Und dann gab es plötzlich kein Empire mehr.

Der einundzwanzigste Newsletter (2022).

Bisa Butler (USA), I Know Why the Caged Bird Sings, 2019

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tut for Social Rese­arch.

 

Das Empire leug­net seine eigene Exis­tenz. Es exis­tiert nicht als Empire, sondern als Wohl­tä­tig­keit, mit der Mission, Menschen­rechte und nach­hal­tige Entwick­lung in der Welt zu verbrei­ten. Diese Perspek­tive verfängt jedoch weder in Havanna noch in Cara­cas, wo “Menschen­rechte” gleich­be­deu­tend sind mit Regime­wech­sel und wo “nach­hal­tige Entwick­lung” gleich­be­deu­tend ist mit dem Erdros­seln der Bevöl­ke­rung durch Sank­tio­nen und Blocka­den. Wenn wir die Sicht­weise der Opfer des Empires einneh­men, sehen wir klar. 

 

US-Präsi­dent Joe Biden wird im Juni Gast­ge­ber des Amerika-Gipfels sein, auf dem er die Hege­mo­nie Washing­tons über den ameri­ka­ni­schen Konti­nent ausbauen will. Die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten ist sich darüber im Klaren, dass sich ihr Hege­mo­nie­pro­jekt aufgrund der Schwä­chen des poli­ti­schen Systems und der Wirt­schaft der USA in einer exis­ten­zi­el­len Krise befin­det, da nur begrenzte Mittel für Inves­ti­tio­nen im eige­nen Land, geschweige denn für den Rest der Welt zur Verfü­gung stehen. Gleich­zei­tig sieht sich die US-Hege­mo­nie einer ernst­haf­ten Heraus­for­de­rung durch China gegen­über, dessen “Belt and Road”-Initiative in weiten Teilen Latein­ame­ri­kas und der Kari­bik als Alter­na­tive zur Spar­po­li­tik des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds gese­hen wird. Anstatt die chine­si­schen Inves­ti­tio­nen zu unter­stüt­zen, sind die USA bestrebt, China mit allen Mitteln daran zu hindern, sich in den Ländern Ameri­kas zu enga­gie­ren. In diesem Sinne haben die USA die Monroe-Doktrin wieder­be­lebt. Diese Stra­te­gie, die im nächs­ten Jahr zwei­hun­dert Jahre alt wird, besagt, dass der ameri­ka­ni­sche Konti­nent das Herr­schafts­ge­biet der Verei­nig­ten Staa­ten, ihre “Einfluss­sphäre” und ihr “Hinter­hof” ist (auch wenn Biden versucht hat, die Region als “Vorgar­ten” der USA zu bezeichnen).

 

Gemein­sam mit der Inter­na­tio­na­len Versamm­lung der Völker (Inter­na­tio­nal Peop­les’ Assem­bly, kurz IPA) haben wir einen Red Alert zu zwei Werk­zeu­gen der US-Macht – der Orga­ni­sa­tion Ameri­ka­ni­scher Staa­ten und dem Amerika-Gipfel – sowie zu den Heraus­for­de­run­gen, denen sich die USA gegen­über­se­hen, wenn sie versu­chen, ihre Hege­mo­nie in der Region durch­zu­set­zen, erstellt. Der Red Alert  folgt unten­ste­hend und ist hier als PDF verfüg­bar. Bitte lest, disku­tiert und teilt ihn.

 

 

Was ist die Orga­ni­sa­tion Ameri­ka­ni­scher Staaten?

 

Die Orga­ni­sa­tion Ameri­ka­ni­scher Staa­ten (OAS) wurde 1948 in Bogotá, Kolum­bien, von den Verei­nig­ten Staa­ten und ihren Verbün­de­ten gegrün­det. Obwohl sich die OAS-Charta auf die Rheto­rik des Multi­la­te­ra­lis­mus und der Zusam­men­ar­beit beruft, wurde die Orga­ni­sa­tion als Instru­ment zur Bekämp­fung des Kommu­nis­mus in diesem Teil der Welt und zur Durch­set­zung der US-Agenda in den Ländern Ameri­kas instru­men­ta­li­siert. Unge­fähr die Hälfte der Gelder für die OAS und 80 Prozent der Gelder für die Inter­ame­ri­ka­ni­sche Menschen­rechts­kom­mis­sion (IACHR), ein auto­no­mes Organ der OAS, kommen aus den USA. Es ist erwäh­nens­wert, dass die USA – obwohl sie den Groß­teil des Budgets bereit­stel­len – keinen der Verträge der IACHR rati­fi­ziert haben.

 

Nach der kuba­ni­schen Revo­lu­tion (1959) zeigte die OAS ihr wahres Gesicht. Im Jahr 1962 wurde Kuba — ein Grün­dungs­mit­glied der OAS — auf einer Tagung in Punta del Este (Uruguay) aus der Orga­ni­sa­tion ausge­schlos­sen. In der Erklä­rung des Tref­fens hieß es, dass “die Grund­sätze des Kommu­nis­mus mit den Grund­sät­zen des inter­ame­ri­ka­ni­schen Systems unver­ein­bar sind”. Darauf­hin bezeich­nete Fidel Castro die OAS als das “US-Kolo­ni­al­mi­nis­te­rium”.

