Und dann gab es plötzlich kein Empire mehr.
Der einundzwanzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institut for Social Research.
Das Empire leugnet seine eigene Existenz. Es existiert nicht als Empire, sondern als Wohltätigkeit, mit der Mission, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung in der Welt zu verbreiten. Diese Perspektive verfängt jedoch weder in Havanna noch in Caracas, wo “Menschenrechte” gleichbedeutend sind mit Regimewechsel und wo “nachhaltige Entwicklung” gleichbedeutend ist mit dem Erdrosseln der Bevölkerung durch Sanktionen und Blockaden. Wenn wir die Sichtweise der Opfer des Empires einnehmen, sehen wir klar.
US-Präsident Joe Biden wird im Juni Gastgeber des Amerika-Gipfels sein, auf dem er die Hegemonie Washingtons über den amerikanischen Kontinent ausbauen will. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist sich darüber im Klaren, dass sich ihr Hegemonieprojekt aufgrund der Schwächen des politischen Systems und der Wirtschaft der USA in einer existenziellen Krise befindet, da nur begrenzte Mittel für Investitionen im eigenen Land, geschweige denn für den Rest der Welt zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sieht sich die US-Hegemonie einer ernsthaften Herausforderung durch China gegenüber, dessen “Belt and Road”-Initiative in weiten Teilen Lateinamerikas und der Karibik als Alternative zur Sparpolitik des Internationalen Währungsfonds gesehen wird. Anstatt die chinesischen Investitionen zu unterstützen, sind die USA bestrebt, China mit allen Mitteln daran zu hindern, sich in den Ländern Amerikas zu engagieren. In diesem Sinne haben die USA die Monroe-Doktrin wiederbelebt. Diese Strategie, die im nächsten Jahr zweihundert Jahre alt wird, besagt, dass der amerikanische Kontinent das Herrschaftsgebiet der Vereinigten Staaten, ihre “Einflusssphäre” und ihr “Hinterhof” ist (auch wenn Biden versucht hat, die Region als “Vorgarten” der USA zu bezeichnen).
Gemeinsam mit der Internationalen Versammlung der Völker (International Peoples’ Assembly, kurz IPA) haben wir einen Red Alert zu zwei Werkzeugen der US-Macht – der Organisation Amerikanischer Staaten und dem Amerika-Gipfel – sowie zu den Herausforderungen, denen sich die USA gegenübersehen, wenn sie versuchen, ihre Hegemonie in der Region durchzusetzen, erstellt. Der Red Alert folgt untenstehend und ist hier als PDF verfügbar. Bitte lest, diskutiert und teilt ihn.
Was ist die Organisation Amerikanischer Staaten?
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wurde 1948 in Bogotá, Kolumbien, von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten gegründet. Obwohl sich die OAS-Charta auf die Rhetorik des Multilateralismus und der Zusammenarbeit beruft, wurde die Organisation als Instrument zur Bekämpfung des Kommunismus in diesem Teil der Welt und zur Durchsetzung der US-Agenda in den Ländern Amerikas instrumentalisiert. Ungefähr die Hälfte der Gelder für die OAS und 80 Prozent der Gelder für die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR), ein autonomes Organ der OAS, kommen aus den USA. Es ist erwähnenswert, dass die USA – obwohl sie den Großteil des Budgets bereitstellen – keinen der Verträge der IACHR ratifiziert haben.
Nach der kubanischen Revolution (1959) zeigte die OAS ihr wahres Gesicht. Im Jahr 1962 wurde Kuba — ein Gründungsmitglied der OAS — auf einer Tagung in Punta del Este (Uruguay) aus der Organisation ausgeschlossen. In der Erklärung des Treffens hieß es, dass “die Grundsätze des Kommunismus mit den Grundsätzen des interamerikanischen Systems unvereinbar sind”. Daraufhin bezeichnete Fidel Castro die OAS als das “US-Kolonialministerium”.
Die OAS rief 1962 den “Besonderen Beratenden Ausschuss für Sicherheit gegen die subversiven Aktionen des internationalen Kommunismus” ins Leben, um den Eliten in Amerika — unter Führung der USA — zu ermöglichen, mit allen Mitteln gegen die Volksbewegungen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft vorzugehen. Die OAS hat dem US-Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) diplomatische und politische Rückendeckung gegeben, als er sich am Sturz von Regierungen beteiligte, die versuchten, ihre legitime Souveränität auszuüben — Souveränität, die die OAS-Charta angeblich garantiert. Dies reicht von der Ausweisung Kubas durch die OAS im Jahr 1962 über die Inszenierung von Staatsstreichen in Honduras (2009) und Bolivien (2019) bis hin zu den wiederholten Versuchen, die Regierungen von Nicaragua und Venezuela zu stürzen, und der anhaltenden Einmischung in Haiti.
Seit 1962 hat die OAS offen an der Seite der US-Regierung gehandelt, um Länder ohne eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu sanktionieren, was diese Sanktionen illegal macht. Sie hat daher regelmäßig gegen den “Grundsatz der Nichteinmischung” in ihrer eigenen Charta verstoßen, der “Waffengewalt, aber auch jede andere Form der Einmischung oder versuchten Einmischung in die Persönlichkeit des Staates oder in seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elemente” verbietet (Kapitel 1, Artikel 2, Abschnitt b und Kapitel IV, Artikel 19).
Was ist die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC)?
