Jede Region der Welt ist am stärksten betroffen.
Der dreiundzwanzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Jeden Monat veröffentlicht die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) einen monatlichen Lebensmittelpreisindex. Die Veröffentlichung am 3. Juni zeigte, dass die Lebensmittelpreise um 40% gestiegen sind, der größte Anstieg seit 2011. Die Auswirkungen dieses Preisanstiegs bei Nahrungsmitteln werden die Entwicklungsländer, von welchen die meisten wichtige Importeure von Grundnahrungsmitteln sind, schwer treffen.
Die Preise steigen aus verschiedenen Gründen, wobei der aktuelle Anstieg vor allem durch den Zusammenbruch beträchtlicher Teile der Weltwirtschaft während der Pandemie ausgelöst wurde. Allgemeine Inflationen aufgrund von Lockdown-bedingter aufgestauter Nachfrage, Lieferengpässen und Ölpreiserhöhungen drohen sowohl den reicheren Staaten, die aufgrund der Macht der wohlhabenden Anleihegläubiger nur wenige Instrumente zur Inflationsbekämpfung haben, sowie auch den ärmeren Staaten, die tief in einer katastrophalen Schuldenkrise stecken.
Die steigenden Lebensmittelpreise kommen zu einer Zeit, in der die Arbeitslosenquote in vielen Teilen der Welt in die Höhe geschnellt ist. Am 2. Juni veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ihren jährlichen Bericht World Employment and Social Outlook: Trends 2021, der wie erwartet zeigt, dass der pandemiebedingte Wirtschaftseinbruch den Verlust von Hunderten Millionen Arbeitsplätzen und Arbeitsstunden bedeutet. Die ILO zeigt, dass dieser Zusammenbruch – beschleunigt durch COVID-19 – zur «Verschärfung langjähriger struktureller Herausforderungen und Ungleichheiten in der Arbeitswelt geführt hat, wodurch die jüngsten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, der Gleichstellung der Geschlechter und der menschenwürdigen Arbeit untergraben werden».
Die Auswirkungen des Zusammenbruchs sind «höchst ungleich» und verschärfen das, was wir die «drei Apartheiden unserer Zeit (Geld, Medizin und Nahrung)» nennen. Ins Stocken geratene Impfprogramme in Ländern wie Indien – das 60 % der weltweiten Impfstoffe herstellt – und schwerwiegende Schuldenprobleme für Länder wie Argentinien – das wohlhabende Anleihegläubiger nicht dazu bringen kann, eine tilgungsfreie Zeit für den Schuldendienst zu gewähren – verhindern eine Erholung und fördern das kaskadenartige Phänomen von Hunger und Verzweiflung.
Die Redakteure von New Frame (Johannesburg, Südafrika) waren betroffen von der Erkenntnis, dass die Jugendarbeitslosigkeit in ihrem Land 74,7 % erreicht hat (die Gesamtarbeitslosigkeit liegt bei 42,3 %, was ebenfalls eine erschütternde Zahl ist). Immer mehr Menschen kämpfen ums Überleben. Die Worte des New Frame-Leitartikels sind es wert, hier zitiert zu werden:
Millionen von Menschen ertragen ein blockiertes Leben, verbringen die Zeit im Stillstand, der von immer enger werdenden Kreisen der Scham, des Versagens, der Angst und der Verzweiflung geprägt ist. Einige haben angefangen, den Großteil des Tages zu schlafen. Einige wenden sich transaktionalen Formen der Religion zu, bieten Unterwerfung in der Hoffnung auf Belohnung. Manche erliegen der Versuchung, ihren Schmerz mit billigem Heroin zu betäuben. Manche nehmen sich, was sie können, von wem sie können und wie sie können. Einige, oft unterstützt durch die Segen von Familie, Freunden und Gemeinschaft, schaffen es, genug Hoffnung zu bewahren, um weiterzumachen.
