Die tödliche globale Monroe-Doktrin Washingtons.

Der vierundzwanzigste Newsletter (2022).

LeRoy Clarke (Trini­dad und Tobago), Now, 1970.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

In der vergan­ge­nen Woche orga­ni­sierte die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten im Rahmen ihrer Poli­tik zur Beherr­schung der ameri­ka­ni­schen Hemi­sphäre den 9. Amerika-Gipfel in Los Ange­les. US-Präsi­dent Joe Biden machte schon früh klar, dass drei Länder der Hemi­sphäre (Kuba, Nica­ra­gua und Vene­zuela) nicht zu der Veran­stal­tung einge­la­den werden würden, da sie keine Demo­kra­tien seien. Gleich­zei­tig plante Biden Berich­ten zufolge einen bevor­ste­hen­den Besuch in Saudi-Arabien – einer selbst­er­nann­ten Theo­kra­tie. Der mexi­ka­ni­sche Präsi­dent Andrés Manuel López Obra­dor stellte darauf­hin die Legi­ti­mi­tät von Bidens ausschlie­ßen­der Haltung in Frage, und so weiger­ten sich Mexiko, Boli­vien und Hondu­ras, an der Veran­stal­tung teil­zu­neh­men. Wie sich heraus­stellte, war der Gipfel ein Fiasko.

 

Im Anschluss daran veran­stal­te­ten über hundert Orga­ni­sa­tio­nen einen Gipfel der Völker für Demo­kra­tie, bei dem Tausende von Menschen aus der ganzen Hemi­sphäre zusam­men­ka­men, um den tatsäch­li­chen demo­kra­ti­schen Geist zu feiern, der aus den Kämp­fen der Bäuer*innen und Arbeiter*innen, der Student*innen und Feminist*innen und all der Menschen entsteht, die von den Mäch­ti­gen norma­ler­weise igno­riert werden. Die Präsi­den­ten Kubas und Vene­zue­las schlos­sen sich online an, um dieses Fest der Demo­kra­tie zu feiern und die Instru­men­ta­li­sie­rung der demo­kra­ti­schen Ideale durch die Verei­nig­ten Staa­ten und ihre Verbün­de­ten zu verurteilen.

 

Nächs­tes Jahr, 2023, wird der zwei­hun­dertste Jahres­tag der Monroe-Doktrin began­gen, mit der die USA ihre Hege­mo­nie über die ameri­ka­ni­sche Hemi­sphäre geltend mach­ten. Der bösar­tige Geist der Monroe-Doktrin besteht nicht nur fort, sondern wurde von der US-Regie­rung nun zu einer Art globa­ler Monroe-Doktrin ausge­wei­tet. Um diesen absur­den Anspruch auf den gesam­ten Plane­ten durch­zu­set­zen, verfol­gen die Verei­nig­ten Staa­ten eine Poli­tik der «Schwä­chung» derer, die sie als »gleich­ran­gige Riva­len« anse­hen, nämlich China und Russland.

 

Philip Guston (Kanada), Black­board, 1969.

 

Im Juli wird Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch – zusam­men mit Monthly Review und No Cold War – eine Broschüre über die rück­sichts­lose mili­tä­ri­sche Eska­la­tion der US-Regie­rung gegen dieje­ni­gen heraus­ge­ben, die sie als ihre Gegner betrach­tet – haupt­säch­lich China und Russ­land. Diese Broschüre wird Aufsätze von John Bellamy Foster, dem Heraus­ge­ber der Monthly Review, Debo­rah Vene­ziale, einer in Italien leben­den Jour­na­lis­tin, und John Ross, einem Mitglied der Gruppe No Cold War, enthal­ten. In Anleh­nung an diese Broschüre, die in diesem News­let­ter ange­kün­digt wird, hat No Cold War auch das Brie­fing No. 3, «Is the United States Prepa­ring for War on Russia and China?», über Washing­tons säbel­ras­seln­den und alar­mie­ren­den Marsch in Rich­tung nuklea­rer Vormacht­stel­lung erstellt.

