Kann sich der europäische Teil der Triade von der Atlantischen Allianz lösen?
Der fünfundzwanzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Es ist schwierig, einen Sinn aus den vielen Ereignissen dieser Tage zu ziehen. Das Verhalten Frankreichs zum Beispiel ist schwer zu fassen. Einerseits hat der französische Präsident Emmanuel Macron seine Meinung geändert und den Beitritt der Ukraine zur Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) unterstützt. Andererseits erklärte er, dass Frankreich gerne am BRICS-Gipfel (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) im August in Südafrika teilnehmen würde. Europa ist natürlich kein komplett homogener Kontinent. So haben sich Ungarn und die Türkei geweigert, den Wunsch Schwedens, der NATO beizutreten, auf dem jährlichen Gipfel in Vilnius (Litauen) im Juli zu ratifizieren. Nichtsdestotrotz blickt die europäische Bourgeoisie nach Westen zu den Investmentfirmen der Wall Street, um dort ihren Reichtum zu parken und damit ihre eigene Zukunft an die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu binden. Europa ist fest in das atlantische Bündnis eingebunden und hat wenig Raum für eine unabhängige europäische Stimme.
Im Rahmen der Plattform «No Cold War» haben wir diese Elemente der europäischen Außenpolitik sorgfältig untersucht. Das Briefing Nr. 8, das den größten Teil dieses Newsletters einnimmt, wurde zusammen mit Marc Botenga, Mitglied des Europäischen Parlaments von der belgischen Arbeiterpartei PTB-PVDA, verfasst. Wir geben es hier wieder.
Der Krieg in der Ukraine ging mit einer Stärkung des Einflusses der USA auf Europa einher. Die wichtige Versorgungsquelle des russischen Gases wurde durch US-Schiefergas ersetzt. Programme der Europäischen Union (EU), die ursprünglich zur Stärkung der industriellen Basis Europas gedacht waren, dienen nun dem Erwerb von Waffen aus US-Produktion. Unter dem Druck der USA haben viele europäische Länder zur Eskalation des Krieges in der Ukraine beigetragen, anstatt sich für eine politische Lösung zur Herbeiführung des Friedens einzusetzen.
Gleichzeitig wollen die USA, dass sich Europa von China abkoppelt, was die globale Rolle Europas weiter schwächen würde und seinen eigenen Interessen zuwiderliefe. Anstatt der konfrontativen und schädlichen Agenda des Neuen Kalten Krieges der USA zu folgen, liegt es im Interesse der Menschen in Europa, dass ihre Länder eine unabhängige Außenpolitik betreiben, die globale Zusammenarbeit und vielfältige internationale Beziehungen umfasst.
Die wachsende Abhängigkeit Europas von den USA
Der Ukraine-Krieg und die darauf folgende Spirale von Sanktionen und Gegensanktionen führten zu einer raschen Entkopplung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und Russland. Der Verlust eines Handelspartners hat die Möglichkeiten der EU eingeschränkt und die Abhängigkeit von den USA erhöht, was sich am deutlichsten in der Energiepolitik der EU zeigt. Infolge des Krieges in der Ukraine verringerte Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas, um dann seine Abhängigkeit von teurerem US-Flüssigerdgas (LNG) zu erhöhen. Die USA nutzten diese Energiekrise und verkauften ihr LNG an Europa zu Preisen, die weit über den Produktionskosten lagen. Im Jahr 2022 entfiel mehr als die Hälfte des nach Europa importierten LNG auf die USA. Dies verleiht den USA zusätzliche Macht, um Druck auf die EU-Regierungschefs auszuüben: Würden die US-Lieferungen von LNG in andere Regionen umgeleitet, stünde Europa sofort vor großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten.
Washington hat begonnen, europäische Unternehmen mit dem Argument niedrigerer Energiepreise zur Verlagerung in die USA zu drängen. Wie der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck sagte, «saugen die USA Investitionen aus Europa ab», d. h. sie fördern aktiv die Deindustrialisierung der Region.