 

Die OAS rief 1962 den “Beson­de­ren Bera­ten­den Ausschuss für Sicher­heit gegen die subver­si­ven Aktio­nen des inter­na­tio­na­len Kommu­nis­mus” ins Leben, um den Eliten in Amerika — unter Führung der USA — zu ermög­li­chen, mit allen Mitteln gegen die Volks­be­we­gun­gen der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft vorzu­ge­hen. Die OAS hat dem US-Geheim­dienst Central Intel­li­gence Agency (CIA) diplo­ma­ti­sche und poli­ti­sche Rücken­de­ckung gege­ben, als er sich am Sturz von Regie­run­gen betei­ligte, die versuch­ten, ihre legi­time Souve­rä­ni­tät auszu­üben — Souve­rä­ni­tät, die die OAS-Charta angeb­lich garan­tiert. Dies reicht von der Auswei­sung Kubas durch die OAS im Jahr 1962 über die Insze­nie­rung von Staats­strei­chen in Hondu­ras (2009) und Boli­vien (2019) bis hin zu den wieder­hol­ten Versu­chen, die Regie­run­gen von Nica­ra­gua und Vene­zuela zu stür­zen, und der anhal­ten­den Einmi­schung in Haiti.

 

Seit 1962 hat die OAS offen an der Seite der US-Regie­rung gehan­delt, um Länder ohne eine Reso­lu­tion des Sicher­heits­rats der Verein­ten Natio­nen zu sank­tio­nie­ren, was diese Sank­tio­nen ille­gal macht. Sie hat daher regel­mä­ßig gegen den “Grund­satz der Nicht­ein­mi­schung” in ihrer eige­nen Charta versto­ßen, der “Waffen­ge­walt, aber auch jede andere Form der Einmi­schung oder versuch­ten Einmi­schung in die Persön­lich­keit des Staa­tes oder in seine poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und kultu­rel­len Elemente” verbie­tet (Kapi­tel 1, Arti­kel 2, Abschnitt b und Kapi­tel IV, Arti­kel 19).

Diego Rivera (Mexiko), Libe­r­ación del Peón, 1931.

 

Was ist die Gemein­schaft der Latein­ame­ri­ka­ni­schen und Kari­bi­schen Staa­ten (CELAC)?

 

Vene­zuela hat unter der Führung von Präsi­dent Hugo Chávez in den frühen 2000er Jahren einen Prozess zum Aufbau neuer regio­na­ler Insti­tu­tio­nen außer­halb der Kontrolle der USA einge­lei­tet. In diesem Zeit­raum wurden drei wich­tige Platt­for­men geschaf­fen: 1) die Boli­va­ri­sche Alli­anz für die Völker unse­res Ameri­kas (ALBA) im Jahr 2004, 2) die Union Südame­ri­ka­ni­scher Natio­nen (UNASUR) im Jahr 2004 und 3) die Gemein­schaft der Latein­ame­ri­ka­ni­schen und Kari­bi­schen Staa­ten (CELAC) im Jahr 2010. Diese Platt­for­men schu­fen zwischen­staat­li­che Verbin­dun­gen in ganz Amerika, einschließ­lich Gipfel­tref­fen zu Fragen von regio­na­ler Bedeu­tung und tech­ni­scher Einrich­tun­gen zur Förde­rung des grenz­über­schrei­ten­den Handels und kultu­rel­ler Inter­ak­tio­nen. Jede dieser Platt­for­men wurde von den Verei­nig­ten Staa­ten bedroht. Da die Regie­run­gen in der Region poli­tisch schwan­ken, hat ihr Enga­ge­ment für diese Platt­for­men entwe­der zuge­nom­men (je linker sie waren) oder abge­nom­men (je mehr sie sich den Verei­nig­ten Staa­ten unter­ge­ord­net haben).

 

Auf dem 6. Gipfel­tref­fen der CELAC in Mexiko-Stadt im Jahr 2021 schlug Mexi­kos Präsi­dent Andrés Manuel López Obra­dor vor, die OAS aufzu­lö­sen und die CELAC beim Aufbau einer multi­la­te­ra­len Orga­ni­sa­tion nach dem Vorbild der Euro­päi­schen Union zu unter­stüt­zen, um regio­nale Konflikte zu lösen, Handels­part­ner­schaf­ten aufzu­bauen und die Einheit der Ameri­kas zu fördern.

 

Tessa Mars (Haiti), Untit­led, aus der Serie Pray­ing for the visa, 2019.

 

Was ist der Amerika-Gipfel?

