Kann sich der europäische Teil der Triade von der Atlantischen Allianz lösen? 

Der fünfundzwanzigste Newsletter (2023)

Zoulikha Bouab­del­lah (Alge­rien), Envers Endroit Géomé­tri­que, 2016.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Es ist schwie­rig, einen Sinn aus den vielen Ereig­nis­sen dieser Tage zu ziehen. Das Verhal­ten Frank­reichs zum Beispiel ist schwer zu fassen. Einer­seits hat der fran­zö­si­sche Präsi­dent Emma­nuel Macron seine Meinung geän­dert und den Beitritt der Ukraine zur Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) unter­stützt. Ande­rer­seits erklärte er, dass Frank­reich gerne am BRICS-Gipfel (Brasi­lien, Russ­land, Indien, China und Südafrika) im August in Südafrika teil­neh­men würde. Europa ist natür­lich kein komplett homo­ge­ner Konti­nent. So haben sich Ungarn und die Türkei gewei­gert, den Wunsch Schwe­dens, der NATO beizu­tre­ten, auf dem jähr­li­chen Gipfel in Vilnius (Litauen) im Juli zu rati­fi­zie­ren. Nichts­des­to­trotz blickt die euro­päi­sche Bour­geoi­sie nach Westen zu den Invest­ment­fir­men der Wall Street, um dort ihren Reich­tum zu parken und damit ihre eigene Zukunft an die Vorherr­schaft der Verei­nig­ten Staa­ten zu binden. Europa ist fest in das atlan­ti­sche Bünd­nis einge­bun­den und hat wenig Raum für eine unab­hän­gige euro­päi­sche Stimme.


Im Rahmen der Platt­form «No Cold War» haben wir diese Elemente der euro­päi­schen Außen­po­li­tik sorg­fäl­tig unter­sucht. Das Brie­fing Nr. 8, das den größ­ten Teil dieses News­let­ters einnimmt, wurde zusam­men mit Marc Botenga, Mitglied des Euro­päi­schen Parla­ments von der belgi­schen Arbei­ter­par­tei PTB-PVDA, verfasst. Wir geben es hier wieder.

Der Krieg in der Ukraine ging mit einer Stär­kung des Einflus­ses der USA auf Europa einher. Die wich­tige Versor­gungs­quelle des russi­schen Gases wurde durch US-Schie­fer­gas ersetzt. Programme der Euro­päi­schen Union (EU), die ursprüng­lich zur Stär­kung der indus­tri­el­len Basis Euro­pas gedacht waren, dienen nun dem Erwerb von Waffen aus US-Produk­tion. Unter dem Druck der USA haben viele euro­päi­sche Länder zur Eska­la­tion des Krie­ges in der Ukraine beigetra­gen, anstatt sich für eine poli­ti­sche Lösung zur Herbei­füh­rung des Frie­dens einzusetzen.

 

Gleich­zei­tig wollen die USA, dass sich Europa von China abkop­pelt, was die globale Rolle Euro­pas weiter schwä­chen würde und seinen eige­nen Inter­es­sen zuwi­der­liefe. Anstatt der konfron­ta­ti­ven und schäd­li­chen Agenda des Neuen Kalten Krie­ges der USA zu folgen, liegt es im Inter­esse der Menschen in Europa, dass ihre Länder eine unab­hän­gige Außen­po­li­tik betrei­ben, die globale Zusam­men­ar­beit und viel­fäl­tige inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen umfasst.

Die wachsende Abhängigkeit Europas von den USA 

Der Ukraine-Krieg und die darauf folgende Spirale von Sank­tio­nen und Gegen­sank­tio­nen führ­ten zu einer raschen Entkopp­lung der Handels­be­zie­hun­gen zwischen der EU und Russ­land. Der Verlust eines Handels­part­ners hat die Möglich­kei­ten der EU einge­schränkt und die Abhän­gig­keit von den USA erhöht, was sich am deut­lichs­ten in der Ener­gie­po­li­tik der EU zeigt. Infolge des Krie­ges in der Ukraine verrin­gerte Europa seine Abhän­gig­keit von russi­schem Gas, um dann seine Abhän­gig­keit von teure­rem US-Flüs­sig­erd­gas (LNG) zu erhö­hen. Die USA nutz­ten diese Ener­gie­krise und verkauf­ten ihr LNG an Europa zu Prei­sen, die weit über den Produk­ti­ons­kos­ten lagen. Im Jahr 2022 entfiel mehr als die Hälfte des nach Europa impor­tier­ten LNG auf die USA. Dies verleiht den USA zusätz­li­che Macht, um Druck auf die EU-Regie­rungs­chefs auszu­üben: Würden die US-Liefe­run­gen von LNG in andere Regio­nen umge­lei­tet, stünde Europa sofort vor großen wirt­schaft­li­chen und sozia­len Schwierigkeiten.

