Kubas Impfstoff-Schild und die fünf Monopole, die die Welt strukturieren.

Der sechsundzwanzigste Newsletter (2021).

Raúl Martí­nez (Kuba), Yo he visto («Ich habe gese­hen»), undatiert.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

1869, im Alter von fünf­zehn Jahren, veröf­fent­lichte José Martí mit eini­gen Freun­den in Kuba eine Zeit­schrift namens La Patria Libre («Das freie Vater­land»), die sich entschie­den gegen den spani­schen Impe­ria­lis­mus posi­tio­nierte. In der ersten und einzi­gen Ausgabe der Zeit­schrift erschien Martís Gedicht «Abdala». Es handelt von einem jungen Mann, Abdala, der auszieht, um gegen alle Wider­stände für die Befrei­ung seines Heimat­lan­des zu kämp­fen, das Martí Nubien nennt. «Weder Lorbee­ren noch Kronen sind nötig für die, die Mut atmen», schrieb Martí. «Lasst uns in den Kampf ziehen … in den Krieg, ihr Tapfe­ren». Und in der mitrei­ßen­den Anspra­che von Abdala finden sich diese lyri­schen Worte:

 

«Lass die krie­ge­ri­sche Tapfer­keit unse­rer Seelen

Dir, mein Vater­land, als Schild dienen.»

 

Martí wurde verhaf­tet und zu sechs Jahren Zwangs­ar­beit verur­teilt. Schließ­lich schickte die spani­sche Reichs­re­gie­rung den jungen Kuba­ner 1871 ins Exil. Er verbrachte diese Zeit – einen Groß­teil davon in New York – damit, patrio­ti­sche Gedichte zu schrei­ben, poli­ti­sche Essays und Kommen­tare zu verfas­sen und den Wider­stand gegen den spani­schen Impe­ria­lis­mus zu orga­ni­sie­ren. 1895 kehrte er nach Hause zurück und wurde kurz darauf in einem Schar­müt­zel getö­tet. Sein Vermächt­nis wurde im Krieg gegen die Spanier 1898 und in der kuba­ni­schen Revo­lu­tion, die 1959 begann, weitergetragen.

 

Die Zeilen von Martí über die «krie­ge­ri­sche Tapfer­keit», die als «Schild» des Landes dient, bilden die Grund­lage für den Namen des neuen kuba­ni­schen Impf­stoffs, Abdala. Dieser Impf­stoff, der fünfte, der in Kuba herge­stellt wird, wurde vom Zentrum für Gentech­nik und Biotech­no­lo­gie (CIGB) in Havanna entwi­ckelt. Bei der Bekannt­gabe der Versuchs­er­geb­nisse stellte BioCubaFarma, die führende biotech­no­lo­gi­sche und phar­ma­zeu­ti­sche Insti­tu­tion des Landes, fest, dass der Impf­stoff eine Wirk­sam­keit von 92,28% aufweist, was fast der Wirk­sam­keit der Impf­stoffe von Pfizer (95%) und Moderna (94,1%) entspricht. Der Impf­stoff wird in drei Dosen mit je zwei­wö­chi­gem Abstand verab­reicht. Die kuba­ni­schen Behör­den planen, bis Septem­ber drei Vier­tel der Bevöl­ke­rung zu impfen. Den 11 Millio­nen Kuba­nern auf der Insel wurden bisher bereits mehr als 2,23 Millio­nen Dosen verab­reicht; 1,346 Millio­nen Menschen wurden mit mindes­tens einer Dosis geimpft, 770.390 mit der zwei­ten Dosis und 148.738 mit der drit­ten Dosis.

Juan Roberto Diago Durru­thy (Kuba), Tu lugar («Dein Platz»), 2006.

Kuba plant bereits, seine Impf­stoffe in Länder auf der ganzen Welt zu expor­tie­ren und hat inzwi­schen fünf verschie­dene Impf­stoff­kan­di­da­ten produ­ziert, darun­ter Sober­ana 02 und den nadel­freien nasa­len Impf­stoff Mambisa, der viel­ver­spre­chend für die Verab­rei­chung in ressour­cen­ar­men Ländern ist. Er wurde nach den Gueril­la­kämp­fern benannt, die im Zehn­jäh­ri­gen Krieg (1868–1878) für die Unab­hän­gig­keit von Spanien kämpften. 

