Für Argentiniens Kleinbäuer*innen ist das Land berechenbar, aber die Märkte nicht.
Der dreiundzwanzigste Newsletter (2023).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Vor dreißig Jahren wurde in meinem Wirtschaftslehrbuch in Indien im Abschnitt über den internationalen Handel auf Argentinien verwiesen. Dem Lehrbuch zufolge wäre es für Argentinien besser, sich auf die Produktion und den Export von Rindfleisch zu konzentrieren, während Deutschland seine Ressourcen auf die Herstellung von Elektronik konzentrieren sollte. Dieses Beispiel wurde zur Veranschaulichung des Grundsatzes des «absoluten Vorteils» von Adam Smith herangezogen – Länder sollten sich auf das konzentrieren, was sie «am besten» können, anstatt ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Es erschien mir unverschämt, dass Entwicklungsländer wie Argentinien nur Rohstoffe produzieren sollten, während reiche Länder wie Deutschland die technologische Entwicklung vorantrieben.
Damals war Argentinien noch ein wichtiger Produzent und Exporteur von Rindfleisch. Meine Mitschüler*innen und ich hatten keinen Zugang zu José Hernández’ epischem Gedicht «Martín Fierro» über die Gauchos der Pampa, die Cowboys der argentinischen Tiefebene, aber wir kannten die wilden Compadritos («Straßenschläger») und Cuchilleros («Messerkämpfer») aus den Kurzgeschichten von Jorge Luis Borges. Unter sie mischten sich auch Cowboys, Einzelgänger, die auf ihren Pferden saßen und im argentinischen Flachland ihr Vieh für den Markt zusammentrieben. Heute bestimmen diese Reiter nicht mehr die ländliche Gesellschaft Argentiniens. Heute wird der ländliche Raum von den Kleinbäuer*innen und dem landwirtschaftlichen Proletariat bestimmt, die für die großen Agrarunternehmen arbeiten und die Protagonist*innen der Geschicke des Landes sind.
Im Jahr 2021 stellte die Welthandelsorganisation (WTO) fest, dass Argentinien nach wie vor «ein wichtiger Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse» ist, die zu diesem Zeitpunkt fast zwei Drittel der Ausfuhren des Landes ausmachten (im April 2023 machten landwirtschaftliche Erzeugnisse 56,4 % der Ausfuhren des Landes aus). Die wichtigsten Produkte sind Getreide (Weizen, Mais), Soja und Rindfleisch. Die argentinische Agrarindustrie ist mit Begeisterung in den globalen Sojamarkt eingestiegen und hat sogar ein «Sojadollar»-Programm entwickelt, um die Ausfuhren zu steigern, damit das Land Dollars zum Ausgleich seiner schweren Devisenkrisen verdienen kann.
Argentinien wurde drei Jahre in Folge von Dürre heimgesucht (verschärft durch die Klimakatastrophe) und wurde unter Druck gesetzt von den zunehmenden Sojabohnenanbauflächen der anderen vier führenden Produzenten (Brasilien, USA, China und Indien). Die Sojaproduktion hat die argentinische Landschaft verändert, nimmt mehr als die Hälfte der Ackerflächen des Landes in Anspruch und konzentriert die Produktion in den Händen der «unsichtbaren Riesen», wie der Wirtschaftswissenschaftler Claudio Scaletta sie nennt (Konzerne wie Cargill, Archer Daniels Midland Argentina, Bunge Argentina, Dreyfus und Noble Argentina). Es laufen keine Rinder mehr durch die Pampa, heute wiegen sich Sojabohnenblüten im Winde.
