Eine neue Blockfreiheit entsteht.
Der vierundzwanzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Das neue trotzige Verhalten des Globalen Südens hat in den Hauptstädten der Triade (USA, Europa und Japan) Verwirrung gestiftet. Dort ringen die Verantwortlichen um Antwort auf die Frage, warum die Regierungen des Globalen Südens die westliche Sichtweise des Ukraine-Konflikts nicht akzeptieren oder die Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) in ihren Bemühungen, «Russland zu schwächen», nicht allseits unterstützen. Regierungen, die lange Zeit allen Wünschen der Triade entsprachen, wie die Regierungen von Narendra Modi in Indien und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei (trotz der Toxizität ihrer eigenen Regimes), sind nicht mehr so zuverlässig.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine verteidigt der indische Außenminister S. Jaishankar vehement die Weigerung seiner Regierung, sich dem Druck Washingtons zu beugen. Im April 2022 wurde Jaishankar auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Washington, DC, mit US-Außenminister Antony Blinken gebeten, Indiens fortgesetzte Ölkäufe aus Russland zu erklären. Seine Antwort war unverblümt: «Mir ist aufgefallen, dass Sie sich auf Ölkäufe beziehen. Wenn Sie sich mit den Energieeinkäufen aus Russland befassen, würde ich vorschlagen, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Europa richten… Wir kaufen einen Teil der Energie, die für unsere Energiesicherheit notwendig ist. Aber ich vermute, wenn ich mir die Zahlen ansehe, dass unsere Gesamtkäufe für einen Monat wahrscheinlich geringer sind als das, was Europa an einem Nachmittag kauft.»
Solche Äußerungen haben Washington jedoch nicht von Bemühungen abgehalten, Indien für seine Agenda zu gewinnen. Am 24. Mai veröffentlichte der Sonderausschuss des US-Kongresses für die Kommunistische Partei Chinas eine politische Erklärung zu Taiwan, in der es hieß, dass «die Vereinigten Staaten die NATO-Plus-Vereinbarung stärken und Indien einbeziehen müssen». Diese Erklärung wurde kurz nach dem G7-Gipfel im japanischen Hiroshima veröffentlicht, auf dem der indische Premierminister Narendra Modi mit den verschiedenen Staats- und Regierungschefs der G7, darunter US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zusammenkam.
Die Reaktion der indischen Regierung auf diese «NATO-Plus»-Formulierung entsprach dem Tenor ihrer früheren Äußerungen zum Kauf von russischem Öl. «Viele Amerikaner*innen haben immer noch das Konstrukt des NATO-Vertrags im Kopf», sagte Jaishankar auf einer Pressekonferenz am 9. Juni. «Es scheint fast so, als sei dies die einzige Schablone oder Sichtweise, mit der sie die Welt betrachten … Diese Schablone gilt nicht für Indien». Indien sei nicht an einer Mitgliedschaft in der NATO Plus interessiert und wolle sich ein größeres Maß an geopolitischer Flexibilität bewahren. «Eine der Herausforderungen einer sich verändernden Welt», so Jaishankar, «besteht darin, die Menschen dazu zu bringen, diese Veränderungen zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen».
Aus den Äußerungen Jaishankars lassen sich zwei wichtige Schlüsse ziehen. Erstens ist die indische Regierung – die weder vom Programm noch vom Verhalten her gegen die Vereinigten Staaten eingestellt ist – nicht daran interessiert, in ein von den USA geführtes Blocksystem (das «NATO-Vertragskonstrukt», wie Jaishankar es ausdrückte) hineingezogen zu werden. Zweitens erkennt sie wie viele Regierungen des Globalen Südens an, dass wir in einer «sich ändernden Welt» leben und dass sich die traditionellen Großmächte – insbesondere die Vereinigten Staaten – «an diese Veränderungen anpassen müssen».
