
Die tödliche globale Monroe-Doktrin Washingtons.
Der vierundzwanzigste Newsletter (2022).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
In der vergangenen Woche organisierte die Regierung der Vereinigten Staaten im Rahmen ihrer Politik zur Beherrschung der amerikanischen Hemisphäre den 9. Amerika-Gipfel in Los Angeles. US-Präsident Joe Biden machte schon früh klar, dass drei Länder der Hemisphäre (Kuba, Nicaragua und Venezuela) nicht zu der Veranstaltung eingeladen werden würden, da sie keine Demokratien seien. Gleichzeitig plante Biden Berichten zufolge einen bevorstehenden Besuch in Saudi-Arabien – einer selbsternannten Theokratie. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador stellte daraufhin die Legitimität von Bidens ausschließender Haltung in Frage, und so weigerten sich Mexiko, Bolivien und Honduras, an der Veranstaltung teilzunehmen. Wie sich herausstellte, war der Gipfel ein Fiasko.
Im Anschluss daran veranstalteten über hundert Organisationen einen Gipfel der Völker für Demokratie, bei dem Tausende von Menschen aus der ganzen Hemisphäre zusammenkamen, um den tatsächlichen demokratischen Geist zu feiern, der aus den Kämpfen der Bäuer*innen und Arbeiter*innen, der Student*innen und Feminist*innen und all der Menschen entsteht, die von den Mächtigen normalerweise ignoriert werden. Die Präsidenten Kubas und Venezuelas schlossen sich online an, um dieses Fest der Demokratie zu feiern und die Instrumentalisierung der demokratischen Ideale durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu verurteilen.
Nächstes Jahr, 2023, wird der zweihundertste Jahrestag der Monroe-Doktrin begangen, mit der die USA ihre Hegemonie über die amerikanische Hemisphäre geltend machten. Der bösartige Geist der Monroe-Doktrin besteht nicht nur fort, sondern wurde von der US-Regierung nun zu einer Art globaler Monroe-Doktrin ausgeweitet. Um diesen absurden Anspruch auf den gesamten Planeten durchzusetzen, verfolgen die Vereinigten Staaten eine Politik der «Schwächung» derer, die sie als »gleichrangige Rivalen« ansehen, nämlich China und Russland.

Im Juli wird Tricontinental: Institute for Social Research – zusammen mit Monthly Review und No Cold War – eine Broschüre über die rücksichtslose militärische Eskalation der US-Regierung gegen diejenigen herausgeben, die sie als ihre Gegner betrachtet – hauptsächlich China und Russland. Diese Broschüre wird Aufsätze von John Bellamy Foster, dem Herausgeber der Monthly Review, Deborah Veneziale, einer in Italien lebenden Journalistin, und John Ross, einem Mitglied der Gruppe No Cold War, enthalten. In Anlehnung an diese Broschüre, die in diesem Newsletter angekündigt wird, hat No Cold War auch das Briefing No. 3, «Is the United States Preparing for War on Russia and China?», über Washingtons säbelrasselnden und alarmierenden Marsch in Richtung nuklearer Vormachtstellung erstellt.

Der Krieg in der Ukraine demonstriert eine qualitative Eskalation der Bereitschaft der Vereinigten Staaten, militärische Gewalt einzusetzen. In den letzten Jahrzehnten haben die USA Kriege gegen Entwicklungsländer wie Afghanistan, Irak, Libyen und Serbien geführt. Bei diesen Feldzügen wussten die USA, dass sie militärisch haushoch überlegen waren und dass keine Gefahr eines nuklearen Gegenschlags bestand. Mit der Drohung, die Ukraine in die Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) aufzunehmen, waren die USA jedoch bereit, das Risiko einzugehen, die »rote Linie« zum atomar bewaffneten Staat Russland zu überschreiten, was ihnen bewusst war. Dies wirft zwei Fragen auf: Warum haben die USA diese Eskalation forciert, und wie weit sind sie nun bereit, militärische Gewalt nicht nur gegen den Globalen Süden, sondern auch gegen Großmächte wie China oder Russland einzusetzen?
Einsatz militärischer Gewalt als Ausgleich für wirtschaftlichen Niedergang
Die Antwort auf die Frage nach dem «Warum» liegt auf der Hand: Die USA haben im friedlichen wirtschaftlichen Wettbewerb gegen die Entwicklungsländer im Allgemeinen und China im Besonderen verloren. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat China im Jahr 2016 die USA als größte Volkswirtschaft der Welt überholt. 2021 wird China 19 % der Weltwirtschaft ausmachen, die USA dagegen nur 16 %. Diese Kluft wird immer größer, und der IWF geht davon aus, dass Chinas Wirtschaft bis 2027 die der USA um fast 30 % übertreffen wird. Die USA haben jedoch eine unangefochtene globale militärische Vormachtstellung inne – ihre Militärausgaben sind höher als die der nächsten neun Länder mit den höchsten Ausgaben zusammen. Im Bestreben, ihre globale Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, ersetzen die USA zunehmend den friedlichen wirtschaftlichen Wettbewerb durch militärische Gewalt.

