Es gibt hungernde Menschen. Es gibt hungernde Menschen.
Der sechsundzwanzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Das Internationale Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) berichtet, dass jede Minute ein Kind in den fünfzehn von der weltweiten Nahrungsmittelkrise am stärksten betroffenen Ländern in den Hunger getrieben wird. Zwölf dieser fünfzehn Länder liegen in Afrika (von Burkina Faso bis Sudan), eines in der Karibik (Haiti) und zwei in Asien (Afghanistan und Jemen). Endlose Kriege haben die Fähigkeit der staatlichen Institutionen in diesen Ländern geschwächt, die kaskadenartigen Krisen von Schulden und Arbeitslosigkeit, Inflation und Armut zu bewältigen. Zu den beiden asiatischen Ländern kommen die Staaten der afrikanischen Sahelzone hinzu (vor allem Mali und Niger), in denen der Hunger inzwischen fast außer Kontrolle geraten ist. Als ob die Lage nicht schon schlimm genug wäre, wurde Afghanistan letzte Woche von einem Erdbeben heimgesucht, bei dem mehr als tausend Menschen ums Leben kamen – ein weiterer verheerender Schlag für eine Gesellschaft, in der 93 % der Bevölkerung in den Hunger abgerutscht sind.
In diesen krisengeschüttelten Ländern wird die Nahrungsmittelhilfe von den Regierungen und dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) bereitgestellt. Millionen Flüchtende in diesen Ländern sind fast vollständig von den UN-Organisationen abhängig. Das WFP stellt gebrauchsfertige therapeutische Nahrungsmittel bereit, die aus Butter, Erdnüssen, Milchpulver, Zucker, Pflanzenöl und Vitaminen hergestellt werden. In den nächsten sechs Monaten werden die Kosten für diese Zutaten voraussichtlich um bis zu 16 % steigen, weshalb das WFP am 20. Juni ankündigte, die Rationen um 50 % zu kürzen. Diese Kürzung wird sich auf drei von vier Flüchtlingen in Ostafrika auswirken, wo etwa fünf Millionen Flüchtlinge leben. «Wir sehen, wie das Pulverfass der Bedingungen für die extreme Auszehrung von Kindern Feuer fängt», sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell.
Der sprunghafte Anstieg des Hungers hängt eindeutig mit der Inflation der Lebensmittelpreise zusammen, die ihrerseits durch den Konflikt in der Ukraine noch verschärft wurde. Russland und die Ukraine sind die weltweit führenden Exporteure von Gerste, Mais, Raps, Sonnenblumenkernen, Sonnenblumenöl und Weizen sowie von Düngemitteln. Obwohl der Krieg katastrophale Auswirkungen auf die Weltmarktpreise für Lebensmittel hat, ist es ein Fehler, den Krieg als Ursache für den Preisanstieg anzusehen. Die Weltmarktpreise für Lebensmittel begannen vor etwa zwanzig Jahren zu steigen und gerieten dann 2021 aus verschiedenen Gründen außer Kontrolle, unter anderem:
- Während der Pandemie führten die strengen Lockdowns innerhalb der Länder und an den Grenzen zu erheblichen Unterbrechungen der Bewegungen von Wanderarbeiter*innen. Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass Arbeitsmigrant*innen – einschließlich Geflüchteten und Asylbewerber*innen – eine Schlüsselrolle in der landwirtschaftlichen Produktion spielen. Die einwanderungsfeindliche Stimmung und die Lockdowns haben ein langfristiges Problem für die Großbetriebe geschaffen.
- Eine Folge der COVID-19-Pandemie war der Zusammenbruch der Lieferketten. Da China – das Epizentrum eines beträchtlichen Teils der weltweiten Produktion -– eine Null-COVID-Politik verfolgte, setzte dies ein kaskadenartiges Problem für die internationale Schifffahrt in Gang; aufgrund der Lockdowns wurden Häfen geschlossen und Schiffe blieben monatelang auf See. Die Rückkehr des internationalen Seeverkehrs zu einer annähernden Normalität und die Rückkehr der industriellen Produktion – einschließlich Düngemitteln und Lebensmitteln – erfolgte nur langsam. Die Lebensmittelversorgungsketten verkümmerten aufgrund der logistischen Probleme, aber auch wegen des Personalmangels in den Verarbeitungsbetrieben.
- Extreme Wetterereignisse spielen eine wichtige Rolle bei dem Chaos im Lebensmittelsystem. In den letzten zehn Jahren waren zwischen 80 und 90 % der Naturkatastrophen auf Dürren, Überschwemmungen oder schwere Stürme zurückzuführen. In den letzten vierzig Jahren hat der Planet jedes Jahr 12 Millionen Hektar Ackerland durch Dürre und Wüstenbildung verloren; in diesem Zeitraum haben wir auch ein Drittel unseres Ackerlandes durch Erosion oder Verschmutzung verloren.