Reza Derakhshani (Iran), White Hunt, 2019.

Washing­ton hat begon­nen, euro­päi­sche Unter­neh­men mit dem Argu­ment nied­ri­ge­rer Ener­gie­preise zur Verla­ge­rung in die USA zu drän­gen. Wie der deut­sche Bundes­mi­nis­ter für Wirt­schaft und Klima­schutz Robert Habeck sagte, «saugen die USA Inves­ti­tio­nen aus Europa ab», d. h. sie fördern aktiv die Deindus­tria­li­sie­rung der Region.

 

Der US Infla­tion Reduc­tion Act (2022) und der CHIPS and Science Act (2022) dienen direkt diesem Zweck, indem sie Subven­tio­nen in Höhe von 370 Mrd.  bzw. 52 Mrd. US-Dollar anbie­ten, um saubere Ener­gie- und Halb­lei­ter­indus­trien in die USA zu locken. Die Auswir­kun­gen dieser Maßnah­men sind in Europa bereits spür­bar: Tesla erwägt Berich­ten zufolge, sein Batte­rie­bau­pro­jekt von Deutsch­land in die USA zu verla­gern, und Volks­wa­gen hat ein geplan­tes Batte­rie­werk in Osteu­ropa gestoppt und statt­des­sen sein erstes nord­ame­ri­ka­ni­sches Elek­tro­bat­te­rie­werk in Kanada errich­tet, wo es in den Genuss von US-Subven­tio­nen kommt.

 

Die Abhän­gig­keit der EU von den USA betrifft auch andere Berei­chen. In einem Bericht des fran­zö­si­schen Senats aus dem Jahr 2013 wurde die unmiss­ver­ständ­li­che Frage gestellt: «Ist die Euro­päi­sche Union eine Kolo­nie der digi­ta­len Welt?». Der US Clari­fy­ing Lawful Over­seas Use of Data (CLOUD) Act von 2018 und der US Foreign Intel­li­gence Surveil­lance Act (FISA) von 1978 ermög­li­chen US-Unter­neh­men einen weit­rei­chen­den Zugriff auf die Tele­kom­mu­ni­ka­tion in der EU, einschließ­lich Daten und Tele­fon­ge­sprä­che, und geben ihnen Zugang zu Staats­ge­heim­nis­sen. Die EU wird stän­dig ausspioniert.

Clément Jacques-Vossen (Belgien), Lock­down, 2020.

Zunehmende Militarisierung ist gegen die Interessen Europas 

In der EU konzen­trie­ren sich die Diskus­sio­nen über stra­te­gi­sche Schwach­stel­len meist auf China und Russ­land, während der Einfluss der USA mehr oder weni­ger igno­riert wird. Die USA betrei­ben ein massi­ves Netz von über 200 US-Mili­tär­stütz­punk­ten und 60.000 Soldat*innen in Europa, und über die NATO erzwin­gen sie die «Komple­men­ta­ri­tät» euro­päi­scher Vertei­di­gungs­maß­nah­men, was bedeu­tet, dass die euro­päi­schen Mitglie­der des Bünd­nis­ses gemein­sam mit den USA, aber nicht unab­hän­gig von ihnen handeln können. Die ehema­lige US-Außen­mi­nis­te­rin Made­leine Albright fasste dies bekannt­lich als «die drei Ds» zusam­men: keine «Abkopp­lung» (de-linking) der euro­päi­schen Entschei­dungs­fin­dung von der NATO, keine «Dupli­zie­rung» der NATO-Bemü­hun­gen, keine «Diskri­mi­nie­rung» von Nicht-EU-Mitglie­dern der NATO. Um die Abhän­gig­keit zu gewähr­leis­ten, verzich­ten die USA außer­dem darauf, ihre wich­tigs­ten Mili­tär­tech­no­lo­gien mit den euro­päi­schen Ländern zu teilen, einschließ­lich eines Groß­teils der Daten und Soft­ware in Verbin­dung mit den F‑35-Kampf­jets, die diese Länder gekauft haben.

