Eine neue Blockfreiheit entsteht.

Der vierundzwanzigste Newsletter (2023)

Sahej Rahal (Indien), Juggernaut, 2019.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Das neue trot­zige Verhal­ten des Globa­len Südens hat in den Haupt­städ­ten der Triade (USA, Europa und Japan) Verwir­rung gestif­tet. Dort ringen die Verant­wort­li­chen um Antwort auf die Frage, warum die Regie­run­gen des Globa­len Südens die west­li­che Sicht­weise des Ukraine-Konflikts nicht akzep­tie­ren oder die Nord­at­lan­tik­ver­trags-Orga­ni­sa­tion (NATO) in ihren Bemü­hun­gen, «Russ­land zu schwä­chen», nicht allseits unter­stüt­zen. Regie­run­gen, die lange Zeit allen Wünschen der Triade entspra­chen, wie die Regie­run­gen von Naren­dra Modi in Indien und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei (trotz der Toxi­zi­tät ihrer eige­nen Regimes), sind nicht mehr so zuverlässig.


Seit Beginn des Krie­ges in der Ukraine vertei­digt der indi­sche Außen­mi­nis­ter S. Jais­han­kar vehe­ment die Weige­rung seiner Regie­rung, sich dem Druck Washing­tons zu beugen. Im April 2022 wurde Jais­han­kar auf einer gemein­sa­men Pres­se­kon­fe­renz in Washing­ton, DC, mit US-Außen­mi­nis­ter Antony Blin­ken gebe­ten, Indi­ens fort­ge­setzte Ölkäufe aus Russ­land zu erklä­ren. Seine Antwort war unver­blümt: «Mir ist aufge­fal­len, dass Sie sich auf Ölkäufe bezie­hen. Wenn Sie sich mit den Ener­gie­ein­käu­fen aus Russ­land befas­sen, würde ich vorschla­gen, dass Sie Ihre Aufmerk­sam­keit auf Europa rich­ten… Wir kaufen einen Teil der Ener­gie, die für unsere Ener­gie­si­cher­heit notwen­dig ist. Aber ich vermute, wenn ich mir die Zahlen ansehe, dass unsere Gesamt­käufe für einen Monat wahr­schein­lich gerin­ger sind als das, was Europa an einem Nach­mit­tag kauft.»

Kandi Narsimlu (Indien), Waiting at the Bus Stand, 2023.

 

Solche Äuße­run­gen haben Washing­ton jedoch nicht von Bemü­hun­gen abge­hal­ten, Indien für seine Agenda zu gewin­nen. Am 24. Mai veröf­fent­lichte der Sonder­aus­schuss des US-Kongres­ses für die Kommu­nis­ti­sche Partei Chinas eine poli­ti­sche Erklä­rung zu Taiwan, in der es hieß, dass «die Verei­nig­ten Staa­ten die NATO-Plus-Verein­ba­rung stär­ken und Indien einbe­zie­hen müssen». Diese Erklä­rung wurde kurz nach dem G7-Gipfel im japa­ni­schen Hiro­shima veröf­fent­licht, auf dem der indi­sche Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi mit den verschie­de­nen Staats- und Regie­rungs­chefs der G7, darun­ter US-Präsi­dent Joe Biden und der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolo­dymyr Selen­skyj zusammenkam.


Die Reak­tion der indi­schen Regie­rung auf diese «NATO-Plus»-Formulierung entsprach dem Tenor ihrer frühe­ren Äuße­run­gen zum Kauf von russi­schem Öl. «Viele Amerikaner*innen haben immer noch das Konstrukt des NATO-Vertrags im Kopf», sagte Jais­han­kar auf einer Pres­se­kon­fe­renz am 9. Juni. «Es scheint fast so, als sei dies die einzige Scha­blone oder Sicht­weise, mit der sie die Welt betrach­ten … Diese Scha­blone gilt nicht für Indien». Indien sei nicht an einer Mitglied­schaft in der NATO Plus inter­es­siert und wolle sich ein größe­res Maß an geopo­li­ti­scher Flexi­bi­li­tät bewah­ren. «Eine der Heraus­for­de­run­gen einer sich verän­dern­den Welt», so Jais­han­kar, «besteht darin, die Menschen dazu zu brin­gen, diese Verän­de­run­gen zu akzep­tie­ren und sich ihnen anzupassen».