Unser jüngstes Dossier, Whose Land Is It and What Is It For? An Unfinished Debate about Land Access in Argentina («Wem gehört der Boden und wofür ist er da? Eine unfertige Debatte über Landzugang in Argentinien» Juni 2023), untersucht einige der verblüffendsten Widersprüche, die Argentiniens ländliche Landschaft heimsuchen. Die offensichtlichste Ungereimtheit besteht darin, dass Argentinien mehr als genug Ackerland hat, um seine 46 Millionen Einwohner*innen zu ernähren, und dennoch wächst der Hunger im Lande. Der größte Teil der Lebensmittel, die die Bevölkerung konsumiert, wird nicht von den großen Agrarkonzernen, sondern von bäuerlichen Familienbetrieben erzeugt, die jedoch verschwinden, da die Familien nicht mehr in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und in großer Zahl vom Land in die Städte ziehen. Die zunehmende Landlosigkeit und der Hunger haben zu einer sozialen Realität geführt, die neue Formen des politischen Protests hervorgebracht hat: Verdurazos («Gemüseproteste») und Panazos («Brotproteste»), die oft von sozialen Organisationen auf dem Lande angeführt werden, wehren sich gegen die absurde Tatsache, dass diejenigen, die den Boden bewirtschaften, seine Ernte nicht essen können.
Vor einigen Jahren verbrachte ich einige Zeit mit Kleinbäuer*innen außerhalb von La Plata. Wildo Eizaguirre von der Federación Rural erzählte mir, dass die größte Belastung für Bauern und Bäuerinnen wie ihn die Pacht ist. Antonio García sowie Else und Mable Yanaje bestätigten, dass die Pacht für sie eine Belastung darstellt. Die Kosten für das Land sind unerschwinglich und die Besitzverhältnisse auf dem Land unsicher. Die Pacht hält Bäuer*innen davon ab, den Betrieb zu verbessern oder sogar Geräte (wie Traktoren) zu kaufen, um ihre Arbeit produktiver zu machen. Diesen Landwirt*innen gehören weder die Felder noch haben sie die Kontrolle über die Wege zum Markt. Makler*innen kaufen ihre Erzeugnisse zu den niedrigsten Preisen auf und bringen sie dann zur Verarbeitung oder zum direkten Verkauf an Supermärkte. Das Geld wird anderswo verdient – nicht auf den Feldern.
Der Kampf von Menschen wie Wildo und Mable hat dazu geführt, dass die argentinische Regierung wichtige Gesetze wie das Gesetz zur historischen Wiedergutmachung für landwirtschaftliche Familienbetriebe von 2014 und das Notstandsgesetz für indigene Gebiete von 2006 (das 2009, 2013, 2017 und 2021 wiederholt verlängert wurde) verabschiedet hat. Das Gesetz zur historischen Wiedergutmachung für landwirtschaftliche Familienbetriebe zielt darauf ab, «ein neues ländliches Leben in Argentinien aufzubauen» und den «Zugang zu Land für die familiäre, bäuerliche und indigene Landwirtschaftsbetriebe zu garantieren, da Land ein soziales Gut ist». Das sind starke Worte, aber angesichts der Macht der Agrarindustrie werden sie nicht oft in Taten umgesetzt. Das Gesetz alleine entscheidet den Klassenkampf nicht. In Brasilien beispielsweise beruft sich die Bewegung der Landlosen Arbeiter*innen (MST) auf die brasilianische Verfassung von 1988, um ihre Landbesetzungen rechtlich zu begründen. Und dennoch versuchen die brasilianischen Agrarindustriellen und ihre politischen Verbündeten gerade mit einer parlamentarischen Untersuchungskommission die MST-Besetzungen zu kriminalisieren, was der MST-Führer João Paulo Rodrigues zu Recht als Chance für einen öffentlichen Dialog über Agrarreform, Ernährungssouveränität und soziale Gleichheit betrachtet.