 

 

Der Krieg in der Ukraine demons­triert eine quali­ta­tive Eska­la­tion der Bereit­schaft der Verei­nig­ten Staa­ten, mili­tä­ri­sche Gewalt einzu­set­zen. In den letz­ten Jahr­zehn­ten haben die USA Kriege gegen Entwick­lungs­län­der wie Afgha­ni­stan, Irak, Libyen und Serbien geführt. Bei diesen Feld­zü­gen wuss­ten die USA, dass sie mili­tä­risch haus­hoch über­le­gen waren und dass keine Gefahr eines nuklea­ren Gegen­schlags bestand. Mit der Drohung, die Ukraine in die Orga­ni­sa­tion des Nord­at­lan­tik­ver­trags (NATO) aufzu­neh­men, waren die USA jedoch bereit, das Risiko einzu­ge­hen, die »rote Linie« zum atomar bewaff­ne­ten Staat Russ­land zu über­schrei­ten, was ihnen bewusst war. Dies wirft zwei Fragen auf: Warum haben die USA diese Eska­la­tion forciert, und wie weit sind sie nun bereit, mili­tä­ri­sche Gewalt nicht nur gegen den Globa­len Süden, sondern auch gegen Groß­mächte wie China oder Russ­land einzusetzen?

 

Einsatz mili­tä­ri­scher Gewalt als Ausgleich für wirt­schaft­li­chen Niedergang

 

Die Antwort auf die Frage nach dem «Warum» liegt auf der Hand: Die USA haben im fried­li­chen wirt­schaft­li­chen Wett­be­werb gegen die Entwick­lungs­län­der im Allge­mei­nen und China im Beson­de­ren verlo­ren. Nach Anga­ben des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF) hat China im Jahr 2016 die USA als größte Volks­wirt­schaft der Welt über­holt. 2021 wird China 19 % der Welt­wirt­schaft ausma­chen, die USA dage­gen nur 16 %. Diese Kluft wird immer größer, und der IWF geht davon aus, dass Chinas Wirt­schaft bis 2027 die der USA um fast 30 % über­tref­fen wird. Die USA haben jedoch eine unan­ge­foch­tene globale mili­tä­ri­sche Vormacht­stel­lung inne – ihre Mili­tär­aus­ga­ben sind höher als die der nächs­ten neun Länder mit den höchs­ten Ausga­ben zusam­men. Im Bestre­ben, ihre  globale Vorherr­schaft aufrecht­zu­er­hal­ten, erset­zen die USA zuneh­mend den fried­li­chen wirt­schaft­li­chen Wett­be­werb durch mili­tä­ri­sche Gewalt.

 

Ikeda Manabu (Japan), Melt­down, 2013.

 

Ein guter Ausgangs­punkt für das Verständ­nis dieses stra­te­gi­schen Wandels in der US-Poli­tik ist die Rede des US-Außen­mi­nis­ters Antony Blin­ken vom 26. Mai 2022. Darin gab Blin­ken offen zu, dass die USA keine mili­tä­ri­sche Gleich­be­rech­ti­gung mit ande­ren Staa­ten anstre­ben, sondern eine mili­tä­ri­sche Vormacht­stel­lung, insbe­son­dere gegen­über China: «Präsi­dent Biden hat das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rium ange­wie­sen, China als Schritt­ma­cher zu betrach­ten, um sicher­zu­stel­len, dass unser Mili­tär die Nase vorn hat.» Bei nuklear bewaff­ne­ten Staa­ten wie China oder Russ­land setzt eine mili­tä­ri­sche Vorherr­schaft jedoch die Erlan­gung der nuklea­ren Vorherr­schaft voraus – eine Eska­la­tion, die über den aktu­el­len Krieg in der Ukraine hinausgeht.

 

Das Stre­ben nach nuklea­rer Vorherrschaft

 

Seit Beginn des 21. Jahr­hun­derts haben sich die USA syste­ma­tisch aus wich­ti­gen Verträ­gen zur Begren­zung des drohen­den Einsat­zes von Atom­waf­fen zurück­ge­zo­gen: 2002 traten die USA einsei­tig aus dem Vertrag zur Bekämp­fung ballis­ti­scher Flug­kör­per aus, 2019 kündig­ten sie den Vertrag über nukleare Mittel­stre­cken­waf­fen und 2020 zogen sie sich aus dem Vertrag über den Offe­nen Himmel zurück. Der Ausstieg aus diesen Verträ­gen stärkte die Fähig­keit der USA, die nukleare Vorherr­schaft anzustreben.

 

Nata­lia Gontscha­rowa (Russ­land), Angels thro­wing stones on the city, 1911.