In ihrem Bericht Investment Outlook 2023 weist die Credit Suisse auf die «tiefen und anhaltenden Brüche» hin, die sich in der internationalen Ordnung aufgetan haben – ein anderer Ausdruck für das, was Jaishankar als «Welt im Wandel» bezeichnet. Die Credit Suisse beschreibt diese «Brüche» treffend: «Der globale Westen (westliche Industrieländer und Verbündete) hat sich in Bezug auf seine strategischen Kerninteressen vom globalen Osten (China, Russland und Verbündete) entfernt, während sich der globale Süden (Brasilien, Russland, Indien und China sowie die meisten Entwicklungsländer) neu orientiert, um seine eigenen Interessen zu verfolgen». Diese letzten Worte sollten wiederholt werden: «Der globale Süden … orientiert sich neu, um seine eigenen Interessen zu verfolgen».
Mitte April veröffentlichte das japanische Außenministerium sein Diplomatic Bluebook 2023, in dem es feststellte, dass wir uns am «Ende der Ära nach dem Kalten Krieg» befinden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 behaupteten die Vereinigten Staaten ihre Vormachtstellung in der internationalen Ordnung und schufen zusammen mit ihren Vasallen aus der Triade die so genannte «regelbasierte internationale Ordnung». Dieses dreißig Jahre alte Projekt unter der Führung der USA gerät nun ins Wanken, was zum Teil auf die internen Schwächen der Triadenländer (einschließlich ihrer geschwächten Position in der Weltwirtschaft) und zum Teil auf den Aufstieg der «Lokomotiven des Südens» (angeführt von China, aber auch Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko und Nigeria) zurückzuführen ist. Unsere Berechnungen auf der Grundlage des IWF-Datamappers zeigen, dass das Bruttoinlandsprodukt der Länder des globalen Südens in diesem Jahr zum ersten Mal seit Jahrhunderten das der Länder des globalen Nordens übertraf. Der Aufstieg dieser Entwicklungsländer hat – trotz der großen sozialen Ungleichheit innerhalb derselben – zu einer neuen Einstellung ihrer Mittelschichten geführt, die sich im gewachsenen Selbstbewusstsein ihrer Regierungen widerspiegelt: Sie akzeptieren die engstirnigen Ansichten der Länder der Triade nicht mehr als allgemeingültige Wahrheiten und haben ein gestiegenes Interesse daran, ihre eigenen nationalen und regionalen Interessen durchzusetzen.
Dieses Wiedererstarken nationaler und regionaler Interessen innerhalb des Globalen Südens hat eine Reihe regionaler Prozesse wiederbelebt, darunter die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) und den BRICS-Prozess (Brasilien-Russland-Indien-China-Südafrika). Am 1. Juni trafen sich die Außenminister der BRICS-Staaten in Kapstadt (Südafrika) im Vorfeld des Gipfeltreffens ihrer Staatsoberhäupter, das im August in Johannesburg stattfinden soll. Die gemeinsame Erklärung, die sie abgaben, ist aufschlussreich: Zweimal warnten sie vor den negativen Auswirkungen «einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen wie Sanktionen, Boykotte, Embargos und Blockaden», die «negative Auswirkungen, insbesondere in den Entwicklungsländern» hätten. Die Formulierung in dieser Erklärung spiegelt ein Gefühl wider, das im gesamten Globalen Süden geteilt wird. Von Bolivien bis Sri Lanka haben diese Länder, die die Mehrheit der Welt ausmachen, die Nase voll vom IWF-getriebenen Schulden-Austeritätszyklus und den Schikanen der Triade. Sie beginnen, ihre eigene souveräne Agenda durchzusetzen.
Interessanterweise wird diese Wiederbelebung souveräner Politik nicht von einem nach innen gerichteten Nationalismus angetrieben, sondern von einem bündnisfreien Internationalismus. Die Erklärung der BRICS-Minister konzentriert sich auf die «Stärkung des Multilateralismus und die Wahrung des Völkerrechts, einschließlich der Ziele und Grundsätze, die in der Charta der Vereinten Nationen als ihrem unverzichtbaren Eckpfeiler verankert sind» (übrigens gehören sowohl China als auch Russland der zwanzigköpfigen Gruppe der Freunde zur Verteidigung der UN-Charta an). Das implizite Argument, das hier vorgebracht wird, ist, dass die von den USA angeführten Triadenstaaten den Ländern des Südens unter dem Deckmantel der «regelbasierten internationalen Ordnung» einseitig ihre enge, auf den Interessen ihrer Eliten beruhende Weltsicht aufgezwungen haben. Jetzt, so argumentieren die Staaten des Globalen Südens, ist es an der Zeit, zur Quelle – der UN-Charta – zurückzukehren und eine wirklich demokratische internationale Ordnung aufzubauen.