Die Last, die auf jenen Menschen und ihre Familien ruht, die kolossale Verschwendung ihrer Gaben und Möglichkeiten, wird weder von unserem Staat, noch von den Menschen, die ihn regieren, noch von unserer elitären Öffentlichkeit als Krise wahrgenommen.
Leben wird zum Abfall, Stimmen zu Lärm statt Sprache, Proteste zu Verkehrsproblemen oder Verbrechen. Den Menschen wird gesagt, ihr Leiden sei eine persönliches Versagen, ihre Versuche, mit ihrer Situation fertig zu werden, eine Folge moralischen Verkommens. Sie können vom Staat während eines Protests oder einer Räumung ohne Konsequenzen ermordet werden.
Nichts davon wird den Leser*innen in Südamerika oder in Südasien, in Papua-Neuguinea oder in Äquatorialguinea fremd sein.
Der ILO-Bericht zeigt, dass die «am schlimmsten betroffenen Regionen in der ersten Hälfte des Jahres 2021 Lateinamerika und die Karibik sowie Europa und Zentralasien» waren. Das ist eine dieser Phrasen – «am schlimmsten betroffene Regionen» –, die wenig aussagen. Jede Region der Welt ist die am schlimmsten betroffene, jede Region ist voller Leid.
Nichtsdestotrotz sind Lateinamerika und die Karibik am stärksten von COVID-19 betroffen, mit 8,4 % der Weltbevölkerung und 27,8 % der Todesfälle aufgrund der Pandemie (angesichts des Zusammenbruchs der Messungen in Indien ist dieser unglückliche erste Platz nicht verlässlich zuzuordnen). In Lateinamerika und der Karibik steigen die COVID-19-Infektionen weiter, die Zahl der Todesfälle überschritt Ende Mai 2021 eine Million. Als Folge der langfristigen Verwundbarkeiten in der Region und der erratischen Lockdownbedingungen sind die Arbeitslosenquoten hoch und der Auslandsschuldendienst im Verhältnis zum Export von Waren und Dienstleistungen ist lähmend (über 59 %).
Ein zentrales Problem in den Ländern Lateinamerikas ist die Zunahme der Armut in der Arbeiterklasse, unter Beschäftigten sowohl als auch unter den Erwerbslosen. Die Erwerbstätigen – von denen viele weniger Stunden als früher und unter prekären Bedingungen arbeiten – sind ebenso von Hunger und Unwürdigkeit bedroht wie diejenigen, die in die Reihen der fast dauerhaft Erwerbslosen gerutscht sind. Politische Maßnahemn zur Schaffung von Beschäftigung «müssen im Zentrum der wirtschaftlichen Erholung stehen», sagte der Direktor der ILO für Lateinamerika und die Karibik, Vinícius Pinheiro, obwohl die Klauen der internationalen Finanzwelt es den Regierungen schwer macht, beschäftigungsfördernde Maßnahmen zu ergreifen.
Genau aus diesem Grund hat Tricontinental: Institute for Social Research – im Dialog mit einem Netzwerk gleichgesinnter Forschungsinstitute – begonnen, einen «Plan für die 7,9 Milliarden» zu entwerfen, unter der Leitung der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas – Vertrag über den Handel der Völker (ALBA-TCP). Wir haben einen Fünf-Punkte-Plan entworfen, von dem wir hoffen, dass er Diskussionen und Debatten anregt:
- Verbesserung des Niveaus von sozialen Gütern und Dienstleistungen wie öffentliche Gesundheit, öffentliche Bildung und öffentliche Freizeit, um den Druck auf die Löhne zu verringern.
- Stärkung der Gewerkschaften und der Gewerkschaftskultur, damit die Menschen sich nicht länger als verzweifelte, isolierte Individuen sehen, die auf eigene Faust versuchen, Arbeit zu finden oder ihre Arbeitsplätze zu verbessern.
- Schaffung öffentlich finanzierter Beschäftigungszentren, um Erwerbslose bei der Arbeitssuche zu unterstützen. Diese Zentren sollten in einem Netzwerk der Gewerkschaft der Arbeitslosen verankert sein.