Im Jahr 2020 veröffentlichten die International Land Coalition und Oxfam einen wichtigen Bericht mit dem Titel Uneven Ground. Land Inequality at the Heart of Unequal Societies («Unebener Boden: Landungleichheit im Kern von Ungleichen Gesellschaften»). In dem Bericht wird festgestellt, dass es weltweit 608 Millionen landwirtschaftliche Betriebe gibt, von denen die meisten Familienbetriebe sind (2,5 Milliarden Menschen sind in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft tätig). Die 1 % der größten Betriebe kontrollieren jedoch mehr als 70 % der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche, während 80 % der Landwirtschaftsbetriebe Kleinbäuer*innen sind, die weniger als zwei Hektar bewirtschaften. Die Landkonzentration, so zeigt der Bericht, hat seit 1980 dramatisch zugenommen. Laut einer Studie von Luis Bauluz, Yajna Govind und Filip Novokmet verfügen in Lateinamerika die obersten 10 % der Landbesitzer*innen über bis zu 75 % des landwirtschaftlichen Bodenwerts, während die unteren 50 % weniger als 2 % besitzen. Wie in dem Dossier hervorgehoben wird, ist das Gefälle in Argentinien besonders groß: 80 % der landwirtschaftlichen Familienbetriebe (die als Kleinbäuer*innen bezeichnet werden) beanspruchen etwa 11 % der abgegrenzten landwirtschaftlichen Fläche, während die Großgrundbesitzer*innen, die 0,3 % der Landwirtschaftsbetriebe ausmachen, fast doppelt so viel Land besitzen. Die Tendenz zur Landkonzentration wird durch die Macht multinationaler Agrarkonzerne und die zunehmende Nutzung von Agrarland als Finanzanlage durch Private-Equity-Firmen und Vermögensverwalter beschleunigt (wie Madeleine Fairbairn in ihrem Buch Fields of Gold: Financing the Global Land Rush, 2020, argumentiert). Auf dem afrikanischen Kontinent werden die Bäuer*innen durch den «Naturschutz» und das Wachstum des Bergbausektors von ihrem Land verdrängt (wie wir in Xolobeni in Südafrika dokumentiert haben).
Im vergangenen Jahrhundert haben die Bauernbewegungen die Forderung nach einer «Agrarreform» als Gegenmittel zur kapitalistischen Verwüstung des ländlichen Raums erhoben. Im Vorwort zu unserem Dossier schreibt Manuel Bertoldi von der Federación Rural: «Wir müssen anfangen, ohne Zögern über Agrarreformen, Ernährungssouveränität, Agrarökologie und über den Sozialismus als alternatives System zu sprechen, da diese Ideen erst durch den Sozialismus lebensfähig werden».
Der brasilianische Dichter João Cabral de Melo Neto schrieb mit viel Gefühl über das einzige Stück Land, das den Bäuer*innen zusteht: ihr Grab. Im Jahr 1955 verfasste er das Gedicht «Morte e Vida Severina» («Tod und Leben von Severino»), in dem er schreibt,
– Das Grab, in dem du liegst
Wird von Hand vermessen,
Das beste Geschäft, das du gemacht hast
Im ganzen Land.
– Du passt gut hinein,
Nicht zu lang und nicht zu tief,
Der Teil des Latifundiums,
Den du behalten wirst.
– Das Grab ist weder zu groß,
Noch ist es zu breit,
Es ist das Land, von dem du wolltest,
dass sie es verteilen.
– Es ist ein großes Grab
Für einen so schmächtigen Körper,
Aber du wirst dich darin wohler fühlen,
Als du es je warst.
– Du bist ein magerer Leichnam
Für so ein großes Grab,
Doch wenigstens da unten
Wirst du viel Platz haben.
Landwirt*innen und Bäuer*innen auf der ganzen Welt wissen, dass ihr Kampf existenziell ist, ein Gefühl, das die indischen Landwirt*innen und Bäuer*innen während ihres andauernden Kampfes gegen die Privatisierung des Marktes für landwirtschaftliche Erzeugnisse begleitet hat. Sie wollen Land zum Leben, nicht nur für ihre Gräber.
Herzlichst,
Vijay