Venezuela hat unter der Führung von Präsident Hugo Chávez in den frühen 2000er Jahren einen Prozess zum Aufbau neuer regionaler Institutionen außerhalb der Kontrolle der USA eingeleitet. In diesem Zeitraum wurden drei wichtige Plattformen geschaffen: 1) die Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) im Jahr 2004, 2) die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) im Jahr 2004 und 3) die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) im Jahr 2010. Diese Plattformen schufen zwischenstaatliche Verbindungen in ganz Amerika, einschließlich Gipfeltreffen zu Fragen von regionaler Bedeutung und technischer Einrichtungen zur Förderung des grenzüberschreitenden Handels und kultureller Interaktionen. Jede dieser Plattformen wurde von den Vereinigten Staaten bedroht. Da die Regierungen in der Region politisch schwanken, hat ihr Engagement für diese Plattformen entweder zugenommen (je linker sie waren) oder abgenommen (je mehr sie sich den Vereinigten Staaten untergeordnet haben).
Auf dem 6. Gipfeltreffen der CELAC in Mexiko-Stadt im Jahr 2021 schlug Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador vor, die OAS aufzulösen und die CELAC beim Aufbau einer multilateralen Organisation nach dem Vorbild der Europäischen Union zu unterstützen, um regionale Konflikte zu lösen, Handelspartnerschaften aufzubauen und die Einheit der Amerikas zu fördern.
Was ist der Amerika-Gipfel?
Nach dem Zusammenbruch der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) versuchten die Vereinigten Staaten, die Welt zu beherrschen, indem sie ihre militärische Macht einsetzten, um jeden Staat zu disziplinieren, der ihre Hegemonie nicht akzeptierte (wie in Panama 1989 und Irak 1991), und indem sie ihre wirtschaftliche Macht durch die 1994 gegründete Welthandelsorganisation institutionalisierten. Die USA riefen die OAS-Mitgliedsstaaten 1994 zum ersten Gipfeltreffen der Länder Amerikas nach Miami, dessen Leitung anschließend der OAS übertragen wurde. Das Amerika-Gipfeltreffen findet seither alle paar Jahre statt, um “gemeinsame politische Themen zu erörtern, gemeinsame Werte zu bekräftigen und sich zu konzertierten Aktionen auf nationaler und regionaler Ebene zu verpflichten”.
Trotz ihrer Vormachtstellung in der OAS ist es den USA nie gelungen, ihre Agenda auf diesen Gipfeltreffen vollständig durchzusetzen. Beim dritten Amerika-Gipfel in Quebec City (2001) und beim vierten in Mar del Plata (2005) veranstalteten Volksbewegungen große Gegenproteste; in Mar del Plata führte der venezolanische Präsident Hugo Chávez eine Massendemonstration an, die zum Scheitern des von den USA auferlegten Abkommens über die amerikanische Freihandelszone führte. Der fünfte und sechste Gipfel in Port of Spain (2009) und Cartagena (2012) wurden zu einem Schlachtfeld für die Debatte über die US-Blockade gegen Kuba und dessen Ausschluss aus der OAS. Aufgrund des immensen Drucks der OAS-Mitgliedstaaten wurde Kuba gegen den Willen der Vereinigten Staaten zum siebten und achten Gipfel in Panama City (2015) und Lima (2018) eingeladen.
Zum bevorstehenden neunten Amerika-Gipfel, der im Juni 2022 in Los Angeles stattfinden soll, haben die Vereinigten Staaten jedoch weder Kuba noch Nicaragua oder Venezuela eingeladen. Mehrere Länder — darunter Bolivien und Mexiko — haben erklärt, dass sie nur dann an dem Treffen teilnehmen werden, wenn alle fünfunddreißig Länder des amerikanischen Kontinents anwesend sind. Vom 8. bis 10. Juni wird eine Reihe fortschrittlicher Organisationen einen Volksgipfel veranstalten, um dem OAS-Gipfel entgegenzuwirken und den Stimmen aller Völker Amerikas Gehör zu verschaffen.
Im Jahr 2010 veröffentlichte der Dichter Derek Walcott (1930–2017) “The Lost Empire”, eine Hommage an die Karibik und insbesondere an seine eigene Insel St. Lucia, als sich der britische Imperialismus zurückzog. Walcott wuchs mit der wirtschaftlichen und kulturellen Erstickung auf, die der Kolonialismus mit sich brachte, mit der Hässlichkeit des Gefühls, minderwertig zu sein, und mit dem Elend der Armut, die damit einherging. Jahre später schrieb Walcott, als er über den Jubel über den Rückzug der britischen Herrschaft nachdachte:
Und dann gab es auf einmal kein Empire mehr.
Seine Errungenschaften wurden zu Luft, seine Herrschaften zu Schmutz:
Birma, Kanada, Ägypten, Afrika, Indien, Sudan.
Die Landkarte, die ihren Fleck auf das Hemd eines Schuljungen gesickert hatte
wie rote Tinte auf ein Löschblatt, Schlachten, lange Belagerungen.
Dhows und Feluken, Bergstationen, Außenposten, Flaggen
flatterten in der Dämmerung, ihre goldene Ägide
erlosch mit der Sonne, der letzte Schimmer auf einem großen Felsen,
Mit tigeräugigen Sikhs mit Turbanen, Wimpeln des Raj
zu einem schluchzenden Signalhorn.
Die Sonne über dem Imperialismus geht unter, während wir langsam und behutsam in eine Welt eintauchen, die nach sinnvoller Gleichheit statt Unterordnung strebt. “Dieser kleine Ort”, schreibt Walcott über St. Lucia, “bringt nichts als Schönheit hervor”. Das würde für die ganze Welt gelten, wenn wir unsere lange, moderne Geschichte von Schlachten und Belagerungen, Kriegsschiffen und Atomwaffen hinter uns lassen könnten.
Herzlichst,
Vijay