Wir umarmen Bäume, weil Bäume keine Stimme haben.
Der zweiundzwanzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research,
Auf der Konferenz der Vereinten Nationen zum Thema menschliche Umwelt im Jahr 1972 beschlossen die Delegierten, einen jährlichen Weltumwelttag abzuhalten. 1974 forderte die UNO die Welt auf, diesen Tag am 5. Juni mit dem Slogan «Only One Earth» zu feiern; in diesem Jahr lautet das Thema «Ecosystem Restoration» (Wiederherstellung der Ökosysteme) und betont, wie das kapitalistische System die Fähigkeit der Erde, Leben zu erhalten, zerstört hat. Das Global Footprint Network gibt an, dass wir momentan nicht auf einer Erde leben, sondern auf 1,6 Erden. Wir leben auf mehr als einer Erde, weil wir unseren Planeten ausschlachten durch das Eindringen in und die Zerstörung von Biodiversität, die Verwüstung von Land und die Verschmutzung von Luft und Wasser.
Dieser Newsletter dreht sich um den Red Alert von Tricontinental: Institute for Social Research über die Umweltkatastrophe, die uns bevorsteht. Mehrere wichtige Wissenschaftler*innen haben dazu beigetragen. Der Red Alert kann nachfolgend gelesen und hier als PDF heruntergeladen werden; wir hoffen, dass ihr ihn weit verbreiten werdet.
Ein neuer Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), Making Peace with Nature (2021), hebt die «Schwere der dreifachen ökologischen Notlagen unserer Erde hervor: Klima, Verlust der biologischen Vielfalt und Verschmutzung». Diese drei «selbstverschuldeten planetarischen Krisen», so das UNEP, gefährden «das Wohlergehen heutiger und zukünftiger Generationen auf unannehmbare Weise». Dieser Red Alert, der zum Weltumwelttag (5. Juni) veröffentlicht wurde, wird zusammen mit der International Week of Anti-Imperialist Struggle herausgegeben.
Was ist das Ausmaß der Zerstörung?
Die Ökosysteme verschlechtern sich in alarmierendem Tempo. Der Bericht der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) aus dem Jahr 2019 liefert erschütternde Beispiele für das Ausmaß der Zerstörung:
- Eine Million der geschätzten acht Millionen Pflanzen- und Tierarten sind vom Aussterben bedroht.
- Der Mensch hat seit 1500 mindestens 680 Wirbeltierarten zum Aussterben gebracht, wobei der weltweite Bestand an Wirbeltierarten in den letzten 50 Jahren um 68 % zurückgegangen ist.
- Der Bestand an wilden Insekten ist um 50 % zurückgegangen.
- Mehr als 9 % aller domestizierten Säugetierrassen, die für Nahrung und Landwirtschaft genutzt werden, waren 2016 ausgestorben, weitere tausend Rassen sind derzeit vom Aussterben bedroht.
Die Schädigung von Ökosystemen wird durch den Kapitalismus beschleunigt, indem dieser die Verschmutzung und Verschwendung, die Abholzung, die Landnutzungsänderung und ‑ausbeutung sowie kohlenstoffgetriebene Energiesysteme vorantreibt. Der Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimawandel, Climate Change and Land (Januar 2020), stellt beispielsweise fest, dass nur noch 15 % der uns bekannten Feuchtgebiete übrig sind, während der Rest so weit zerstört wurde, dass eine Erholung nicht mehr möglich ist. Im Jahr 2020 dokumentierte das UNEP, dass die Korallenriffe von 2014 bis 2017 unter der längsten schweren Bleiche seit Beginn der Aufzeichnungen litten. Es wird prognostiziert, dass die Korallenriffe bei steigenden Temperaturen dramatisch zurückgehen werden; wenn die globale Erwärmung auf 1,5 °C ansteigt, werden nur 10–30 % aller Riffe erhalten bleiben, und wenn die globale Erwärmung auf 2 °C ansteigt, werden weniger als 1 % aller Riffe erhalten bleiben.