Der US Inflation Reduction Act (2022) und der CHIPS and Science Act (2022) dienen direkt diesem Zweck, indem sie Subventionen in Höhe von 370 Mrd. bzw. 52 Mrd. US-Dollar anbieten, um saubere Energie- und Halbleiterindustrien in die USA zu locken. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen sind in Europa bereits spürbar: Tesla erwägt Berichten zufolge, sein Batteriebauprojekt von Deutschland in die USA zu verlagern, und Volkswagen hat ein geplantes Batteriewerk in Osteuropa gestoppt und stattdessen sein erstes nordamerikanisches Elektrobatteriewerk in Kanada errichtet, wo es in den Genuss von US-Subventionen kommt.
Die Abhängigkeit der EU von den USA betrifft auch andere Bereichen. In einem Bericht des französischen Senats aus dem Jahr 2013 wurde die unmissverständliche Frage gestellt: «Ist die Europäische Union eine Kolonie der digitalen Welt?». Der US Clarifying Lawful Overseas Use of Data (CLOUD) Act von 2018 und der US Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) von 1978 ermöglichen US-Unternehmen einen weitreichenden Zugriff auf die Telekommunikation in der EU, einschließlich Daten und Telefongespräche, und geben ihnen Zugang zu Staatsgeheimnissen. Die EU wird ständig ausspioniert.
Zunehmende Militarisierung ist gegen die Interessen Europas
In der EU konzentrieren sich die Diskussionen über strategische Schwachstellen meist auf China und Russland, während der Einfluss der USA mehr oder weniger ignoriert wird. Die USA betreiben ein massives Netz von über 200 US-Militärstützpunkten und 60.000 Soldat*innen in Europa, und über die NATO erzwingen sie die «Komplementarität» europäischer Verteidigungsmaßnahmen, was bedeutet, dass die europäischen Mitglieder des Bündnisses gemeinsam mit den USA, aber nicht unabhängig von ihnen handeln können. Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright fasste dies bekanntlich als «die drei Ds» zusammen: keine «Abkopplung» (de-linking) der europäischen Entscheidungsfindung von der NATO, keine «Duplizierung» der NATO-Bemühungen, keine «Diskriminierung» von Nicht-EU-Mitgliedern der NATO. Um die Abhängigkeit zu gewährleisten, verzichten die USA außerdem darauf, ihre wichtigsten Militärtechnologien mit den europäischen Ländern zu teilen, einschließlich eines Großteils der Daten und Software in Verbindung mit den F‑35-Kampfjets, die diese Länder gekauft haben.
Die USA fordern seit Jahren die europäischen Regierungen auf, ihre Militärausgaben zu erhöhen. Im Jahr 2022 stiegen die Militärausgaben in West- und Mitteleuropa auf 316 Milliarden Euro und damit auf ein Niveau, das seit dem Ende des ersten Kalten Krieges nicht mehr erreicht wurde. Darüber hinaus haben europäische Staaten und EU-Institutionen mehr als 25 Milliarden Euro an Militärhilfe in die Ukraine geschickt. Bereits vor dem Krieg gehörten Deutschland, Großbritannien und Frankreich zu den zehn Ländern mit den höchsten Militärausgaben der Welt. Jetzt hat Deutschland 100 Milliarden Euro für einen speziellen Fonds zur Aufrüstung des Militärs bewilligt und sich verpflichtet, 2 % seines BIP für die Verteidigung auszugeben. Großbritannien kündigte unterdessen an, seine Militärausgaben von 2,2 % auf 2,5 % seines BIP zu erhöhen, und Frankreich kündigte an, seine Militärausgaben bis 2030 auf rund 60 Mrd. EUR zu steigern – etwa das Doppelte der Mittel von 2017.
Diese Erhöhung der Militärausgaben findet statt, während Europa die schlimmste Lebenskostenkrise seit Jahrzehnten erlebt und sich die Klimakrise verschärft. In ganz Europa sind Millionen von Menschen auf die Straße gegangen, um zu protestieren. Die Hunderte von Milliarden Euro, die für das Militär ausgegeben werden, sollten stattdessen für die Bewältigung dieser dringenden Probleme verwendet werden.
Eine Abkopplung von China wäre katastrophal
Die EU würde unter einem Konflikt zwischen den USA und China leiden. Ein erheblicher Teil der EU-Ausfuhren in die USA enthält chinesische Vorleistungen, und umgekehrt enthalten die EU-Warenausfuhren nach China häufig amerikanische Vorleistungen. Eine Verschärfung der Ausfuhrkontrollen, die von den USA für Ausfuhren nach China oder umgekehrt eingeführt werden, wird daher die EU-Unternehmen treffen, aber die Auswirkungen werden noch viel weiter reichen.
