Die Kisan-Kommune der Bäuer*innen in Indien.

Der vierundzwanzigste Newsletter (2021).

Bäue­rin­nen aus Punjab und Haryana protes­tie­ren an der Tikri-Grenze in Delhi, 24. Januar 2021.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 26. Juni 2021 werden sich Zehn­tau­sende von indi­schen Bauern und Bäue­rin­nen vor den Regie­rungs­ge­bäu­den in den acht­und­zwan­zig Bundes­staa­ten Indi­ens versam­meln. Sie werden kommen, um den Abschluss ihres sieben­mo­na­ti­gen landes­wei­ten Protes­tes gegen die rechts­extreme Bhara­tiya Janata Party (BJP) Regie­rung von Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi zu feiern. Diese Versamm­lung wird Teil eines langen Zyklus von Protes­ten sein, der am 26. Novem­ber 2020 mit einem eintä­gi­gen Gene­ral­streik von 250 Millio­nen indi­schen Arbeiter*innen und Bäuer*innen begann. Seit Novem­ber haben Zehn­tau­sende von Bäuer*innen, oder Kisans, die indi­sche Haupt­stadt Neu-Delhi umzin­gelt und eine Kisan-Kommune gebil­det. Diese Kommune entstand 150 Jahre nach der Pari­ser Kommune, aus deren Nieder­lage, so schrieb Marx, das nächste Expe­ri­ment mit sozia­lis­ti­scher Demo­kra­tie erwach­sen würde. Die Kisan-Kommune, die in einer Reihe mit Vene­zue­las Comu­nas und Südafri­kas Land­be­set­zun­gen steht, ist ein solches Experiment.

 

Die Bäuer*innen trotz­ten dem indi­schen Winter. Was sie provo­zierte, war die Verab­schie­dung von drei Geset­zen im Septem­ber 2020, die die indi­sche Land­wirt­schaft fest in die Hände einer klei­nen Gruppe von Mega­kon­zer­nen gaben. Die Samy­ukta Kisan Morcha [Verei­nigte Bauern­front], die sich aus über vier­zig Bauern- und Land­ar­bei­ter­ge­werk­schaf­ten zusam­men­setzt, hat zu diesem Protest im Juni aufge­ru­fen. Ihr Slogan Kheti Bachao, Lokt­an­tra Bachao [Rettet die Land­wirt­schaft, rettet die Demo­kra­tie], bringt den Kampf der Bäuer*innen auf den Punkt.

Ein Bauern­paar verbringt eine Winter­nacht in seinem Trolly an der Singhu-Grenze in Delhi, 28. Dezem­ber 2020.

Als Modis Regie­rung diese Gesetze verab­schie­dete, wuss­ten die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen sofort, dass die Mega­kon­zerne die Kontrolle über die Mandis, die Markt­plätze für land­wirt­schaft­li­che Produkte, über­neh­men würden. Die Gesetze schwäch­ten das Eingrei­fen des Staa­tes und über­ga­ben die Preis­me­cha­nis­men an mäch­tige Mono­pol­fir­men, die Modi und seiner Partei nahe­ste­hen. Das Über­le­ben des land­wirt­schaft­li­chen Lebens steht auf dem Spiel. Dies ist keine Über­trei­bung. Die Bäuer*innen kennen die Auswir­kun­gen der neoli­be­ra­len Poli­tik: Seit 1991, als Indien diese Poli­tik in allen Berei­chen des Wirt­schafts­le­bens, auch in der Land­wirt­schaft, einge­führt hat, haben über 300.000 Bäuer*innen Selbst­mord began­gen. Die Protest­be­we­gung, die Kisan-Kommune, ist ein Aufschrei gegen den Selbstmord.

 

Laut Volks­zäh­lung von 2011 leben 833,1 Millio­nen Menschen von einer Bevöl­ke­rung von 1,2 Milli­ar­den im länd­li­chen Indien, das heißt, zwei von drei Indern leben auf dem Land. Nicht alle sind Bäuer*innen oder Landarbeiter*innen, aber alle sind auf die eine oder andere Weise mit der Vita­li­tät der länd­li­chen Wirt­schaft verbun­den. Es gibt Handwerker*innen und Weber*innen, Waldarbeiter*innen und Zimmer­leute, Berg­leute und Industriearbeiter*innen. Eine ganze soziale Welt, die auf einer nach­hal­ti­gen und gesun­den Agrar­wirt­schaft basiert, ist in Gefahr, ausge­löscht zu werden. Das ist es, was die Bäuer*innen wissen: der kapi­ta­lis­ti­sche Angriff unter­gräbt die Exis­tenz von Indi­ens Landarbeiter*innen und ihre Befä­hi­gung, die wach­sende städ­ti­sche Bevöl­ke­rung des Landes zu ernähren.

