Die Kisan-Kommune der Bäuer*innen in Indien.
Der vierundzwanzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 26. Juni 2021 werden sich Zehntausende von indischen Bauern und Bäuerinnen vor den Regierungsgebäuden in den achtundzwanzig Bundesstaaten Indiens versammeln. Sie werden kommen, um den Abschluss ihres siebenmonatigen landesweiten Protestes gegen die rechtsextreme Bharatiya Janata Party (BJP) Regierung von Premierminister Narendra Modi zu feiern. Diese Versammlung wird Teil eines langen Zyklus von Protesten sein, der am 26. November 2020 mit einem eintägigen Generalstreik von 250 Millionen indischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen begann. Seit November haben Zehntausende von Bäuer*innen, oder Kisans, die indische Hauptstadt Neu-Delhi umzingelt und eine Kisan-Kommune gebildet. Diese Kommune entstand 150 Jahre nach der Pariser Kommune, aus deren Niederlage, so schrieb Marx, das nächste Experiment mit sozialistischer Demokratie erwachsen würde. Die Kisan-Kommune, die in einer Reihe mit Venezuelas Comunas und Südafrikas Landbesetzungen steht, ist ein solches Experiment.
Die Bäuer*innen trotzten dem indischen Winter. Was sie provozierte, war die Verabschiedung von drei Gesetzen im September 2020, die die indische Landwirtschaft fest in die Hände einer kleinen Gruppe von Megakonzernen gaben. Die Samyukta Kisan Morcha [Vereinigte Bauernfront], die sich aus über vierzig Bauern- und Landarbeitergewerkschaften zusammensetzt, hat zu diesem Protest im Juni aufgerufen. Ihr Slogan Kheti Bachao, Loktantra Bachao [Rettet die Landwirtschaft, rettet die Demokratie], bringt den Kampf der Bäuer*innen auf den Punkt.
Als Modis Regierung diese Gesetze verabschiedete, wussten die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen sofort, dass die Megakonzerne die Kontrolle über die Mandis, die Marktplätze für landwirtschaftliche Produkte, übernehmen würden. Die Gesetze schwächten das Eingreifen des Staates und übergaben die Preismechanismen an mächtige Monopolfirmen, die Modi und seiner Partei nahestehen. Das Überleben des landwirtschaftlichen Lebens steht auf dem Spiel. Dies ist keine Übertreibung. Die Bäuer*innen kennen die Auswirkungen der neoliberalen Politik: Seit 1991, als Indien diese Politik in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, auch in der Landwirtschaft, eingeführt hat, haben über 300.000 Bäuer*innen Selbstmord begangen. Die Protestbewegung, die Kisan-Kommune, ist ein Aufschrei gegen den Selbstmord.
Laut Volkszählung von 2011 leben 833,1 Millionen Menschen von einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden im ländlichen Indien, das heißt, zwei von drei Indern leben auf dem Land. Nicht alle sind Bäuer*innen oder Landarbeiter*innen, aber alle sind auf die eine oder andere Weise mit der Vitalität der ländlichen Wirtschaft verbunden. Es gibt Handwerker*innen und Weber*innen, Waldarbeiter*innen und Zimmerleute, Bergleute und Industriearbeiter*innen. Eine ganze soziale Welt, die auf einer nachhaltigen und gesunden Agrarwirtschaft basiert, ist in Gefahr, ausgelöscht zu werden. Das ist es, was die Bäuer*innen wissen: der kapitalistische Angriff untergräbt die Existenz von Indiens Landarbeiter*innen und ihre Befähigung, die wachsende städtische Bevölkerung des Landes zu ernähren.
Zwei Monate nach Beginn der Proteste strömten die Bäuer*innen nach Delhi. Das Datum, das sie für ihren Einzug in die Stadt wählten, war der 26. Januar, der Tag der Republik, an dem das gerade unabhängig gewordene Indien 1950 seine Verfassung verabschiedete. Die Bäuer*innen fuhren mit 200.000 Traktoren in das Herz ihrer Hauptstadt, andere kamen zu Pferd und zu Fuß. Die Polizei hielt sie an Barrikaden entlang der großen Autobahnen auf. Den Soundtrack zu diesem Zusammenstoß zwischen denen, die das Volk ernähren, und denen, die vom Volk leben, lieferte 1971 der Dichter Sahir Ludhianvi in seiner Meditation zum Tag der Republik:
Was ist aus unseren schönen Träumen geworden?
Als der Reichtum des Landes zunahm, warum wuchs die Armut?
Was geschah auf dem Weg, der den einfachen Leuten Wohlstand bringen sollte?
Diejenigen, die einst mit uns zum Galgen zogen,
Wo sind diese Freunde, diese Gefährten, diese Geliebten?
…
Jede Straße steht in Flammen, jede Stadt ist eine Region des Tötens.
Was ist aus unserer Solidarität geworden?
Das Leben führt uns durch die Wüsten der Finsternis.
Wo ist der Mond geblieben, der einst am Horizont aufging?