Nach derzeitigem Stand der Dinge ist es wahrscheinlich, dass der Arktische Ozean bis 2035 eisfrei sein wird, was sowohl das arktische Ökosystem als auch die Zirkulation der Meeresströmungen stören und möglicherweise das globale und regionale Klima und Wetter verändern wird. Diese Veränderungen der arktischen Eisdecke haben bereits einen Wettlauf zwischen den Großmächten um die militärische Vorherrschaft in der Region und um die Kontrolle über wertvolle Energie- und Mineralienressourcen ausgelöst, was einer verheerenden ökologischen Zerstörung die Tür noch weiter öffnet. Im Januar 2021 charakterisierte das US-Militär in einem Papier mit dem Titel Regaining Arctic Dominance («Arktische Vorherrschaft zurückgewinnen») die Arktis als «sowohl eine Arena des Wettbewerbs, eine Angriffsfront in Konflikten, ein lebenswichtiges Gebiet, in dem viele der natürlichen Ressourcen unserer Nation lagern, als auch eine Plattform für globale Machtprojektion».
Die Erwärmung des Ozeans geht einher mit der jährlichen Verklappung von bis zu 400 Millionen Tonnen Schwermetallen, Lösungsmitteln und giftigen Schlämmen (zusammen mit anderen Industrieabfällen) – radioaktive Abfälle nicht eingerechnet. Dies sind die gefährlichsten Abfallstoffe, aber sie machen nur einen winzigen Teil des gesamten in den Ozean geworfenen Mülls aus, darunter Millionen Tonnen Plastikmüll. Eine Studie aus dem Jahr 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass es bis 2050 nach Gewicht voraussichtlich mehr Plastik im Ozean geben wird als Fische. Im Ozean sammelt sich Plastik in strudelnden Wirbeln an, einer davon ist der Great Pacific Garbage Patch, eine geschätzte Masse von 79.000 Tonnen Ozeanplastik, die in einem konzentrierten Gebiet von 1,6 Millionen Quadratkilometern treiben (das entspricht etwa der Größe des Irans). Das ultraviolette Licht der Sonne zersetzt den Müll in «Mikroplastik», das nicht gereinigt werden kann, das Nahrungsketten stört und Lebensräume zerstört. Die Verklappung von Industrieabfällen in Gewässern, auch in Flüssen und anderen Süßwasserkörpern, verursacht jährlich mindestens 1,4 Millionen Todesfälle durch vermeidbare Krankheiten, die mit erregerbelastetem Trinkwasser in Verbindung stehen.
Der Abfall in den Gewässern ist nur ein Bruchteil des von den Menschen produzierten Mülls, der auf 2,01 Milliarden Tonnen pro Jahr geschätzt wird. Nur 13,5 % dieser Abfälle werden recycelt, nur 5,5 % kompostiert; die restlichen 81 % werden auf Mülldeponien entsorgt, verbrannt (wodurch Treibhausgase und andere giftige Gase freigesetzt werden) oder finden ihren Weg ins Meer. Bei der derzeitigen Rate an Abfallproduktion wird geschätzt, dass diese Zahl bis 2050 um 70 % auf 3,4 Milliarden Tonnen ansteigen wird.
Keine einzige Studie weist einen Rückgang der Umweltverschmutzung, einschließlich der Abfallerzeugung, oder eine Verlangsamung des Temperaturanstiegs nach. So zeigt der Emissions Gap Report des UNEP (Dezember 2020), dass die Welt bei der derzeitigen Emissionsrate auf dem sicheren Weg ist, sich bis zum Jahr 2100 um mindestens 3,2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu erwärmen. Dies liegt weit über den im Pariser Abkommen festgelegten Grenzen von 1,5°-2,0°C. Die Erwärmung des Planeten und die Umweltzerstörung bedingen sich gegenseitig: Zwischen 2010 und 2019 trugen Landdegradation und ‑umwandlung – einschließlich Rodung und Verlust von Bodenkohlenstoff in Anbauflächen – zu einem Viertel der Treibhausgasemissionen bei, wobei der Klimawandel die Wüstenbildung und die Störung der Nährstoffkreisläufe im Boden weiter verschlimmert.
Was sind die gemeinsamen und die differenzierten Verantwortlichkeiten?
