Jede Region der Welt ist am stärksten betroffen.

Der dreiundzwanzigste Newsletter (2021).

Faisal Laibi Sahi (Irak), Cafe 2, 2014.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Jeden Monat veröf­fent­licht die Ernäh­rungs- und Land­wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen (FAO) einen monat­li­chen Lebens­mit­tel­preis­in­dex. Die Veröf­fent­li­chung am 3. Juni zeigte, dass die Lebens­mit­tel­preise um 40% gestie­gen sind, der größte Anstieg seit 2011. Die Auswir­kun­gen dieses Preis­an­stiegs bei Nahrungs­mit­teln werden die Entwick­lungs­län­der, von welchen die meis­ten wich­tige Impor­teure von Grund­nah­rungs­mit­teln sind, schwer treffen.

 

Die Preise stei­gen aus verschie­de­nen Grün­den, wobei der aktu­elle Anstieg vor allem durch den Zusam­men­bruch beträcht­li­cher Teile der Welt­wirt­schaft während der Pande­mie ausge­löst wurde. Allge­meine Infla­tio­nen aufgrund von Lock­down-beding­ter aufge­stau­ter Nach­frage, Liefer­eng­päs­sen und Ölpreis­er­hö­hun­gen drohen sowohl den reiche­ren Staa­ten, die aufgrund der Macht der wohl­ha­ben­den Anlei­he­gläu­bi­ger nur wenige Instru­mente zur Infla­ti­ons­be­kämp­fung haben, sowie auch den ärme­ren Staa­ten, die tief in einer kata­stro­pha­len Schul­den­krise stecken.

 

Die stei­gen­den Lebens­mit­tel­preise kommen zu einer Zeit, in der die Arbeits­lo­sen­quote in vielen Teilen der Welt in die Höhe geschnellt ist. Am 2. Juni veröf­fent­lichte die Inter­na­tio­nale Arbeits­or­ga­ni­sa­tion (ILO) ihren jähr­li­chen Bericht World Employ­ment and Social Outlook: Trends 2021, der wie erwar­tet zeigt, dass der pande­mie­be­dingte Wirt­schafts­ein­bruch den Verlust von Hunder­ten Millio­nen Arbeits­plät­zen und Arbeits­stun­den bedeu­tet. Die ILO zeigt, dass dieser Zusam­men­bruch – beschleu­nigt durch COVID-19 – zur «Verschär­fung lang­jäh­ri­ger struk­tu­rel­ler Heraus­for­de­run­gen und Ungleich­hei­ten in der Arbeits­welt geführt hat, wodurch die jüngs­ten Fort­schritte bei der Armuts­be­kämp­fung, der Gleich­stel­lung der Geschlech­ter und der menschen­wür­di­gen Arbeit unter­gra­ben werden».

 

Die Auswir­kun­gen des Zusam­men­bruchs sind «höchst ungleich» und verschär­fen das, was wir die «drei Apart­hei­den unse­rer Zeit (Geld, Medi­zin und Nahrung)» nennen. Ins Stocken gera­tene Impf­pro­gramme in Ländern wie Indien – das 60 % der welt­wei­ten Impf­stoffe herstellt – und schwer­wie­gende Schul­den­pro­bleme für Länder wie Argen­ti­nien – das wohl­ha­bende Anlei­he­gläu­bi­ger nicht dazu brin­gen kann, eine tilgungs­freie Zeit für den Schul­den­dienst zu gewäh­ren – verhin­dern eine Erho­lung und fördern das kaska­den­ar­tige Phäno­men von Hunger und Verzweiflung.

Wayne Cahill Barker (Südafrika), In God We Trust, 2018.

Die Redak­teure von New Frame (Johan­nes­burg, Südafrika) waren betrof­fen von der Erkennt­nis, dass die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in ihrem Land 74,7 % erreicht hat (die Gesamt­ar­beits­lo­sig­keit liegt bei 42,3 %, was eben­falls eine erschüt­ternde Zahl ist). Immer mehr Menschen kämp­fen ums Über­le­ben. Die Worte des New Frame-Leit­ar­ti­kels sind es wert, hier zitiert zu werden:

 

Millio­nen von Menschen ertra­gen ein blockier­tes Leben, verbrin­gen die Zeit im Still­stand, der von immer enger werden­den Krei­sen der Scham, des Versa­gens, der Angst und der Verzweif­lung geprägt ist. Einige haben ange­fan­gen, den Groß­teil des Tages zu schla­fen. Einige wenden sich trans­ak­tio­na­len Formen der Reli­gion zu, bieten Unter­wer­fung in der Hoff­nung auf Beloh­nung. Manche erlie­gen der Versu­chung, ihren Schmerz mit billi­gem Heroin zu betäu­ben. Manche nehmen sich, was sie können, von wem sie können und wie sie können. Einige, oft unter­stützt durch die Segen von Fami­lie, Freun­den und Gemein­schaft, schaf­fen es, genug Hoff­nung zu bewah­ren, um weiterzumachen.