In den letzten vierzig Jahren ist der weltweite Fleischkonsum (vor allem Geflügel) dramatisch angestiegen, und dieser Anstieg wird sich fortsetzen, obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass wir den «Höhepunkt des Fleischkonsums» erreicht haben. Die Fleischerzeugung hinterlässt einen enormen ökologischen Fußabdruck: 57 % der Gesamtemissionen der Landwirtschaft stammen aus der Fleischproduktion, während die Viehzucht 77 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Planeten beansprucht (obwohl Fleisch nur 18 % der weltweiten Kalorienzufuhr ausmacht).
Der Weltmarkt für Lebensmittel war bereits vor dem Konflikt in der Ukraine angespannt, und die Preise stiegen während der Pandemie in vielen Ländern auf ein noch nie dagewesenes Niveau. Der Krieg hat das geschwächte Nahrungsmittelsystem jedoch fast zum Zusammenbruch gebracht. Das größte Problem stellt der Weltmarkt für Düngemittel dar, der während der Pandemie stabil war, sich jetzt aber in einer Krise befindet: Russland und die Ukraine exportieren 28 % des Stickstoff- und Phosphordüngers sowie 40 % der weltweiten Ausfuhren von Kali, während Russland allein 48 % des weltweiten Ammoniumnitrats und 11 % des weltweiten Harnstoffs ausführt. Die Verringerung des Düngemitteleinsatzes durch die Landwirt*innen wird in Zukunft zu geringeren Ernteerträgen führen, es sei denn, die Landwirt*innen und Agrarunternehmen sind bereit, auf Biodünger umzusteigen. Aufgrund der Unsicherheit auf dem Lebensmittelmarkt haben viele Länder Ausfuhrbeschränkungen erlassen, die die Hungerkrise in Ländern, die sich nicht selbst versorgen können, weiter verschärfen.
Trotz aller Diskussionen über die Nahrungsmittel-Selbstversorgung zeigen Studien, dass es an Maßnahmen mangelt. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, so sagt man uns, werden weltweit 141 Länder nicht selbstversorgend sein und die Nahrungsmittelproduktion wird den Nahrungsmittelbedarf von 9,8 der prognostizierten 15,6 Milliarden Menschen auf der Erde nicht decken können. Nur 14 % der Staaten der Welt werden sich selbst versorgen können, wobei Russland, Thailand und Osteuropa die führenden Getreideproduzenten der Welt sind. Eine solch düstere Prognose erfordert eine radikale Umgestaltung des Welternährungssystems; eine vorläufige Liste von Forderungen findet sich in A Plan to Save the Planet, entwickelt von Tricontinental: Institute for Social Research und dem Network of Research Institutes.
Der Konflikt in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland, dies sagte UN-Generalsekretär António Guterres deutlich, müssen schnellstmöglich beendet werden, damit diese wichtigen Produzenten von Nahrungsmitteln und Düngemitteln ihre Produktion für den Weltmarkt wieder aufnehmen können.
Eine aktuelle Studie des brasilianischen Forschungsnetzes für Ernährungssouveränität und ‑sicherheit (Rede Penssan) stellt fest, dass fast 60 % der brasilianischen Familien keinen Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln haben. Von den 212 Millionen Einwohner*innen des Landes ist die Zahl derer, die nichts zu essen haben, seit 2020 sprunghaft von 19 Millionen auf 33,1 Millionen gestiegen. «Die von der Regierung gewählte Wirtschaftspolitik und der rücksichtslose Umgang mit der Pandemie führen zu einem noch skandalöseren Anstieg der sozialen Ungleichheit und des Hungers in unserem Land», so Ana Maria Segall, medizinische Epidemiologin bei Rede Penssan. Noch vor wenigen Jahren setzten sich die Vereinten Nationen für die brasilianischen Programme Fome Zero und Bolsa Família ein, mit denen Hunger- und Armutsraten drastisch gesenkt werden konnten. Unter der Führung der ehemaligen Präsident*innen Lula da Silva (2003–2010) und Dilma Rousseff (2011–2016) erreichte Brasilien die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung. Die nachfolgenden Regierungen von Michel Temer (2016–2018) und Jair Bolsonaro (2019-heute) haben diese Errungenschaften wieder zunichte gemacht und Brasilien in die schlimmsten Tage des Hungers zurückkatapultiert, als der Dichter und Sänger Solano Trindade sang: «tem gente com fome» («es gibt hungernde Menschen»):
es gibt hungernde Menschen
es gibt hungernde Menschen
es gibt hungernde Menschen
…
wenn es hungernde Menschen gibt
gib ihnen etwas zu essen
wenn es hungernde Menschen gibt
gib ihnen etwas zu essenwenn es hungernde Menschen gibt
gib ihnen etwas zu essen
Herzlichst,
Vijay