Trak­to­ren auf der GT Karnal Road durch­bre­chen Barri­ka­den und drin­gen in Delhi ein, wo am 26. Januar 2021 die Konfron­ta­tion zwischen Demons­tran­ten und der Poli­zei beginnt.

Zwei Monate nach Beginn der Proteste ström­ten die Bäuer*innen nach Delhi. Das Datum, das sie für ihren Einzug in die Stadt wähl­ten, war der 26. Januar, der Tag der Repu­blik, an dem das gerade unab­hän­gig gewor­dene Indien 1950 seine Verfas­sung verab­schie­dete. Die Bäuer*innen fuhren mit 200.000 Trak­to­ren in das Herz ihrer Haupt­stadt, andere kamen zu Pferd und zu Fuß. Die Poli­zei hielt sie an Barri­ka­den entlang der großen Auto­bah­nen auf. Den Sound­track zu diesem Zusam­men­stoß zwischen denen, die das Volk ernäh­ren, und denen, die vom Volk leben, lieferte 1971 der Dich­ter Sahir Ludhianvi in seiner Medi­ta­tion zum Tag der Republik:

 

Was ist aus unse­ren schö­nen Träu­men geworden?

Als der Reich­tum des Landes zunahm, warum wuchs die Armut?

Was geschah auf dem Weg, der den einfa­chen Leuten Wohl­stand brin­gen sollte?

Dieje­ni­gen, die einst mit uns zum Galgen zogen,

Wo sind diese Freunde, diese Gefähr­ten, diese Geliebten?

Jede Straße steht in Flam­men, jede Stadt ist eine Region des Tötens.

Was ist aus unse­rer Soli­da­ri­tät geworden?

Das Leben führt uns durch die Wüsten der Finsternis.

Wo ist der Mond geblie­ben, der einst am Hori­zont aufging?

Wenn ich ein Schul­di­ger bin, dann sind auch Sie ein Sünder.

Führer unse­res Landes, Ihr seid auch schuldig.

Ein Bauer aus dem Punjab protes­tiert während eines Trak­tor-Marsches am Tag der Repu­blik auf der GT Karnal Bypass Road in Delhi, 26. Januar 2021.

Von Tricon­ti­nen­tal Rese­arch Services (Neu-Delhi) kommt ein bemer­kens­wer­tes Dossier, The Farmers’ Revolt in India (Dossier Nr. 41, Juni 2021), das die einfa­chen Fragen stellt: Was ist mit der Land­wirt­schaft in Indien gesche­hen und warum sind die Bäuer*innen in Aufruhr? Im Mittel­punkt des Dossiers steht die Erfor­schung der Agrar­krise, eines chro­ni­schen Zustands mit viel­fäl­ti­gen Sympto­men: den Unwäg­bar­kei­ten der Land­wirt­schaft, einschließ­lich Ernte­aus­fäl­len, die zu nied­ri­gen bis nega­ti­ven Einkom­men führen; der Verschul­dung, Unter­be­schäf­ti­gung, Enteig­nung und Selbst­mord. Die Wurzeln dieser Krise sind nicht unver­meid­lich; sie finden sich in der Struk­tur der briti­schen Kolo­ni­al­herr­schaft, im Versa­gen des neuen indi­schen Staa­tes nach 1947 (ein Staat, der vor der Grund­be­sit­zer­klasse und der Bour­geoi­sie kapi­tu­lierte) und in dem beschleu­nig­ten Schei­tern der neoli­be­ra­len Peri­ode von 1991 bis heute.