 

Die Last, die auf jenen Menschen und ihre Fami­lien ruht, die kolos­sale Verschwen­dung ihrer Gaben und Möglich­kei­ten, wird weder von unse­rem Staat, noch von den Menschen, die ihn regie­ren, noch von unse­rer elitä­ren Öffent­lich­keit als Krise wahrgenommen.

 

Leben wird zum Abfall, Stim­men zu Lärm statt Spra­che, Proteste zu Verkehrs­pro­ble­men oder Verbre­chen. Den Menschen wird gesagt, ihr Leiden sei eine persön­li­ches Versa­gen, ihre Versu­che, mit ihrer Situa­tion fertig zu werden, eine Folge mora­li­schen Verkom­mens. Sie können vom Staat während eines Protests oder einer Räumung ohne Konse­quen­zen ermor­det werden.

 

Nichts davon wird den Leser*innen in Südame­rika oder in Südasien, in Papua-Neugui­nea oder in Äqua­to­ri­al­gui­nea fremd sein.

Xul Solar (Argen­ti­nien), Casas en alto, 1922.

Der ILO-Bericht zeigt, dass die «am schlimms­ten betrof­fe­nen Regio­nen in der ersten Hälfte des Jahres 2021 Latein­ame­rika und die Kari­bik sowie Europa und Zentral­asien» waren. Das ist eine dieser Phra­sen – «am schlimms­ten betrof­fene Regio­nen» –, die wenig aussa­gen. Jede Region der Welt ist die am schlimms­ten betrof­fene, jede Region ist voller Leid.

 

Nichts­des­to­trotz sind Latein­ame­rika und die Kari­bik am stärks­ten von COVID-19 betrof­fen, mit 8,4 % der Welt­be­völ­ke­rung und 27,8 % der Todes­fälle aufgrund der Pande­mie (ange­sichts des Zusam­men­bruchs der Messun­gen in Indien ist dieser unglück­li­che erste Platz nicht verläss­lich zuzu­ord­nen). In Latein­ame­rika und der Kari­bik stei­gen die COVID-19-Infek­tio­nen weiter, die Zahl der Todes­fälle über­schritt Ende Mai 2021 eine Million. Als Folge der lang­fris­ti­gen Verwund­bar­kei­ten in der Region und der erra­ti­schen Lock­down­be­din­gun­gen sind die Arbeits­lo­sen­quo­ten hoch und der Auslands­schul­den­dienst im Verhält­nis zum Export von Waren und Dienst­leis­tun­gen ist lähmend (über 59 %).

 

Ein zentra­les Problem in den Ländern Latein­ame­ri­kas ist die Zunahme der Armut in der Arbei­ter­klasse, unter Beschäf­tig­ten sowohl als auch unter den Erwerbs­lo­sen. Die Erwerbs­tä­ti­gen – von denen viele weni­ger Stun­den als früher und unter prekä­ren Bedin­gun­gen arbei­ten – sind ebenso von Hunger und Unwür­dig­keit bedroht wie dieje­ni­gen, die in die Reihen der fast dauer­haft Erwerbs­lo­sen gerutscht sind. Poli­ti­sche Maßna­hemn zur Schaf­fung von Beschäf­ti­gung «müssen im Zentrum der wirt­schaft­li­chen Erho­lung stehen», sagte der Direk­tor der ILO für Latein­ame­rika und die Kari­bik, Viní­cius Pinheiro, obwohl die Klauen der inter­na­tio­na­len Finanz­welt es den Regie­run­gen schwer macht, beschäf­ti­gungs­för­dernde Maßnah­men zu ergreifen.

Anthony Okello (Kenia), Order from Above, 2012.

Genau aus diesem Grund hat Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch – im Dialog mit einem Netz­werk gleich­ge­sinn­ter Forschungs­in­sti­tute – begon­nen, einen «Plan für die 7,9 Milli­ar­den» zu entwer­fen, unter der Leitung der Boli­va­ri­schen Alli­anz für die Völker Unse­res Ameri­kas – Vertrag über den Handel der Völker (ALBA-TCP). Wir haben einen Fünf-Punkte-Plan entwor­fen, von dem wir hoffen, dass er Diskus­sio­nen und Debat­ten anregt:

 

      1. Verbes­se­rung des Niveaus von sozia­len Gütern und Dienst­leis­tun­gen wie öffent­li­che Gesund­heit, öffent­li­che Bildung und öffent­li­che Frei­zeit, um den Druck auf die Löhne zu verringern.
      2. Stär­kung der Gewerk­schaf­ten und der Gewerk­schafts­kul­tur, damit die Menschen sich nicht länger als verzwei­felte, isolierte Indi­vi­duen sehen, die auf eigene Faust versu­chen, Arbeit zu finden oder ihre Arbeits­plätze zu verbessern.
      3. Schaf­fung öffent­lich finan­zier­ter Beschäf­ti­gungs­zen­tren, um Erwerbs­lose bei der Arbeits­su­che zu unter­stüt­zen. Diese Zentren soll­ten in einem Netz­werk der Gewerk­schaft der Arbeits­lo­sen veran­kert sein.
      4. Schaf­fung robus­ter öffent­lich finan­zier­ter Systeme der Sozi­al­hilfe ohne Bedürf­tig­keits­prü­fung und Arbeitsanforderungen.
      5. Einlei­tung eines Prozess zur Verkür­zung der Arbeits­wo­che, mit exis­tenz­si­chern­dem Lohn für alle Beschäftigten.