 

Kats­ura Yuki (Japan), An Ass in a Lion’s skin, 1956.

 

Aus den Äuße­run­gen Jais­han­kars lassen sich zwei wich­tige Schlüsse ziehen. Erstens ist die indi­sche Regie­rung – die weder vom Programm noch vom Verhal­ten her gegen die Verei­nig­ten Staa­ten einge­stellt ist – nicht daran inter­es­siert, in ein von den USA geführ­tes Block­sys­tem (das «NATO-Vertrags­kon­strukt», wie Jais­han­kar es ausdrückte) hinein­ge­zo­gen zu werden. Zwei­tens erkennt sie wie viele Regie­run­gen des Globa­len Südens an, dass wir in einer «sich ändern­den Welt» leben und dass sich die tradi­tio­nel­len Groß­mächte – insbe­son­dere die Verei­nig­ten Staa­ten – «an diese Verän­de­run­gen anpas­sen müssen».

 

In ihrem Bericht Invest­ment Outlook 2023 weist die Credit Suisse auf die «tiefen und anhal­ten­den Brüche» hin, die sich in der inter­na­tio­na­len Ordnung aufge­tan haben – ein ande­rer Ausdruck für das, was Jais­han­kar als «Welt im Wandel» bezeich­net. Die Credit Suisse beschreibt diese «Brüche» tref­fend: «Der globale Westen (west­li­che Indus­trie­län­der und Verbün­dete) hat sich in Bezug auf seine stra­te­gi­schen Kern­in­ter­es­sen vom globa­len Osten (China, Russ­land und Verbün­dete) entfernt, während sich der globale Süden (Brasi­lien, Russ­land, Indien und China sowie die meis­ten Entwick­lungs­län­der) neu orien­tiert, um seine eige­nen Inter­es­sen zu verfol­gen». Diese letz­ten Worte soll­ten wieder­holt werden: «Der globale Süden … orien­tiert sich neu, um seine eige­nen Inter­es­sen zu verfolgen».

 

Mitte April veröf­fent­lichte das japa­ni­sche Außen­mi­nis­te­rium sein Diplo­ma­tic Blue­book 2023, in dem es fest­stellte, dass wir uns am «Ende der Ära nach dem Kalten Krieg» befin­den. Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union im Jahr 1991 behaup­te­ten die Verei­nig­ten Staa­ten ihre Vormacht­stel­lung in der inter­na­tio­na­len Ordnung und schu­fen zusam­men mit ihren Vasal­len aus der Triade die so genannte «regel­ba­sierte inter­na­tio­nale Ordnung». Dieses drei­ßig Jahre alte Projekt unter der Führung der USA gerät nun ins Wanken, was zum Teil auf die inter­nen Schwä­chen der Tria­den­län­der (einschließ­lich ihrer geschwäch­ten Posi­tion in der Welt­wirt­schaft) und zum Teil auf den Aufstieg der «Loko­mo­ti­ven des Südens» (ange­führt von China, aber auch Brasi­lien, Indien, Indo­ne­sien, Mexiko und Nige­ria) zurück­zu­füh­ren ist. Unsere Berech­nun­gen auf der Grund­lage des IWF-Data­map­pers zeigen, dass das Brut­to­in­lands­pro­dukt der Länder des globa­len Südens in diesem Jahr zum ersten Mal seit Jahr­hun­der­ten das der Länder des globa­len Nordens über­traf. Der Aufstieg dieser Entwick­lungs­län­der hat – trotz der großen sozia­len Ungleich­heit inner­halb dersel­ben – zu einer neuen Einstel­lung ihrer Mittel­schich­ten geführt, die sich im gewach­se­nen Selbst­be­wusst­sein ihrer Regie­run­gen wider­spie­gelt: Sie akzep­tie­ren die engstir­ni­gen Ansich­ten der Länder der Triade nicht mehr als allge­mein­gül­tige Wahr­hei­ten und haben ein gestie­ge­nes Inter­esse daran, ihre eige­nen natio­na­len und regio­na­len Inter­es­sen durchzusetzen.