Die USA haben den Druck auf eine Reihe von EU-Ländern, ‑Unternehmen und ‑Institutionen erhöht, die Zusammenarbeit mit chinesischen Projekten einzuschränken oder einzustellen, und insbesondere darauf hingewirkt, dass Europa sich ihrem Technologiekrieg gegen China anschließt. Dieser Druck hat Früchte getragen: Zehn EU-Staaten haben den Zugang des chinesischen Technologieunternehmens Huawei zu ihren 5G-Netzen eingeschränkt oder verboten, und Deutschland erwägt eine ähnliche Maßnahme. In der Zwischenzeit haben die Niederlande die Ausfuhr von Chip-Herstellungsmaschinen nach China durch das wichtige niederländische Halbleiterunternehmen ASML blockiert.
Im Jahr 2020 hat China die USA als wichtigster Handelspartner der EU überholt, und 2022 war China die größte Quelle für EU-Importe und der drittgrößte Markt für Exporte. Wenn die USA darauf drängen, dass europäische Unternehmen ihre Beziehungen zu China einschränken oder beenden, würde dies die Handelsmöglichkeiten Europas einschränken und im Übrigen seine Abhängigkeit von Washington erhöhen. Dies wäre nicht nur für die Autonomie der EU, sondern auch für die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Region schädlich.
Europa sollte sich für globale Kooperation statt Konfrontation entscheiden
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat keine ausländische Macht mehr Einfluss auf die europäische Politik ausgeübt als die USA. Wenn Europa sich in einen von den USA geführten Block einbinden lässt, wird dies nicht nur seine technologische Abhängigkeit von den USA verstärken, sondern die Region könnte auch entindustrialisiert werden. Darüber hinaus wird Europa dadurch nicht nur mit China in Konflikt geraten, sondern auch mit anderen großen Entwicklungsländern wie Indien, Brasilien und Südafrika, die sich weigern, sich mit dem einen oder anderen Land zu verbünden.
Anstatt den USA in Konflikte auf der ganzen Welt zu folgen, muss ein unabhängiges Europa seine Sicherheitsstrategie auf die territoriale Verteidigung, die kollektive Sicherheit des Kontinents und den Aufbau konstruktiver internationaler Beziehungen ausrichten, indem es sich entschieden von paternalistischen und ausbeuterischen Handelsbeziehungen mit Entwicklungsländern löst. Faire, respektvolle und gleichberechtigte Beziehungen mit dem globalen Süden könnten Europa die notwendige und wertvolle Diversifizierung der politischen und wirtschaftlichen Partner bieten, die es dringend braucht.
Ein unabhängiges und vernetztes Europa liegt im Interesse der europäischen Bevölkerung. Dadurch könnten enorme Ressourcen von den Militärausgaben abgezogen und zur Bewältigung der Klima- und Lebenshaltungskostenkrise eingesetzt werden, beispielsweise durch den Aufbau einer grünen industriellen Basis. Die europäische Bevölkerung hat allen Grund, die Entwicklung einer unabhängigen Außenpolitik zu unterstützen, die die Dominanz und Militarisierung der USA ablehnt und stattdessen internationale Zusammenarbeit und eine demokratischere Weltordnung anstrebt.
Dieses «No Cold War»-Briefing stellt eine wichtige Frage: Ist eine unabhängige europäische Außenpolitik möglich? Die Schlussfolgerung lautet angesichts der heute in Europa herrschenden Kräfteverhältnisse: Nein. Nicht einmal die rechtsextreme Regierung in Italien, die sich gegen die NATO ausgesprochen hat, konnte dem Druck aus Washington standhalten. Doch wie das Briefing andeutet, sind die negativen Auswirkungen der Politik des Westens, die den Frieden in der Ukraine verhindert, für die europäische Öffentlichkeit täglich spürbar. Werden die Europäer*innen für ihre Souveränität eintreten, oder werden sie weiterhin die Frontlinie für Washingtons Ambitionen sein?
Herzlichst,
Vijay