Der Begriff «blockfrei» wird zunehmend verwendet, um diese neue Tendenz in der internationalen Politik zu beschreiben. Der Begriff hat seinen Ursprung in der 1961 in Belgrad (Jugoslawien) abgehaltenen Konferenz der Blockfreien, die auf der Asiatisch-Afrikanischen Konferenz von 1955 in Bandung (Indonesien) aufbaute. Damals bezog sich die Blockfreiheit auf jene Länder, die von Bewegungen geführt wurden, die im zutiefst antikolonialen Projekt der Dritten Welt verwurzelt waren und die Souveränität der neuen Staaten und die Würde ihrer Bevölkerung durchsetzen wollten. Dieser Moment der Blockfreiheit wurde durch die Schuldenkrise der 1980er Jahre beendet, die mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos im Jahr 1982 begann. Wir haben es nicht mit einer Rückkehr der alten Blockfreiheit zu tun, sondern mit dem Entstehen einer neuen politischen Atmosphäre und einer neuen politischen Konstellation, die sorgfältig untersucht werden muss. Im Moment können wir sagen, dass diese neue Blockfreiheit von den größeren Staaten des Globalen Südens gefordert wird, die kein Interesse daran haben, sich der Agenda der Triade unterzuordnen, die aber noch kein eigenes Projekt – etwa ein Global South Project – ins Leben gerufen haben.
Im Rahmen unserer Bemühungen, diese entstehende Dynamik zu verstehen, veranstaltet das Tricontinental: Institute for Social Research gemeinsam mit der No Cold War-Kampagne, ALBA Movimientos, Pan-Africanism Today, dem International Strategy Center (Südkorea) und der International Peoples’ Assembly am 17. Juni das Webinar «The New Non-Alignment and the New Cold War». Zu den Referenten gehören Ronnie Kasrils (ehemaliger Geheimdienstminister, Südafrika), Sevim Dağdelen (stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag), Stephanie Weatherbee (International Peoples’ Assembly) und Srujana Bodapati (Tricontinental).
1931 schrieb die jamaikanische Dichterin und Journalistin Una Marson (1905–1965) «There Will Come a Time», ein Gedicht voller Hoffnung auf eine Zukunft, «in der Liebe und Brüderlichkeit die Oberhand haben werden». Die Menschen in der kolonisierten Welt, schrieb sie, müssen einen anhaltenden Kampf führen, um ihre Freiheit zu erlangen. Wir sind noch lange nicht am Ende dieses Kampfes angelangt, aber wir sind auch nicht mehr bereit, uns fast vollständig unterzuordnen, wie es zur Zeit der Vorherrschaft der Triade der Fall war, die von 1991 bis heute andauert. Es lohnt sich, auf Marson zurückzukommen, die mit Sicherheit wusste, dass eine gerechtere Welt kommen wird, auch wenn sie nicht mehr am Leben sein würde, dies zu erleben:
Was macht es, dass wir wie verängstigte Vögel sind
Die ihre Fügel gegen die Eisenstäbe schlagen
Bis Blutstropfen fallen, und in herzzerreißenden Liedern
Unsere Seelen zu Gott hinübergehen? Genau diese Worte,
In Qualen gesungen, werden mächtig entfalten.
Wir werden nicht unter den glücklichen Erben
dieses großartigen Schatzes sein — aber zu uns
Wird ihre Dankbarkeit kommen und ihr Lob,
Und noch ungeborene Kinder werden mit Freude ernten
was wir unter Tränen gesät haben.
Herzlichst,
Vijay