In der Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung von 1992 legt das siebte Prinzip der «gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung» — auf das sich die internationale Gemeinschaft geeinigt hat — fest, dass alle Nationen eine gewisse «gemeinsame» Verantwortung für die Verringerung der Emissionen übernehmen müssen, dass aber die Industrieländer die größere «differenzierte» Verantwortung tragen aufgrund der historischen Tatsache ihres weitaus größeren Beitrags zu den kumulativen globalen Emissionen, die den Klimawandel verursachen. Ein Blick auf die Daten des Global Carbon Project des Carbon Dioxide Information Analysis Centre zeigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1750 die größten Verursacher von Kohlendioxidemissionen gewesen sind. Die wichtigsten historischen Kohlendioxid-Emittenten waren allesamt Industrie- und Kolonialmächte, hauptsächlich europäische Staaten und die Vereinigten Staaten von Amerika. Seit dem 18. Jahrhundert haben diese Länder nicht nur den Großteil des Kohlenstoffs in der Atmosphäre emittiert, sondern sie überschreiten auch weiterhin ihren fairen Anteil am globalen Kohlenstoffbudget im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl. Die Länder, die am wenigsten Verantwortung für die Verursachung der Klimakatastrophe tragen – wie z.B. kleine Inselstaaten – sind am stärksten von deren katastrophalen Folgen betroffen.
Billige Energie aus Kohle und Kohlenwasserstoffen sowie die Plünderung der natürlichen Ressourcen durch die Kolonialmächte ermöglichten es den Ländern Europas und Nordamerikas, den Wohlstand ihrer Bevölkerungen auf Kosten der kolonisierten Welt zu steigern. Heute ist die extreme Ungleichheit zwischen dem Lebensstandard der Durchschnittseuropäer*innen (747 Millionen Menschen) und der Durchschnittsinder*innen (1,38 Milliarden Menschen) genauso krass wie vor einem Jahrhundert. Die Abhängigkeit Chinas, Indiens und anderer Entwicklungsländer von Kohlenstoffen – insbesondere von Kohle selbst – ist in der Tat hoch; aber selbst der seit kurzem ansteigende Kohlenstoffverbrauch Chinas und Indiens liegt weit unter dem der Vereinigten Staaten. Die Zahlen für 2019 für die Pro-Kopf-Kohlenstoffemissionen von Australien (16,3 Tonnen) und den USA (16 Tonnen) sind mehr als doppelt so hoch wie die von China (7,1 Tonnen) und Indien (1,9 Tonnen).
Jedes Land der Welt muss Anstrengungen unternehmen, um von der Abhängigkeit von kohlenstoffbasierter Energie loszukommen und die großflächige Zerstörung der Umwelt zu verhindern, aber die entwickelten Länder müssen für zwei dringende Kernmaßnahmen in die Pflicht genommen werden:
- Reduktion schädlicher Emissionen. Die Industrieländer müssen dringend bis 2030 drastische Emissionssenkungen von mindestens 70–80% gegenüber dem Stand von 1990 erreichen und sich auf einen Plan zur weiteren Vertiefung dieser Senkungen bis 2050 festlegen.
- Kapazitäten zur Eindämmung und Anpassung schaffen. Die Industrieländer müssen die Entwicklungsländer durch Technologietransfer für erneuerbare Energiequellen sowie durch die Bereitstellung von Finanzmitteln zur Minderung der Auswirkungen des Klimawandels und zur Anpassung an diese unterstützen.
- Reduktion schädlicher Emissionen. Die Industrieländer müssen dringend bis 2030 drastische Emissionssenkungen von mindestens 70–80% gegenüber dem Stand von 1990 erreichen und sich auf einen Plan zur weiteren Vertiefung dieser Senkungen bis 2050 festlegen.