 

Jeder dieser Impf­stoffe wurde unter den durch die ille­gale US-Blockade erzwun­ge­nen Bedin­gun­gen entwi­ckelt. Seit 1992 hat die UN-Voll­ver­samm­lung jähr­lich gegen die US-Blockade gestimmt, ausge­nom­men das Jahr 2020, als es aufgrund der Pande­mie keine Abstim­mung gab. Am 23. Juni 2021 stimm­ten erneut 184 Mitglieds­staa­ten der Verein­ten Natio­nen für die Been­di­gung dieser Blockade. Im Zusam­men­hang mit der Coro­na­vi­rus-Pande­mie sagte der kuba­ni­sche Außen­mi­nis­ter Bruno Rodrí­guez Parrilla: «So wie das Virus erstickt und tötet die Blockade. Sie muss aufhö­ren.» Eine der Folgen der Blockade ist, dass Kuba keine Beatmungs­ge­räte zur Behand­lung schwer­kran­ker Pati­en­ten kaufen kann, da die beiden Schwei­zer Firmen (IMT Medi­cal AG und Acutro­nic), die sie herstell­ten, im April 2020 von einem US-Unter­neh­men (Vyaire Medi­cal, Inc.) aufge­kauft wurden. Kuba hat nun als Reak­tion darauf ein eige­nes Beatmungs­ge­rät entwickelt.


Zugleich leidet Kuba unter einem Mangel an Sprit­zen. Die Sprit­zen­her­stel­ler sind auf die eine oder andere Weise mit der US-Phar­ma­in­dus­trie verfloch­ten. Terumo (Japan) und Nipro (Japan) haben Nieder­las­sun­gen in den Verei­nig­ten Staa­ten, während die B. Braun Melsun­gen AG (Deutsch­land) eine Part­ner­schaft mit Concordance Health­care Solu­ti­ons (USA) einge­gan­gen ist. Eine indi­sche Sprit­zen­firma, Hindu­stan Syrin­ges & Medi­cal Devices Ltd., ist mit Envigo (US) verbun­den, sodass die indi­sche Firma unter Kontrolle der US-Regie­rung steht. Als konkre­ter Akt der Soli­da­ri­tät läuft eine Kampa­gne, um Geld für den Kauf von Sprit­zen für Kuba zu sammeln.

Belkis Ayón (Kuba), La cons­agra­ción III («Die Einwei­hung III»), 1991.

Das Projekt «Our World in Data» hat errech­net, dass mit Stand vom 29. Juni etwas mehr als 3 Dosen Impf­stoff welt­weit verimpft wurden, also etwa 1 von 7,7 Milli­ar­den Menschen auf der Welt geimpft sind. Nur etwas mehr als 23% der Welt­be­völ­ke­rung haben ihre erste Impfung erhal­ten. Aber die Daten zeigen, dass die Impf­kam­pa­gnen, wie vorher­seh­bar, ungleich­mä­ßig verlau­fen sind. In Ländern mit nied­ri­gem Einkom­men haben nur 0,9% der Bevöl­ke­rung mindes­tens eine Dosis des Impf­stoffs erhal­ten. Im April 2021 sagte der WHO-Chef Tedros Adha­nom Ghebrey­e­sus: «Es besteht weiter­hin ein scho­ckie­ren­des Ungleich­ge­wicht bei der welt­wei­ten Vertei­lung von Impf­stof­fen. Im Durch­schnitt hat in Ländern mit hohem Einkom­men fast jeder vierte Mensch einen Impf­stoff erhal­ten. In Ländern mit nied­ri­gem Einkom­men ist es einer von mehr als 500. Lassen Sie mich das wieder­ho­len: einer von vier gegen­über einem von 500.» Im Mai 2021 sagte Ghebrey­e­sus, die Welt befinde sich in einer Situa­tion der «Impf­stoff-Apart­heid».

 

Im Februar 2021 stellte Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute of Social Rese­arch in einem seiner News­let­ter fest, dass wir in einer Zeit der «drei Apart­hei­den» leben. Zu diesen Apart­hei­den gehö­ren die der Nahrung, des Geldes und der Medi­zin. Das Herz­stück der medi­zi­ni­schen Apart­heid ist der Impf­stoff-Natio­na­lis­mus, das Horten von Impf­stof­fen, und, wie Ghebrey­e­sus es ausdrückte, die Impf­stoff-Apart­heid. Die Lage ist sehr ernst. Die COVAX-Impf­stoff­al­li­anz hat erlebt, wie Impf­stoffe aus ihrer Reich­weite verscho­ben wurden, sowohl wegen der bila­te­ra­len Deals zwischen den reiche­ren Ländern und den Impf­stoff­her­stel­lern als auch wegen der fehlen­den finan­zi­el­len Unter­stüt­zung der reiche­ren Staa­ten für die ärme­ren. Die Trends zeigen, dass in vielen Ländern vor 2023 nicht genü­gend Menschen geimpft sein werden, «wenn es über­haupt passiert», sagt die Econo­mist Intel­li­gence Unit.