 

Nelson Makamo (Südafrika), The Announce­ment, 2016.

 

Dieses Wieder­erstar­ken natio­na­ler und regio­na­ler Inter­es­sen inner­halb des Globa­len Südens hat eine Reihe regio­na­ler Prozesse wieder­be­lebt, darun­ter die Gemein­schaft der latein­ame­ri­ka­ni­schen und kari­bi­schen Staa­ten (CELAC) und den BRICS-Prozess (Brasi­lien-Russ­land-Indien-China-Südafrika). Am 1. Juni trafen sich die Außen­mi­nis­ter der BRICS-Staa­ten in Kapstadt (Südafrika) im Vorfeld des Gipfel­tref­fens ihrer Staats­ober­häup­ter, das im August in Johan­nes­burg statt­fin­den soll. Die gemein­same Erklä­rung, die sie abga­ben, ist aufschluss­reich: Zwei­mal warn­ten sie vor den nega­ti­ven Auswir­kun­gen «einsei­ti­ger wirt­schaft­li­cher Zwangs­maß­nah­men wie Sank­tio­nen, Boykotte, Embar­gos und Blocka­den», die «nega­tive Auswir­kun­gen, insbe­son­dere in den Entwick­lungs­län­dern» hätten. Die Formu­lie­rung in dieser Erklä­rung spie­gelt ein Gefühl wider, das im gesam­ten Globa­len Süden geteilt wird. Von Boli­vien bis Sri Lanka haben diese Länder, die die Mehr­heit der Welt ausma­chen, die Nase voll vom IWF-getrie­be­nen Schul­den-Austeri­täts­zy­klus und den Schi­ka­nen der Triade. Sie begin­nen, ihre eigene souve­räne Agenda durchzusetzen.

 

Inter­es­san­ter­weise wird diese Wieder­be­le­bung souve­rä­ner Poli­tik nicht von einem nach innen gerich­te­ten Natio­na­lis­mus ange­trie­ben, sondern von einem bünd­nis­freien Inter­na­tio­na­lis­mus. Die Erklä­rung der BRICS-Minis­ter konzen­triert sich auf die «Stär­kung des Multi­la­te­ra­lis­mus und die Wahrung des Völker­rechts, einschließ­lich der Ziele und Grund­sätze, die in der Charta der Verein­ten Natio­nen als ihrem unver­zicht­ba­ren Eckpfei­ler veran­kert sind» (übri­gens gehö­ren sowohl China als auch Russ­land der zwan­zig­köp­fi­gen Gruppe der Freunde zur Vertei­di­gung der UN-Charta an). Das impli­zite Argu­ment, das hier vorge­bracht wird, ist, dass die von den USA ange­führ­ten Tria­den­staa­ten den Ländern des Südens unter dem Deck­man­tel der «regel­ba­sier­ten inter­na­tio­na­len Ordnung» einsei­tig ihre enge, auf den Inter­es­sen ihrer Eliten beru­hende Welt­sicht aufge­zwun­gen haben. Jetzt, so argu­men­tie­ren die Staa­ten des Globa­len Südens, ist es an der Zeit, zur Quelle – der UN-Charta – zurück­zu­keh­ren und eine wirk­lich demo­kra­ti­sche inter­na­tio­nale Ordnung aufzubauen.

 

Führer der Drit­ten Welt auf der ersten Konfe­renz der Bewe­gung der Block­freien Staa­ten in Belgrad, 1961. Credit: Jugo­sla­wien-Museum, Belgrad.

