Wir müssen die Architektur unserer Zukunft bauen. 

Der fünfundzwanzigste Newsletter (2022).

Diego Rivera (Mexiko), Frozen Assets, 1931.

 

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Im April 2022 haben die Verein­ten Natio­nen die «Global Crisis Response Group on Food, Energy and Finance» einge­rich­tet. Diese Gruppe befasst sich mit den drei Haupt­kri­sen Lebens­mit­tel­in­fla­tion, Treib­stoff­in­fla­tion und finan­zi­elle Notlage. In ihrem zwei­ten Brie­fing, das am 8. Juni 2022 veröf­fent­licht wurde, heißt es über die Welt­wirt­schaft nach zwei Jahren COVID-19-Pandemie:

 

die Welt­wirt­schaft befin­det sich in einem fragi­len Zustand. Heute haben 60 Prozent der Arbeit­neh­men­den ein nied­ri­ge­res Real­ein­kom­men als vor der Pande­mie; 60 Prozent der ärms­ten Länder sind verschul­det oder hoch­gra­dig gefähr­det; den Entwick­lungs­län­dern fehlen jähr­lich 1,2 Billio­nen Dollar, um die Sozi­al­schutz­lü­cke zu schlie­ßen; und 4,3 Billio­nen Dollar werden jähr­lich benö­tigt – mehr Geld als je zuvor –, um die Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung (SDGs) zu erreichen.

 

Das ist eine durch­aus ange­mes­sene Beschrei­bung der beun­ru­hi­gen­den globa­len Situa­tion, die wahr­schein­lich noch schlim­mer werden wird.

 

Nach Anga­ben der UN Global Crisis Response Group haben die meis­ten kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten die Hilfs­gel­der, die sie während der Pande­mie bereit­ge­stellt haben, bereits zurück­ge­fah­ren. «Wenn die Sozi­al­schutz­sys­teme und Sicher­heits­netze nicht ange­mes­sen ausge­baut werden», heißt es in dem Bericht, «könn­ten arme Fami­lien in Entwick­lungs­län­dern, die mit Hunger konfron­tiert sind, ihre Gesund­heits­aus­ga­ben redu­zie­ren; Kinder, die wegen COVID-19 vorüber­ge­hend die Schule verlas­sen haben, könn­ten nun dauer­haft aus dem Bildungs­sys­tem heraus­fal­len; oder Kleinbauer*innen oder Kleinstunternehmer*innen könn­ten aufgrund höhe­rer Ener­gie­rech­nun­gen ihre Geschäfte schließen».

 

Renato Guttuso (Italien), La Vucci­ria, 1974.

 

Die Welt­bank berich­tet, dass die Lebens­mit­tel- und Kraft­stoff­preise mindes­tens bis Ende 2024 auf einem sehr hohen Niveau blei­ben werden. Da die Preise für Weizen und Ölsaa­ten eska­liert sind, wird aus der ganzen Welt – auch aus wohl­ha­ben­den Ländern – berich­tet, dass Arbei­ter­fa­mi­lien begon­nen haben, Mahl­zei­ten ausfal­len zu lassen. Diese ange­spannte Ernäh­rungs­lage hat die Sonder­be­auf­tragte des Gene­ral­se­kre­tärs der Verein­ten Natio­nen (UN) für inte­gra­tive Entwick­lungs­fi­nan­zie­rung, Köni­gin Máxima der Nieder­lande, zu der Prognose veran­lasst, dass viele Fami­lien zu einer einzi­gen Mahl­zeit am Tag über­ge­hen werden, was, wie sie sagt, «die Quelle für noch mehr Insta­bi­li­tät» in der Welt sein wird. Das Welt­wirt­schafts­fo­rum (WEF) fügt hinzu, dass wir uns inmit­ten eines «perfek­ten Sturms» befin­den, wenn man die Auswir­kun­gen der stei­gen­den Zins­sätze auf Hypo­the­ken­zah­lun­gen sowie unzu­rei­chende Gehäl­ter berück­sich­tigt. Die geschäfts­füh­rende Direk­to­rin des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF), Kris­talina Geor­gieva-Kinova, sagte Ende letz­ten Monats, dass sich der «Hori­zont verdun­kelt» habe.

 

Cândido Port­i­nari (Brasi­lien), Coffee Bean Mowers, 1935.