Die UN-Klimarahmenkonvention von 1992 erkannte die Bedeutung der geografischen Kluft des industriellen Kapitalismus zwischen dem Globalen Norden und dem Süden und deren Auswirkungen auf die entsprechend ungleichmäßigen Anteile am globalen Kohlenstoffbudget. Deshalb haben sich alle Länder auf den zahlreichen Klimakonferenzen darauf geeinigt, auf der Cancun-Konferenz von 2016 einen Green Climate Fund zu schaffen. Das aktuelle Ziel sind 100 Milliarden Dollar jährlich bis 2020. Die Vereinigten Staaten haben unter der neuen Biden-Administration zugesagt, ihre internationalen Finanzbeiträge bis 2024 zu verdoppeln und ihre Beiträge für die Anpassung zu verdreifachen, aber angesichts der sehr niedrigen Ausgangsbasis ist dies absolut ungenügend. Die Internationale Energieagentur schlägt jedes Jahr in ihrem World Energy Outlook vor, dass der tatsächliche Betrag für die internationale Klimafinanzierung im Billionenbereich liegen sollte. Keine der westlichen Mächte hat auch nur annähernd eine Zusage in dieser Größenordnung für den Fonds angedeutet.
Was ist zu tun?
- Umstellung auf null Kohlenstoff-Emissionen. Die Nationen der Welt als Ganzes, angeführt von der G20 (die für 78 % aller globalen Kohlenstoffemissionen verantwortlich ist), müssen realistische Pläne zur Umstellung auf null Netto-Kohlenstoffemissionen verabschieden. Praktisch gesehen bedeutet dies, dass bis 2050 keine Kohlenstoffemissionen mehr anfallen.
- Reduzieren des Umwelt-Fußabdrucks des US-Militärs. Derzeit ist das US-Militär der größte institutionelle Einzelverursacher von Treibhausgasen. Die Reduzierung des militärischen Fußabdrucks der USA würde die politischen und ökologischen Probleme erheblich verringern.
- Klimakompensation für Entwicklungsländer sicherstellen. Gewährleisten, dass Industrieländer eine Klimakompensation für Verluste und Schäden leisten, die durch ihre Klimaemissionen verursacht wurden. Länder, die Gewässer, Boden und Luft mit giftigen und gefährlichen Abfällen – einschließlich Atommüll – verschmutzt haben, auffordern, die Kosten für die Wiederherstellung zu tragen; die Einstellung der Produktion und Verwendung von Giftmüll fordern.
Bereitstellung von Finanzmitteln und Technologie für Entwicklungsländer zur Eindämmung und Anpassung. Zusätzlich müssen die Industrieländer 100 Milliarden Dollar pro Jahr bereitstellen, um die Bedürfnisse der Entwicklungsländer zu decken, einschließlich der Anpassung und Widerstandsfähigkeit gegenüber den realen und katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels. Diese Auswirkungen werden bereits von den Entwicklungsländern getragen (insbesondere von tiefliegenden Ländern und kleinen Inselstaaten). Außerdem müssen Technologien zur Minderung und Anpassung in die Entwicklungsländer transferiert werden.
Am 21. Mai ist Sundarlal Bahuguna (1927–2021), einer der Begründer der Chipko-Bewegung, von uns gegangen. 1973 wurde im indischen Distrikt Chamoli ein ganzer Eschenwald von der Regierung an ein privates Unternehmen vergeben. Gaura Devi, Sudesha Devi, C.P. Bhatt, Sunderlal Bahuguna und andere beschlossen, dass sie die Abholzung stoppen würden, um – wie Gaura Devi es ausdrückte – ihr Maika («Mutterhaus») zu verteidigen. Die Frauen des Dorfes Reni zogen in den Wald und umarmten die Bäume, um zu verhindern, dass die Holzfäller sie fällten. Dieser Akt des Umarmens, oder Chipko, gab der Bewegung ihren Namen. Dank des immensen Kampfes der Menschen von Chamoli sah sich die indische Regierung gezwungen, ein Gesetz zum Schutz der Wälder (1980) zu verabschieden und ein Umweltministerium (1980) zu schaffen.
In seinen letzten Jahren beobachtete Bahuguna, wie Indiens derzeitige Regierung aktiv die Abholzung und Landdegradierung zuließ. Laut Global Forest Watch hat Indien zwischen 2019 und 2020 14 % seines Baumbestandes verloren, wobei 36 % der Wälder stark brandgefährdet sind. Es ist fast so, als würden die Wälder nach einer weiteren Chipko-Bewegung rufen. Diesmal nicht nur in Chamoli oder in Indien, sondern von einem Ende des Planeten zum anderen.
Herzlichst,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.