf­tie­rung von Walid Daqqah ist eine Verlet­zung seiner grund­le­gends­ten Menschen­rechte, der Rechte seiner Fami­lie und seines Volkes und auch eine Verlet­zung der Rechte aller kämp­fen­den Menschen, die es verdie­nen, von ihm und seinen Ideen zu lernen, ihm zuzu­hö­ren und sich mit ihm auszutauschen.

 

Die anhal­tende Inhaf­tie­rung von Walid Daqqah ist ein Todes­ur­teil, und die Welt ist Zeuge der Versu­che der von den USA unter­stütz­ten israe­li­schen Besat­zung, den paläs­ti­nen­si­schen Wider­stand mit allen Mitteln zum Schwei­gen zu brin­gen. Wir fordern die sofor­tige Entlas­sung von Walid Daqqah zu seiner Fami­lie und den sofor­ti­gen Zugang zu medi­zi­ni­scher Versor­gung. Wir erhe­ben unsere Stimme in unnach­gie­bi­ger Soli­da­ri­tät mit Walid Daqqah, den fast 5.000 paläs­ti­nen­si­schen Gefan­ge­nen, die zu Unrecht hinter Gittern sitzen, und den inhaf­tier­ten und unter­drück­ten Stim­men der Vernunft, die welt­weit unter den Angrif­fen des Impe­ria­lis­mus leiden.

Im Jahr 2018 veröf­fent­lichte Daqqah seinen ersten Roman für Kinder, The Oil’s Secret Tale («Die geheime Geschichte des Öls»). Er erzählt die Geschichte des 12-jähri­gen Jood, der zum ersten Mal seinen Vater im Gefäng­nis besu­chen will, dem die Behör­den jedoch den Zutritt verwei­gern. Der Junge reist durch Paläs­tina, trifft Samour, das Kanin­chen, Abu Reesha, den Vogel, Ghanfour, die Katze, Abu Nab, den Hund, und einen alten Oliven­baum, Um Rami, und spricht über das israe­li­sche Apart­heid­re­gime. Um Rami, der von den israe­li­schen Behör­den gefällt werden sollte, um Land für eine ille­gale Sied­lung frei­zu­ge­ben, erzählt Jood, dass er ein Öl hat, mit dem er sich einrei­ben kann, um sich unsicht­bar zu machen. Jood benutzt das Öl, tritt in die Zelle seines Vaters ein und sagt zu seinem verblüff­ten Vater: «Ich bin dein Sohn Jood».



Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.