 

Das ulti­ma­tive Ziel dieser US-Poli­tik ist es, eine «Erst­schlags­ka­pa­zi­tät» gegen Russ­land und China zu erlan­gen – die Fähig­keit, Russ­land oder China mit einem ersten Einsatz von Atom­waf­fen so viel Scha­den zuzu­fü­gen, dass ein Vergel­tungs­schlag effek­tiv verhin­dert wird. Wie John Bellamy Foster in seiner umfas­sen­den Studie über die nukleare Aufrüs­tung der USA fest­stellte, würde dies selbst im Falle Russ­lands – das über das modernste nicht-ameri­ka­ni­sche Atom­waf­fen­ar­se­nal der Welt verfügt – «Moskau eine prak­ti­ka­ble Zweit­schlags­op­tion verweh­ren und seine nukleare Abschre­ckung durch ‹Enthaup­tung‹ prak­tisch völlig ausschal­ten». In Wirk­lich­keit würden die Folgen eines solchen Schlags und die Gefahr eines nuklea­ren Winters die ganze Welt bedrohen.

 

Diese Poli­tik des nuklea­ren Erst­schlags wird von bestimm­ten Krei­sen in Washing­ton schon lange verfolgt. Im Jahr 2006 hieß es in der führen­den US-ameri­ka­ni­schen Fach­zeit­schrift für Außen­po­li­tik Foreign Affairs, dass «es den Verei­nig­ten Staa­ten wahr­schein­lich bald möglich sein wird, die nuklea­ren Lang­stre­cken­ar­se­nale Russ­lands oder Chinas mit einem Erst­schlag zu vernich­ten».  Entge­gen diesen Hoff­nun­gen sind die USA bisher nicht in der Lage, eine Erst­schlags­ka­pa­zi­tät zu errei­chen, was jedoch auf die Entwick­lung von Hyper­schall­ra­ke­ten und ande­ren Waffen durch Russ­land und China zurück­zu­füh­ren ist – und nicht auf eine Ände­rung der US-Politik.

 

Von den Angrif­fen auf Länder des Globa­len Südens über die zuneh­mende Bereit­schaft, gegen eine Groß­macht wie Russ­land in den Krieg zu ziehen, bis hin zum Versuch, eine nukleare Erst­schlags­ka­pa­zi­tät zu erlan­gen, ist die Logik hinter der Eska­la­tion des US-Mili­ta­ris­mus klar: Die Verei­nig­ten Staa­ten versu­chen, ihren wirt­schaft­li­chen Nieder­gang mit mili­tä­ri­scher Gewalt zu kompen­sie­ren. In dieser extrem gefähr­li­chen Zeit ist es für die Mensch­heit lebens­wich­tig, dass sich alle fort­schritt­li­chen Kräfte zusam­men­schlie­ßen und dieser großen Bedro­hung begegnen.

Shefa Salem (Libyen), KASKA, Dance of War, 2020.

 

1991, als die Sowjet­union zusam­men­brach und der Globale Süden in einer nicht enden wollen­den Schul­den­krise steckte, bombar­dier­ten die Verei­nig­ten Staa­ten den Irak, obwohl die iraki­sche Regie­rung um ein Verhand­lungs­ab­kom­men gebe­ten hatte. Während dieser Bombar­die­rung verfasste der liby­sche Schrift­stel­ler Ahmad Ibra­him al-Faqih ein Gedicht mit dem Titel «Nafaq Tudi­uhu Imra Wahida» («Ein von einer Frau erleuch­te­ter Tunnel»), in dem er sagte: «Eine Zeit ist vergan­gen, und eine andere Zeit ist nicht gekom­men und wird nie kommen». Düster­nis bestimmte die Zeit.

 

Heute leben wir in sehr gefähr­li­chen Zeiten. Und doch bestimmt nicht die Verzagt­heit von al-Faqih unser Empfin­den. Die Stim­mung hat sich gewan­delt. Wir glau­ben an eine Welt jenseits des Impe­ria­lis­mus. Diese Stim­mung ist nicht nur in Ländern wie Kuba und China zu spüren, sondern auch in Indien und Japan sowie unter allen hart arbei­ten­den Menschen, die ihre kollek­tive Aufmerk­sam­keit auf die tatsäch­li­chen Probleme der Mensch­heit und nicht auf die Häss­lich­keit von Krieg und Herr­schaft konzentrieren.



Herz­lichst, 

 

Vijay

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.