 

Diese Einschät­zun­gen stam­men von Perso­nen aus dem Zentrum mäch­ti­ger globa­ler Insti­tu­tio­nen – dem IWF, der Welt­bank, dem WEF und der UNO (und sogar von einer Köni­gin). Obwohl sie alle den struk­tu­rel­len Charak­ter der Krise aner­ken­nen, zögern sie, ehrlich über die zugrun­de­lie­gen­den wirt­schaft­li­chen Prozesse zu spre­chen oder gar darüber, wie man die Situa­tion ange­mes­sen benen­nen kann. David M. Ruben­stein, der Chef der globa­len Invest­ment­firma The Carlyle Group, sagte, als er der Regie­rung von US-Präsi­dent Jimmy Carter ange­hörte warnte der Infla­ti­ons­be­ra­ter Alfred Kahn sie davor, das «R‑Wort» – Rezes­sion – zu verwen­den, da es «den Menschen Angst mache». Statt­des­sen, so riet Kahn, solle man das Wort «Banane» verwen­den. In diesem Sinne sagte Ruben­stein über die derzei­tige Situa­tion: «Ich möchte nicht sagen, dass wir uns in einer Banane befin­den, aber ich würde sagen, dass eine Banane nicht so weit von dem entfernt ist, wo wir heute sind.»

 

Der marxis­ti­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Michael Roberts versteckt sich nicht hinter Begrif­fen wie Banane. Roberts hat die welt­weite durch­schnitt­li­che Profi­trate des Kapi­tals unter­sucht, die, wie er zeigt, seit 1997 mit klei­nen Rück­schrit­ten gesun­ken ist. Dieser Trend wurde durch den globa­len Finanz­crash von 2007-08, der 2008 zur Großen Rezes­sion führte, noch verstärkt. Seit­dem, so argu­men­tiert er, befin­det sich die Welt­wirt­schaft in einer «langen Depres­sion», wobei die Profi­trate 2019 (kurz vor der Pande­mie) einen histo­ri­schen Tief­stand erreichte.

 

Yildiz Moran (Türkei), Mother, 1956.

 

«Der Profit treibt die Inves­ti­tio­nen im Kapi­ta­lis­mus an», schreibt Roberts, «und so haben sinkende und nied­rige Renta­bi­li­tät zu einem lang­sa­men Wachs­tum der produk­ti­ven Inves­ti­tio­nen geführt». Die kapi­ta­lis­ti­schen Insti­tu­tio­nen haben sich von Inves­ti­tio­nen in produk­tive Tätig­kei­ten auf, wie Roberts es ausdrückt, «die Fanta­sie­welt der Aktien- und Anlei­he­märkte und Kryp­to­wäh­run­gen» verla­gert. Der Markt für Kryp­to­wäh­run­gen ist übri­gens in diesem Jahr um über 60 % einge­bro­chen. Schwin­dende Profite im Globa­len Norden haben die Kapi­ta­lis­ten veran­lasst, nach Profi­ten im Globa­len Süden zu suchen und jedes Land (insbe­son­dere China und Russ­land) zurück­zu­schla­gen, das ihre finan­zi­elle und poli­ti­sche Hege­mo­nie bedroht, wenn nötig mit mili­tä­ri­scher Gewalt.

 

Der Fratze der Infla­tion ist grau­sam, aber Infla­tion ist ledig­lich ein Symptom eines tiefer liegen­den Problems und nicht dessen Ursa­che. Dieses Problem ist nicht nur der Krieg in der Ukraine oder die Pande­mie, sondern etwas, das durch Daten bestä­tigt, aber in Pres­se­kon­fe­ren­zen geleug­net wird: Das kapi­ta­lis­ti­sche System, das in eine lang­fris­tige Depres­sion gestürzt ist, kann sich nicht selbst heilen. Im Laufe dieses Jahres wird das Notiz­buch Nr. 4 über die Krisen­theo­rie von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, verfasst von den marxis­ti­schen Ökono­men Sungur Savran und E. Ahmet Tonak, diese Punkte sehr deut­lich darstellen.

 

Abou­dia (Côte d’Ivoire), Ohne Titel, 2013. 

Heut­zu­tage geht die kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie davon aus, dass jeder Versuch, eine Wirt­schafts­krise, wie etwa eine Infla­ti­ons­krise, zu bewäl­ti­gen, nicht «die Rentiers enttäu­schen» dürfe, wie John Maynard Keynes 1923 schrieb. Wohl­ha­bende Anlei­he­gläu­bi­ger und große kapi­ta­lis­ti­sche Insti­tu­tio­nen kontrol­lie­ren die poli­ti­sche Ausrich­tung des Globa­len Nordens, damit der Wert ihres Geldes – Billio­nen von Dollar, die von einer Minder­heit gehal­ten werden – sicher ist. Sie können, wie Keynes vor fast hundert Jahren schrieb, nicht enttäuscht werden.