 

Es ist eine Sache, die Revolte der Bäuer*innen anzu­er­ken­nen; ihre aktive Präsenz in den Außen­be­zir­ken von Neu-Delhi kann nicht völlig igno­riert werden. Es ist eine andere, zu verste­hen, warum sie dort sind, die tiefen Wurzeln der Krise zu begrei­fen, auf die sie mit solcher Tapfer­keit reagie­ren. Dieses Dossier bestärkt die Ansich­ten der Bauern­ge­werk­schaf­ten und liefert eine kurze Einschät­zung der rasan­ten Über­gabe der indi­schen Wirt­schaft durch die Modi-Regie­rung an die Milli­ar­därs­klasse, insbe­son­dere an ihre engs­ten Kumpane, die Fami­lien Adanis und Amba­nis. Im Januar 2020 berich­tete Oxfam, dass in Indien 1% der Reichs­ten vier­mal mehr besitzt als das Gesamt­ver­mö­gen der 953 Millio­nen Menschen, also der unte­ren 70% der Bevöl­ke­rung, von denen die meis­ten in länd­li­chen Gebie­ten leben. 


Diese Ungleich­heit hat sich während der Pande­mie nur noch verschlim­mert. Zwischen März und Okto­ber 2020 verdop­pelte sich das Vermö­gen von Mukesh Ambani, dem reichs­ten Mann Indi­ens, auf 78,3 Milli­ar­den Dollar, was ihn zum sechst­reichs­ten Menschen der Welt macht. In vier Tagen verdiente Ambani mehr, als den gesam­ten Lohn seiner 195.000 Ange­stell­ten ausmacht. In dieser Zeit hat Modis Regie­rung gerade einmal 0,8–1,2% des BIP für die Versor­gung der Bevöl­ke­rung bereit­ge­stellt. Die Bäuer*innen und ihre Fami­lien antwor­ten auf diesen nack­ten Klas­sen­kampf mit der Bildung ihrer kompro­miss­lo­sen Kisan-Kommune.

Frauen schmü­cken ein palki sahib, eine reli­giöse Struk­tur der Sikhs an der Singhu-Grenze in Delhi, 31. Dezem­ber 2020.

Modi kann nicht ohne weite­res von seinem Enga­ge­ment für die Mega­kon­zerne zurück­tre­ten, und die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen können ihr Leben nicht aufge­ben. Aus dieser Patt­si­tua­tion gibt es keinen einfa­chen Weg. Große Teile der städ­ti­schen Öffent­lich­keit sympa­thi­sie­ren mit denen, die sie ernäh­ren. Die Anwen­dung von Gewalt – zumeist unter dem Vorwand, den Lock­down durch­zu­set­zen – wurde versucht, ist aber geschei­tert. Wird Modis Regie­rung riskie­ren, mehr Gewalt anzu­wen­den? Wenn sie es tut, wird die Öffent­lich­keit es tole­rie­ren? Leicht­fer­tige Antwor­ten auf diese Fragen verbie­ten sich.

 

Eine wich­tige Studie der Society for Social and Econo­mic Rese­arch von Vikas Rawal und Vais­hali Bansal zeigt, dass die indi­sche Land­wirt­schaft von massi­ver wirt­schaft­li­cher Ungleich­heit geplagt ist. Mehr als die Hälfte der Haus­halte im länd­li­chen Indien sind land­los, während einige wenige Groß­grund­be­sit­zer nicht nur die größte Anbau­flä­che, sondern auch das beste Land besit­zen. Land­lo­sig­keit und unglei­cher Zugang zu Land haben in den letz­ten Jahr­zehn­ten zuge­nom­men, weisen Rawal und Bansal nach, und unsi­chere Pacht­ver­hält­nisse sind nur noch häufi­ger gewor­den. Das indi­sche Land, so zeigen sie, «ist gekenn­zeich­net durch riesige Massen von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen, die in bitte­rer Armut leben, keinen Zugang zu ange­mes­se­ner Bildung und Gesund­heits­für­sorge haben und denen die Grund­aus­stat­tung für ein menschen­wür­di­ges Leben vorent­hal­ten wird». Das ist der Grund, warum sie protes­tie­ren. Deshalb, so argu­men­tie­ren Rawal und Bansal, sind Land­re­for­men eine Vorbe­din­gung für ihre Freiheit.

Aswath (Young Socia­list Artists, Indien), Marching with the Peasants, 2021.

 

Die Fotos in diesem News­let­ter sind dem Dossier entnom­men. Sie stam­men von Vikas Thakur, Mitglied der Kunst­ab­tei­lung des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch. Über seine Bilder schreibt Vikas: «Es sind Porträts von Menschen mit Namen, Kämp­fen und Bestre­bun­gen, einer Lebens­weise. Es sind Porträts einer Klasse. Es sind Porträts eines histo­ri­schen Protests.»

 

Herz­lich, 

 

Vijay

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.