 

Die USA fordern seit Jahren die euro­päi­schen Regie­run­gen auf, ihre Mili­tär­aus­ga­ben zu erhö­hen. Im Jahr 2022 stie­gen die Mili­tär­aus­ga­ben in West- und Mittel­eu­ropa auf 316 Milli­ar­den Euro und damit auf ein Niveau, das seit dem Ende des ersten Kalten Krie­ges nicht mehr erreicht wurde. Darüber hinaus haben euro­päi­sche Staa­ten und EU-Insti­tu­tio­nen mehr als 25 Milli­ar­den Euro an Mili­tär­hilfe in die Ukraine geschickt. Bereits vor dem Krieg gehör­ten Deutsch­land, Groß­bri­tan­nien und Frank­reich zu den zehn Ländern mit den höchs­ten Mili­tär­aus­ga­ben der Welt. Jetzt hat Deutsch­land 100 Milli­ar­den Euro für einen spezi­el­len Fonds zur Aufrüs­tung des Mili­tärs bewil­ligt und sich verpflich­tet, 2 % seines BIP für die Vertei­di­gung auszu­ge­ben. Groß­bri­tan­nien kündigte unter­des­sen an, seine Mili­tär­aus­ga­ben von 2,2 % auf 2,5 % seines BIP zu erhö­hen, und Frank­reich kündigte an, seine Mili­tär­aus­ga­ben bis 2030 auf rund 60 Mrd. EUR zu stei­gern – etwa das Doppelte der Mittel von 2017.

 

Diese Erhö­hung der Mili­tär­aus­ga­ben findet statt, während Europa die schlimmste Lebens­kos­ten­krise seit Jahr­zehn­ten erlebt und sich die Klima­krise verschärft. In ganz Europa sind Millio­nen von Menschen auf die Straße gegan­gen, um zu protes­tie­ren. Die Hunderte von Milli­ar­den Euro, die für das Mili­tär ausge­ge­ben werden, soll­ten statt­des­sen für die Bewäl­ti­gung dieser drin­gen­den Probleme verwen­det werden.

Eine Abkopplung von China wäre katastrophal 

Die EU würde unter einem Konflikt zwischen den USA und China leiden. Ein erheb­li­cher Teil der EU-Ausfuh­ren in die USA enthält chine­si­sche Vorleis­tun­gen, und umge­kehrt enthal­ten die EU-Waren­aus­fuh­ren nach China häufig ameri­ka­ni­sche Vorleis­tun­gen. Eine Verschär­fung der Ausfuhr­kon­trol­len, die von den USA für Ausfuh­ren nach China oder umge­kehrt einge­führt werden, wird daher die EU-Unter­neh­men tref­fen, aber die Auswir­kun­gen werden noch viel weiter reichen.

 

Die USA haben den Druck auf eine Reihe von EU-Ländern, ‑Unter­neh­men und ‑Insti­tu­tio­nen erhöht, die Zusam­men­ar­beit mit chine­si­schen Projek­ten einzu­schrän­ken oder einzu­stel­len, und insbe­son­dere darauf hinge­wirkt, dass Europa sich ihrem Tech­no­lo­gie­krieg gegen China anschließt. Dieser Druck hat Früchte getra­gen: Zehn EU-Staa­ten haben den Zugang des chine­si­schen Tech­no­lo­gie­un­ter­neh­mens Huawei zu ihren 5G-Netzen einge­schränkt oder verbo­ten, und Deutsch­land erwägt eine ähnli­che Maßnahme. In der Zwischen­zeit haben die Nieder­lande die Ausfuhr von Chip-Herstel­lungs­ma­schi­nen nach China durch das wich­tige nieder­län­di­sche Halb­lei­ter­un­ter­neh­men ASML blockiert.