- Schaffung robuster öffentlich finanzierter Systeme der Sozialhilfe ohne Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitsanforderungen.
- Einleitung eines Prozess zur Verkürzung der Arbeitswoche, mit existenzsicherndem Lohn für alle Beschäftigten.
Wir freuen uns über jeden Beitrag zu diesen Punkten, die Teil eines integrierten Plans sein werden, der auch einen Vorschlag zur Aufbringung der finanziellen Mittel dafür enthält. Wenn ihr einen Beitrag leisten möchtet, sendet diesen bitte per E‑Mail an plan@thetricontinental.org.
Tricontinental: Institute for Social Research ist ein dezentraler Verbund von Forschungszentren und Projekten auf den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika. Eines dieser Zentren befindet sich in Buenos Aires, wo sich das Instituto Tricontinental de Investigación Social intensiv mit der Krise in Lateinamerika und der Karibik, aber auch mit Wegen aus dieser Krise befasst. Ein Bericht befasst sich zum Beispiel ausführlich mit den prekär Beschäftigten Argentiniens, den ausgegrenzten Arbeiter*innen, deren Arbeit eigentlich die Gesellschaft zusammenhält. In diesem Bericht stellen die Forscher fest, dass die Bewegung der ausgegrenzten Arbeiter*innen (MTE) nicht nur den Sektor mit Kämpfen gegen ihre schrecklichen Arbeitsbedingungen anführt, sondern dass die Arbeiter*innen einen integrierten Plan für den Wiederaufbau der argentinischen Wirtschaft haben. Ein weiterer Bericht des Forschungskollektivs zur Arbeit Argentinien (Colectivo de trabajo Argentina) befasst sich mit dem Anstieg der Ungleichheit zwischen den reicheren und ärmeren Nationen sowie innerhalb der ärmeren Nationen. Die Forscher*innen erarbeiten eine robuste Einschätzung der sozialen Reproduktion von Armut mit besonderem Augenmerk auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, um die öffentlichen Debatten über den Ausweg aus der Krise der Pandemie, aber auch aus der Krise des Kapitalismus anzureichern.
Im Jahr 2019 hat das Team in Buenos Aires das Observatorium der Konjunktion in Lateinamerika und der Karibik (OBSAL) gegründet, um eine Analyse der Strategien und Politiken zu erstellen, die die Region in Schwierigkeiten bringen. Die OBSAL-Berichte werden alle zwei Monate veröffentlicht. Im OBSAL-Report Nr. 12 (Mai 2021) schlagen die Forscher*innen beispielsweise einen Bogen von den massiven Protesten und deren Niederschlagung in Kolumbien bis zu den Wahlen für eine neue verfassungsgebende Versammlung in Chile. Es gibt keinen bessere Adresse, um sich über die Dichte der Ereignisse einen Eindruck zu verschaffen, die – der Analyse folgend – die strukturellen Tendenzen offenbaren, die auf dem Kontinent am Werk sind.
Während ihrer Präsentation vor dem Hochrangigen Ausschuss für Süd-Süd-Kooperation der UNO am 2. Juni sagte Alicia Bárcena, Exekutivsekretärin der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), dass der Kontinent die Armut beseitigen, sich in Richtung Gleichberechtigung bewegen und den Prozess der regionalen Integration neu beleben müsse. Das ist eine korrekte Einschätzung, die allerdings aufgrund der Einmischung der Vereinigten Staaten und der reichen Anleihegläubiger nicht umgesetzt werden kann, wobei erstere versuchen, die Länder Lateinamerikas gegeneinander aufzubringen und letztere eine gesunde Neuverhandlung der regionalen Schulden verhindern. Unsere Forscher*innen sammeln nicht nur die Beweise für die Probleme, sondern versuchen auch, Lösungselemente für die strukturellen Krisen zusammenzustellen. Unsere Länder brauchen einen langfristigen Plan, um aus diesem neoliberalen Albtraum herauszukommen. Helft uns, eine solche Agenda zu entwickeln.
Herzlichst,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.