Ein guter Ausgangspunkt für das Verständnis dieses strategischen Wandels in der US-Politik ist die Rede des US-Außenministers Antony Blinken vom 26. Mai 2022. Darin gab Blinken offen zu, dass die USA keine militärische Gleichberechtigung mit anderen Staaten anstreben, sondern eine militärische Vormachtstellung, insbesondere gegenüber China: «Präsident Biden hat das Verteidigungsministerium angewiesen, China als Schrittmacher zu betrachten, um sicherzustellen, dass unser Militär die Nase vorn hat.» Bei nuklear bewaffneten Staaten wie China oder Russland setzt eine militärische Vorherrschaft jedoch die Erlangung der nuklearen Vorherrschaft voraus – eine Eskalation, die über den aktuellen Krieg in der Ukraine hinausgeht.
Das Streben nach nuklearer Vorherrschaft
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die USA systematisch aus wichtigen Verträgen zur Begrenzung des drohenden Einsatzes von Atomwaffen zurückgezogen: 2002 traten die USA einseitig aus dem Vertrag zur Bekämpfung ballistischer Flugkörper aus, 2019 kündigten sie den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen und 2020 zogen sie sich aus dem Vertrag über den Offenen Himmel zurück. Der Ausstieg aus diesen Verträgen stärkte die Fähigkeit der USA, die nukleare Vorherrschaft anzustreben.

Das ultimative Ziel dieser US-Politik ist es, eine «Erstschlagskapazität» gegen Russland und China zu erlangen – die Fähigkeit, Russland oder China mit einem ersten Einsatz von Atomwaffen so viel Schaden zuzufügen, dass ein Vergeltungsschlag effektiv verhindert wird. Wie John Bellamy Foster in seiner umfassenden Studie über die nukleare Aufrüstung der USA feststellte, würde dies selbst im Falle Russlands – das über das modernste nicht-amerikanische Atomwaffenarsenal der Welt verfügt – «Moskau eine praktikable Zweitschlagsoption verwehren und seine nukleare Abschreckung durch ‹Enthauptung‹ praktisch völlig ausschalten». In Wirklichkeit würden die Folgen eines solchen Schlags und die Gefahr eines nuklearen Winters die ganze Welt bedrohen.
Diese Politik des nuklearen Erstschlags wird von bestimmten Kreisen in Washington schon lange verfolgt. Im Jahr 2006 hieß es in der führenden US-amerikanischen Fachzeitschrift für Außenpolitik Foreign Affairs, dass «es den Vereinigten Staaten wahrscheinlich bald möglich sein wird, die nuklearen Langstreckenarsenale Russlands oder Chinas mit einem Erstschlag zu vernichten». Entgegen diesen Hoffnungen sind die USA bisher nicht in der Lage, eine Erstschlagskapazität zu erreichen, was jedoch auf die Entwicklung von Hyperschallraketen und anderen Waffen durch Russland und China zurückzuführen ist – und nicht auf eine Änderung der US-Politik.
Von den Angriffen auf Länder des Globalen Südens über die zunehmende Bereitschaft, gegen eine Großmacht wie Russland in den Krieg zu ziehen, bis hin zum Versuch, eine nukleare Erstschlagskapazität zu erlangen, ist die Logik hinter der Eskalation des US-Militarismus klar: Die Vereinigten Staaten versuchen, ihren wirtschaftlichen Niedergang mit militärischer Gewalt zu kompensieren. In dieser extrem gefährlichen Zeit ist es für die Menschheit lebenswichtig, dass sich alle fortschrittlichen Kräfte zusammenschließen und dieser großen Bedrohung begegnen.

1991, als die Sowjetunion zusammenbrach und der Globale Süden in einer nicht enden wollenden Schuldenkrise steckte, bombardierten die Vereinigten Staaten den Irak, obwohl die irakische Regierung um ein Verhandlungsabkommen gebeten hatte. Während dieser Bombardierung verfasste der libysche Schriftsteller Ahmad Ibrahim al-Faqih ein Gedicht mit dem Titel «Nafaq Tudiuhu Imra Wahida» («Ein von einer Frau erleuchteter Tunnel»), in dem er sagte: «Eine Zeit ist vergangen, und eine andere Zeit ist nicht gekommen und wird nie kommen». Düsternis bestimmte die Zeit.
Heute leben wir in sehr gefährlichen Zeiten. Und doch bestimmt nicht die Verzagtheit von al-Faqih unser Empfinden. Die Stimmung hat sich gewandelt. Wir glauben an eine Welt jenseits des Imperialismus. Diese Stimmung ist nicht nur in Ländern wie Kuba und China zu spüren, sondern auch in Indien und Japan sowie unter allen hart arbeitenden Menschen, die ihre kollektive Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Probleme der Menschheit und nicht auf die Hässlichkeit von Krieg und Herrschaft konzentrieren.
Herzlichst,
Vijay