 

Der Begriff «block­frei» wird zuneh­mend verwen­det, um diese neue Tendenz in der inter­na­tio­na­len Poli­tik zu beschrei­ben. Der Begriff hat seinen Ursprung in der 1961 in Belgrad (Jugo­sla­wien) abge­hal­te­nen Konfe­renz der Block­freien, die auf der Asia­tisch-Afri­ka­ni­schen Konfe­renz von 1955 in Bandung (Indo­ne­sien) aufbaute. Damals bezog sich die Block­frei­heit auf jene Länder, die von Bewe­gun­gen geführt wurden, die im zutiefst anti­ko­lo­nia­len Projekt der Drit­ten Welt verwur­zelt waren und die Souve­rä­ni­tät der neuen Staa­ten und die Würde ihrer Bevöl­ke­rung durch­set­zen woll­ten. Dieser Moment der Block­frei­heit wurde durch die Schul­den­krise der 1980er Jahre been­det, die mit der Zahlungs­un­fä­hig­keit Mexi­kos im Jahr 1982 begann. Wir haben es nicht mit einer Rück­kehr der alten Block­frei­heit zu tun, sondern mit dem Entste­hen einer neuen poli­ti­schen Atmo­sphäre und einer neuen poli­ti­schen Konstel­la­tion, die sorg­fäl­tig unter­sucht werden muss. Im Moment können wir sagen, dass diese neue Block­frei­heit von den größe­ren Staa­ten des Globa­len Südens gefor­dert wird, die kein Inter­esse daran haben, sich der Agenda der Triade unter­zu­ord­nen, die aber noch kein eige­nes Projekt – etwa ein Global South Project – ins Leben geru­fen haben.

Im Rahmen unse­rer Bemü­hun­gen, diese entste­hende Dyna­mik zu verste­hen, veran­stal­tet das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch gemein­sam mit der No Cold War-Kampa­gne, ALBA Movi­mi­entos, Pan-Afri­ca­nism Today, dem Inter­na­tio­nal Stra­tegy Center (Südko­rea) und der Inter­na­tio­nal Peop­les’ Assem­bly am 17. Juni das Webi­nar «The New Non-Alignment and the New Cold War». Zu den Refe­ren­ten gehö­ren Ronnie Kasrils (ehema­li­ger Geheim­dienst­mi­nis­ter, Südafrika), Sevim Dağde­len (stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der Partei Die Linke im Deut­schen Bundes­tag), Stepha­nie Weather­bee (Inter­na­tio­nal Peop­les’ Assem­bly) und Srujana Boda­pati (Tricon­ti­nen­tal).

 

1931 schrieb die jamai­ka­ni­sche Dich­te­rin und Jour­na­lis­tin Una Marson (1905–1965) «There Will Come a Time», ein Gedicht voller Hoff­nung auf eine Zukunft, «in der Liebe und Brüder­lich­keit die Ober­hand haben werden». Die Menschen in der kolo­ni­sier­ten Welt, schrieb sie, müssen einen anhal­ten­den Kampf führen, um ihre Frei­heit zu erlan­gen. Wir sind noch lange nicht am Ende dieses Kamp­fes ange­langt, aber wir sind auch nicht mehr bereit, uns fast voll­stän­dig unter­zu­ord­nen, wie es zur Zeit der Vorherr­schaft der Triade der Fall war, die von 1991 bis heute andau­ert. Es lohnt sich, auf Marson zurück­zu­kom­men, die mit Sicher­heit wusste, dass eine gerech­tere Welt kommen wird, auch wenn sie nicht mehr am Leben sein würde, dies zu erleben:

 

Was macht es, dass wir wie verängs­tigte Vögel sind

Die ihre Fügel gegen die Eisen­stäbe schlagen

Bis Bluts­trop­fen fallen, und in herz­zer­rei­ßen­den Liedern

Unsere Seelen zu Gott hinüber­ge­hen? Genau diese Worte,

In Qualen gesun­gen, werden mäch­tig entfalten.

Wir werden nicht unter den glück­li­chen Erben

dieses groß­ar­ti­gen Schat­zes sein — aber zu uns

Wird ihre Dank­bar­keit kommen und ihr Lob,

Und noch unge­bo­rene Kinder werden mit Freude ernten

was wir unter Tränen gesät haben.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.