 

Wir freuen uns über jeden Beitrag zu diesen Punk­ten, die Teil eines inte­grier­ten Plans sein werden, der auch einen Vorschlag zur Aufbrin­gung der finan­zi­el­len Mittel dafür enthält. Wenn ihr einen Beitrag leis­ten möch­tet, sendet diesen bitte per E‑Mail an plan@thetricontinental.org.

Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch ist ein dezen­tra­ler Verbund von Forschungs­zen­tren und Projek­ten auf den Konti­nen­ten Afrika, Asien und Latein­ame­rika. Eines dieser Zentren befin­det sich in Buenos Aires, wo sich das Insti­tuto Tricon­ti­nen­tal de Inves­ti­ga­ción Social inten­siv mit der Krise in Latein­ame­rika und der Kari­bik, aber auch mit Wegen aus dieser Krise befasst. Ein Bericht befasst sich zum Beispiel ausführ­lich mit den prekär Beschäf­tig­ten Argen­ti­ni­ens, den ausge­grenz­ten Arbeiter*innen, deren Arbeit eigent­lich die Gesell­schaft zusam­men­hält. In diesem Bericht stel­len die Forscher fest, dass die Bewe­gung der ausge­grenz­ten Arbeiter*innen (MTE) nicht nur den Sektor mit Kämp­fen gegen ihre schreck­li­chen Arbeits­be­din­gun­gen anführt, sondern dass die Arbeiter*innen einen inte­grier­ten Plan für den Wieder­auf­bau der argen­ti­ni­schen Wirt­schaft haben. Ein weite­rer Bericht des Forschungs­kol­lek­tivs zur Arbeit Argen­ti­nien (Colec­tivo de trabajo Argen­tina) befasst sich mit dem Anstieg der Ungleich­heit zwischen den reiche­ren und ärme­ren Natio­nen sowie inner­halb der ärme­ren Natio­nen. Die Forscher*innen erar­bei­ten eine robuste Einschät­zung der sozia­len Repro­duk­tion von Armut mit beson­de­rem Augen­merk auf die geschlechts­spe­zi­fi­sche Arbeits­tei­lung, um die öffent­li­chen Debat­ten über den Ausweg aus der Krise der Pande­mie, aber auch aus der Krise des Kapi­ta­lis­mus anzureichern.

 

Im Jahr 2019 hat das Team in Buenos Aires das Obser­va­to­rium der Konjunk­tion in Latein­ame­rika und der Kari­bik (OBSAL) gegrün­det, um eine Analyse der Stra­te­gien und Poli­ti­ken zu erstel­len, die die Region in Schwie­rig­kei­ten brin­gen. Die OBSAL-Berichte werden alle zwei Monate veröf­fent­licht. Im OBSAL-Report Nr. 12 (Mai 2021) schla­gen die Forscher*innen beispiels­weise einen Bogen von den massi­ven Protes­ten und deren Nieder­schla­gung in Kolum­bien bis zu den Wahlen für eine neue verfas­sungs­ge­bende Versamm­lung in Chile. Es gibt keinen bessere Adresse, um sich über die Dichte der Ereig­nisse einen Eindruck zu verschaf­fen, die – der Analyse folgend – die struk­tu­rel­len Tenden­zen offen­ba­ren, die auf dem Konti­nent am Werk sind.

Gerardo Chávez (Peru), La justi­cia en su laber­into, 2009.

Während ihrer Präsen­ta­tion vor dem Hoch­ran­gi­gen Ausschuss für Süd-Süd-Koope­ra­tion der UNO am 2. Juni sagte Alicia Bárcena, Exeku­tiv­se­kre­tä­rin der Wirt­schafts­kom­mis­sion für Latein­ame­rika und die Kari­bik (CEPAL), dass der Konti­nent die Armut besei­ti­gen, sich in Rich­tung Gleich­be­rech­ti­gung bewe­gen und den Prozess der regio­na­len Inte­gra­tion neu bele­ben müsse. Das ist eine korrekte Einschät­zung, die aller­dings aufgrund der Einmi­schung der Verei­nig­ten Staa­ten und der reichen Anlei­he­gläu­bi­ger nicht umge­setzt werden kann, wobei erstere versu­chen, die Länder Latein­ame­ri­kas gegen­ein­an­der aufzu­brin­gen und letz­tere eine gesunde Neuver­hand­lung der regio­na­len Schul­den verhin­dern. Unsere Forscher*innen sammeln nicht nur die Beweise für die Probleme, sondern versu­chen auch, Lösungs­ele­mente für die struk­tu­rel­len Krisen zusam­men­zu­stel­len. Unsere Länder brau­chen einen lang­fris­ti­gen Plan, um aus diesem neoli­be­ra­len Albtraum heraus­zu­kom­men. Helft uns, eine solche Agenda zu entwickeln.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.