 

Die von den USA und der Euro­zone betrie­bene Anti-Infla­ti­ons­po­li­tik wird die Belas­tun­gen der Arbei­ter­klasse in ihren Ländern nicht verrin­gern, und schon gar nicht im schul­den­ge­plag­ten Globa­len Süden. Der Vorsit­zende der US-Noten­bank Jerome Powell räumte ein, dass seine Geld­po­li­tik «etwas Schmerz verur­sa­chen wird», aber nicht für die gesamte Bevöl­ke­rung. Jeff Bezos von Amazon twit­terte, dass «Infla­tion eine regres­sive Steuer ist, die die am wenigs­ten Wohl­ha­ben­den am meis­ten trifft». Stei­gende Zins­sätze im Nord­at­lan­tik verteu­ern das Geld für die einfa­chen Menschen in dieser Region, machen aber auch die Kredit­auf­nahme in Dollar zur Beglei­chung der Staats­schul­den im Globa­len Süden prak­tisch unmög­lich. Die Anhe­bung der Zins­sätze und die Verknap­pung des Arbeits­mark­tes sind direkte Angriffe auf die Arbei­ter­klasse und die Entwicklungsländer.

 

Der Klas­sen­kampf der Regie­run­gen des Globa­len Nordens ist nicht unab­wend­bar. Andere poli­ti­sche Maßnah­men sind möglich; einige davon sind im Folgen­den aufgeführt:

 

    1. Besteue­rung der Reichen welt­weit. Welt­weit gibt es 2.668 Milliardär*innen mit einem Vermö­gen von 12,7 Billio­nen Dollar; das Geld, das sie in ille­ga­len Steu­er­pa­ra­die­sen verste­cken, beläuft sich auf etwa 40 Billio­nen Dollar. Dieser Reich­tum könnte einer produk­ti­ven sozia­len Verwen­dung zuge­führt werden. Wie Oxfam fest­stellt, besit­zen die reichs­ten zehn Männer mehr Vermö­gen als 3,1 Milli­ar­den Menschen (40 % der Weltbevölkerung).
    2. Besteue­rung von Groß­un­ter­neh­men, deren Gewinne ins Uner­mess­li­che gestie­gen sind. Die Gewinne der US-Unter­neh­men sind um 37 % gestie­gen und liegen damit weit über der Infla­tion und den Gehalts­er­hö­hun­gen. Ellen Zent­ner, die US-ameri­ka­ni­sche Chef­volks­wir­tin des führen­den Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­neh­mens Morgan Stan­ley, argu­men­tiert, dass während der langen Depres­sion der Anteil des Brut­to­in­lands­pro­dukts, den die Arbei­ter­klasse in den Verei­nig­ten Staa­ten erwirt­schaf­tet, in einem noch nie dage­we­se­nen Maße gesun­ken ist. Sie fordert eine Rück­kehr zu einem gerech­te­ren Verhält­nis zwischen Gewinn und Lohn.
    3. Verwen­dung des sozia­len Reich­tums zur Erhö­hung der Sozi­al­aus­ga­ben, z. B. für die Bekämp­fung von Hunger und Analpha­be­ten­tum und den Aufbau von Gesund­heits­sys­te­men sowie für kohlen­stoff­freie öffent­li­che Verkehrsmittel.
    4. Einfüh­rung von Preis­kon­trol­len für Güter, die die Infla­tion beson­ders anhei­zen – wie die Preise für Lebens­mit­tel, Dünge­mit­tel, Treib­stoff und Medikamente.

 

Der große baja­ni­sche Schrift­stel­ler George Lamming (1927–2022) ist kürz­lich von uns gegan­gen. In seinem Essay «Das west­in­di­sche Volk» aus dem Jahr 1966 sagte Lamming: «Die Archi­tek­tur unse­rer Zukunft ist nicht nur unvoll­endet; das Gerüst steht noch nicht einmal». Das ist eine kraft­volle Aussage eines mäch­ti­gen Visio­närs, der hoffte, dass sich seine Heimat in der Kari­bik, die West­in­di­schen Inseln, zu einer souve­rä­nen Region entwi­ckeln würde, die ihre Bewohner*innen von großen Probleme befreien würde. Dies sollte nicht der Fall sein. Selt­sa­mer­weise zitierte Geor­gieva-Kinova vom IWF diesen Satz in einem kürz­lich erschie­ne­nen Arti­kel, in dem sie für eine Zusam­men­ar­beit der Region mit dem IWF plädierte. Es ist wahr­schein­lich, dass Geor­gieva-Kinova und ihre Mitar­bei­ter nicht die gesamte Rede von Lamming gele­sen haben, denn der folgende Absatz ist heute noch genauso aufschluss­reich wie im Jahr 1966:

 

Es gibt, glaube ich, ein beacht­li­ches Regi­ment von Ökono­men in diesem Saal. Sie lehren die Statis­tik des Über­le­bens. Sie anti­zi­pie­ren und warnen vor dem rela­ti­ven Preis der Frei­heit … [Ich] möchte, dass Sie sich die Geschichte eines einfa­chen barba­di­schen Arbei­ters ins Gedächt­nis rufen. Als er von einem ande­ren West­in­dier, den er seit etwa zehn Jahren nicht mehr gese­hen hatte, gefragt wurde: «Und wie geht es dir?», antwor­tete er: «Die Weide ist grün, aber sie haben mich an ein kurzes Seil gebunden».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.