 

Im Jahr 2020 hat China die USA als wich­tigs­ter Handels­part­ner der EU über­holt, und 2022 war China die größte Quelle für EU-Importe und der dritt­größte Markt für Exporte. Wenn die USA darauf drän­gen, dass euro­päi­sche Unter­neh­men ihre Bezie­hun­gen zu China einschrän­ken oder been­den, würde dies die Handels­mög­lich­kei­ten Euro­pas einschrän­ken und im Übri­gen seine Abhän­gig­keit von Washing­ton erhö­hen. Dies wäre nicht nur für die Auto­no­mie der EU, sondern auch für die sozia­len und wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen in der Region schädlich.

Georgi Baev (Bulga­rien), Name, 1985.

Europa sollte sich für globale Kooperation statt Konfrontation entscheiden 

Seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs hat keine auslän­di­sche Macht mehr Einfluss auf die euro­päi­sche Poli­tik ausge­übt als die USA. Wenn Europa sich in einen von den USA geführ­ten Block einbin­den lässt, wird dies nicht nur seine tech­no­lo­gi­sche Abhän­gig­keit von den USA verstär­ken, sondern die Region könnte auch entin­dus­tria­li­siert werden. Darüber hinaus wird Europa dadurch nicht nur mit China in Konflikt gera­ten, sondern auch mit ande­ren großen Entwick­lungs­län­dern wie Indien, Brasi­lien und Südafrika, die sich weigern, sich mit dem einen oder ande­ren Land zu verbünden.

 

Anstatt den USA in Konflikte auf der ganzen Welt zu folgen, muss ein unab­hän­gi­ges Europa seine Sicher­heits­stra­te­gie auf die terri­to­riale Vertei­di­gung, die kollek­tive Sicher­heit des Konti­nents und den Aufbau konstruk­ti­ver inter­na­tio­na­ler Bezie­hun­gen ausrich­ten, indem es sich entschie­den von pater­na­lis­ti­schen und ausbeu­te­ri­schen Handels­be­zie­hun­gen mit Entwick­lungs­län­dern löst. Faire, respekt­volle und gleich­be­rech­tigte Bezie­hun­gen mit dem globa­len Süden könn­ten Europa die notwen­dige und wert­volle Diver­si­fi­zie­rung der poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Part­ner bieten, die es drin­gend braucht.

 

Ein unab­hän­gi­ges und vernetz­tes Europa liegt im Inter­esse der euro­päi­schen Bevöl­ke­rung. Dadurch könn­ten enorme Ressour­cen von den Mili­tär­aus­ga­ben abge­zo­gen und zur Bewäl­ti­gung der Klima- und Lebens­hal­tungs­kos­ten­krise einge­setzt werden, beispiels­weise durch den Aufbau einer grünen indus­tri­el­len Basis. Die euro­päi­sche Bevöl­ke­rung hat allen Grund, die Entwick­lung einer unab­hän­gi­gen Außen­po­li­tik zu unter­stüt­zen, die die Domi­nanz und Mili­ta­ri­sie­rung der USA ablehnt und statt­des­sen inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit und eine demo­kra­ti­schere Welt­ord­nung anstrebt.

Aida Mahmu­dova (Aser­bai­dschan), Non-Imagi­ned Perspec­ti­ves, 2018.

Dieses «No Cold War»-Briefing stellt eine wich­tige Frage: Ist eine unab­hän­gige euro­päi­sche Außen­po­li­tik möglich? Die Schluss­fol­ge­rung lautet ange­sichts der heute in Europa herr­schen­den Kräf­te­ver­hält­nisse: Nein. Nicht einmal die rechts­extreme Regie­rung in Italien, die sich gegen die NATO ausge­spro­chen hat, konnte dem Druck aus Washing­ton stand­hal­ten. Doch wie das Brie­fing andeu­tet, sind die nega­ti­ven Auswir­kun­gen der Poli­tik des Westens, die den Frie­den in der Ukraine verhin­dert, für die euro­päi­sche Öffent­lich­keit täglich spür­bar. Werden die Europäer*innen für ihre Souve­rä­ni­tät eintre­ten, oder werden sie weiter­hin die Front­li­nie für Washing­tons Ambi­tio­nen sein?

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.