Raúl Corra­les Fornos (Kuba), La cabal­le­ría («Die Kaval­le­rie»), 1960.

Was ist die Ursa­che für diese drei Apart­hei­den? Die Kontrolle, die eine Hand­voll Unter­neh­men über die Welt­wirt­schaft ausübt, ange­trie­ben von fünf Arten von Mono­po­len, wie unser Freund, der verstor­bene Samir Amin, darge­legt hat:

 

Das Mono­pol über Wissen­schaft und Technologie

Das Mono­pol über Finanzsysteme

Das Mono­pol über den Zugang zu Ressourcen

Das Mono­pol über Waffen

Das Mono­pol über die Kommunikation

 

Wir schauen uns diese Liste und die Bezie­hung zwischen jedem dieser Elemente genau an und analy­sie­ren sie, um zu sehen, ob etwas ausge­las­sen wurde. Amin argu­men­tierte, dass es nicht allein die fehlende Indus­tria­li­sie­rung ist, die die Unter­ord­nung der Länder bewirkt; was die Welt in einer Situa­tion großer Ungleich­heit gehal­ten hat, waren seiner Meinung nach diese fünf Mono­pole. Denn viele Länder der Welt haben in den letz­ten fünf­zig Jahren Indus­trien entwi­ckelt, sind aber nach wie vor nicht in der Lage, die soziale Agenda ihrer Bevöl­ke­rung voranzubringen. 

 

Im Zentrum der Diskus­sion über die Impf-Apart­heid stehen mindes­tens zwei dieser Mono­pole: das Finanz­mo­no­pol und das Wissen­schafts- und Tech­no­lo­gie­mo­no­pol. Mangel an Finanz­mit­teln treibt viele Staa­ten in die Arme des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF), der verschie­de­nen öffent­li­chen Inves­to­ren (dem Pari­ser Club) oder dem kommer­zi­el­len Kapi­tal (dem Londo­ner Club). Diese Finan­ziers lassen sich vom IWF leiten, der von den Ländern Kürzun­gen in mehre­ren entschei­den­den Berei­chen der mensch­li­chen Exis­tenz verlangt – zum Beispiel bei der Bildung und der Gesund­heits­ver­sor­gung. Die Kürzung von Mitteln für die Bildung entzieht den Ländern das Poten­zial, eine ausrei­chende Anzahl von Wissen­schaft­lern sowie das wissen­schaft­li­che Verständ­nis zu entwi­ckeln, das notwen­dig ist, um wich­tige Tech­no­lo­gien wie Impf­stoff­kan­di­da­ten zu erschaf­fen. Die Kürzung von Geldern für Gesund­heits­sys­teme und die Verab­schie­dung von Regeln für geis­ti­ges Eigen­tum, die den Tech­no­lo­gie­trans­fer blockie­ren, verhin­dern, dass diese Länder ange­mes­sen mit der Pande­mie umge­hen können.

 

Der Mangel an Mitteln hat viele Staa­ten der Möglich­keit beraubt, das Wohl­erge­hen ihrer Bevöl­ke­rung zu fördern (mit Stand April 2020 gaben vier­und­sech­zig Länder mehr für den Schul­den­dienst als für die Gesund­heits­ver­sor­gung aus). Es reicht nicht, mitten in einer Pande­mie den Trans­fer von Tech­no­lo­gie an Staa­ten zu fordern, damit diese den Impf­stoff herstel­len können. Tech­no­lo­gie ist die Wissen­schaft von gestern; Wissen­schaft ist die Tech­no­lo­gie von morgen. 

 

Den sozia­len Reich­tum einer Bevöl­ke­rung zu nutzen, Wissen­schaft zu lehren und eine Grund­norm wissen­schaft­li­cher Bildung zu etablie­ren, sind wesent­li­che Lehren aus der Pande­mie. Es sind Lektio­nen, die von den Kuba­nern gut gelernt wurden. Das ist der Grund, warum Kuba, allen Widrig­kei­ten zum Trotz, fünf verschie­dene Impf­stoffe entwi­ckelt hat. Abdala und die vier ande­ren kuba­ni­schen Impf­stoffe bilden einen Schutz­schild gegen COVID-19. Diese Impf­stoffe gehen aus der sozia­len Produk­ti­vi­tät des sozia­lis­ti­schen Kubas hervor, welches sich der Nieder­träch­tig­keit der fünf Mono­pole nicht beugt.

 

Herz­lich, 

 

Vijay

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.