Wenn ich ein Schuldiger bin, dann sind auch Sie ein Sünder.
Führer unseres Landes, Ihr seid auch schuldig.
Von Tricontinental Research Services (Neu-Delhi) kommt ein bemerkenswertes Dossier, The Farmers’ Revolt in India (Dossier Nr. 41, Juni 2021), das die einfachen Fragen stellt: Was ist mit der Landwirtschaft in Indien geschehen und warum sind die Bäuer*innen in Aufruhr? Im Mittelpunkt des Dossiers steht die Erforschung der Agrarkrise, eines chronischen Zustands mit vielfältigen Symptomen: den Unwägbarkeiten der Landwirtschaft, einschließlich Ernteausfällen, die zu niedrigen bis negativen Einkommen führen; der Verschuldung, Unterbeschäftigung, Enteignung und Selbstmord. Die Wurzeln dieser Krise sind nicht unvermeidlich; sie finden sich in der Struktur der britischen Kolonialherrschaft, im Versagen des neuen indischen Staates nach 1947 (ein Staat, der vor der Grundbesitzerklasse und der Bourgeoisie kapitulierte) und in dem beschleunigten Scheitern der neoliberalen Periode von 1991 bis heute.
Es ist eine Sache, die Revolte der Bäuer*innen anzuerkennen; ihre aktive Präsenz in den Außenbezirken von Neu-Delhi kann nicht völlig ignoriert werden. Es ist eine andere, zu verstehen, warum sie dort sind, die tiefen Wurzeln der Krise zu begreifen, auf die sie mit solcher Tapferkeit reagieren. Dieses Dossier bestärkt die Ansichten der Bauerngewerkschaften und liefert eine kurze Einschätzung der rasanten Übergabe der indischen Wirtschaft durch die Modi-Regierung an die Milliardärsklasse, insbesondere an ihre engsten Kumpane, die Familien Adanis und Ambanis. Im Januar 2020 berichtete Oxfam, dass in Indien 1% der Reichsten viermal mehr besitzt als das Gesamtvermögen der 953 Millionen Menschen, also der unteren 70% der Bevölkerung, von denen die meisten in ländlichen Gebieten leben.
Diese Ungleichheit hat sich während der Pandemie nur noch verschlimmert. Zwischen März und Oktober 2020 verdoppelte sich das Vermögen von Mukesh Ambani, dem reichsten Mann Indiens, auf 78,3 Milliarden Dollar, was ihn zum sechstreichsten Menschen der Welt macht. In vier Tagen verdiente Ambani mehr, als den gesamten Lohn seiner 195.000 Angestellten ausmacht. In dieser Zeit hat Modis Regierung gerade einmal 0,8–1,2% des BIP für die Versorgung der Bevölkerung bereitgestellt. Die Bäuer*innen und ihre Familien antworten auf diesen nackten Klassenkampf mit der Bildung ihrer kompromisslosen Kisan-Kommune.
Modi kann nicht ohne weiteres von seinem Engagement für die Megakonzerne zurücktreten, und die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen können ihr Leben nicht aufgeben. Aus dieser Pattsituation gibt es keinen einfachen Weg. Große Teile der städtischen Öffentlichkeit sympathisieren mit denen, die sie ernähren. Die Anwendung von Gewalt – zumeist unter dem Vorwand, den Lockdown durchzusetzen – wurde versucht, ist aber gescheitert. Wird Modis Regierung riskieren, mehr Gewalt anzuwenden? Wenn sie es tut, wird die Öffentlichkeit es tolerieren? Leichtfertige Antworten auf diese Fragen verbieten sich.
Eine wichtige Studie der Society for Social and Economic Research von Vikas Rawal und Vaishali Bansal zeigt, dass die indische Landwirtschaft von massiver wirtschaftlicher Ungleichheit geplagt ist. Mehr als die Hälfte der Haushalte im ländlichen Indien sind landlos, während einige wenige Großgrundbesitzer nicht nur die größte Anbaufläche, sondern auch das beste Land besitzen. Landlosigkeit und ungleicher Zugang zu Land haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen, weisen Rawal und Bansal nach, und unsichere Pachtverhältnisse sind nur noch häufiger geworden. Das indische Land, so zeigen sie, «ist gekennzeichnet durch riesige Massen von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen, die in bitterer Armut leben, keinen Zugang zu angemessener Bildung und Gesundheitsfürsorge haben und denen die Grundausstattung für ein menschenwürdiges Leben vorenthalten wird». Das ist der Grund, warum sie protestieren. Deshalb, so argumentieren Rawal und Bansal, sind Landreformen eine Vorbedingung für ihre Freiheit.
Die Fotos in diesem Newsletter sind dem Dossier entnommen. Sie stammen von Vikas Thakur, Mitglied der Kunstabteilung des Tricontinental: Institute for Social Research. Über seine Bilder schreibt Vikas: «Es sind Porträts von Menschen mit Namen, Kämpfen und Bestrebungen, einer Lebensweise. Es sind Porträts einer Klasse. Es sind Porträts eines historischen Protests.»
Herzlich,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.