 

Nach dem Zusam­men­bruch der Union der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken (UdSSR) versuch­ten die Verei­nig­ten Staa­ten, die Welt zu beherr­schen, indem sie ihre mili­tä­ri­sche Macht einsetz­ten, um jeden Staat zu diszi­pli­nie­ren, der ihre Hege­mo­nie nicht akzep­tierte (wie in Panama 1989 und Irak 1991), und indem sie ihre wirt­schaft­li­che Macht durch die 1994 gegrün­dete Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­tion insti­tu­tio­na­li­sier­ten. Die USA riefen die OAS-Mitglieds­staa­ten 1994 zum ersten Gipfel­tref­fen der Länder Ameri­kas nach Miami, dessen Leitung anschlie­ßend der OAS über­tra­gen wurde. Das Amerika-Gipfel­tref­fen findet seit­her alle paar Jahre statt, um “gemein­same poli­ti­sche Themen zu erör­tern, gemein­same Werte zu bekräf­ti­gen und sich zu konzer­tier­ten Aktio­nen auf natio­na­ler und regio­na­ler Ebene zu verpflichten”.

 

Trotz ihrer Vormacht­stel­lung in der OAS ist es den USA nie gelun­gen, ihre Agenda auf diesen Gipfel­tref­fen voll­stän­dig durch­zu­set­zen. Beim drit­ten Amerika-Gipfel in Quebec City (2001) und beim vier­ten in Mar del Plata (2005) veran­stal­te­ten Volks­be­we­gun­gen große Gegen­pro­teste; in Mar del Plata führte der vene­zo­la­ni­sche Präsi­dent Hugo Chávez eine Massen­de­mons­tra­tion an, die zum Schei­tern des von den USA aufer­leg­ten Abkom­mens über die ameri­ka­ni­sche Frei­han­dels­zone führte. Der fünfte und sechste Gipfel in Port of Spain (2009) und Carta­gena (2012) wurden zu einem Schlacht­feld für die Debatte über die US-Blockade gegen Kuba und dessen Ausschluss aus der OAS. Aufgrund des immensen Drucks der OAS-Mitglied­staa­ten wurde Kuba gegen den Willen der Verei­nig­ten Staa­ten zum sieb­ten und achten Gipfel in Panama City (2015) und Lima (2018) eingeladen.

 

Zum bevor­ste­hen­den neun­ten Amerika-Gipfel, der im Juni 2022 in Los Ange­les statt­fin­den soll, haben die Verei­nig­ten Staa­ten jedoch weder Kuba noch Nica­ra­gua oder Vene­zuela einge­la­den. Mehrere Länder — darun­ter Boli­vien und Mexiko — haben erklärt, dass sie nur dann an dem Tref­fen teil­neh­men werden, wenn alle fünf­und­drei­ßig Länder des ameri­ka­ni­schen Konti­nents anwe­send sind. Vom 8. bis 10. Juni wird eine Reihe fort­schritt­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen einen Volks­gip­fel veran­stal­ten, um dem OAS-Gipfel entge­gen­zu­wir­ken und den Stim­men aller Völker Ameri­kas Gehör zu verschaffen.

 

Rufino Tamayo (Mexiko), Animals, 1941.

 

Im Jahr 2010 veröf­fent­lichte der Dich­ter Derek Walcott (1930–2017) “The Lost Empire”, eine Hommage an die Kari­bik und insbe­son­dere an seine eigene Insel St. Lucia, als sich der briti­sche Impe­ria­lis­mus zurück­zog. Walcott wuchs mit der wirt­schaft­li­chen und kultu­rel­len Ersti­ckung auf, die der Kolo­nia­lis­mus mit sich brachte, mit der Häss­lich­keit des Gefühls, minder­wer­tig zu sein, und mit dem Elend der Armut, die damit einher­ging. Jahre später schrieb Walcott, als er über den Jubel über den Rück­zug der briti­schen Herr­schaft nachdachte:

 

Und dann gab es auf einmal kein Empire mehr.

Seine Errun­gen­schaf­ten wurden zu Luft, seine Herr­schaf­ten zu Schmutz:

Birma, Kanada, Ägyp­ten, Afrika, Indien, Sudan.

Die Land­karte, die ihren Fleck auf das Hemd eines Schul­jun­gen gesi­ckert hatte

wie rote Tinte auf ein Lösch­blatt, Schlach­ten, lange Belagerungen.

Dhows und Felu­ken, Berg­sta­tio­nen, Außen­pos­ten, Flaggen

flat­ter­ten in der Dämme­rung, ihre goldene Ägide

erlosch mit der Sonne, der letzte Schim­mer auf einem großen Felsen,

Mit tige­r­äu­gi­gen Sikhs mit Turba­nen, Wimpeln des Raj

zu einem schluch­zen­den Signalhorn.

 

Die Sonne über dem Impe­ria­lis­mus geht unter, während wir lang­sam und behut­sam in eine Welt eintau­chen, die nach sinn­vol­ler Gleich­heit statt Unter­ord­nung strebt. “Dieser kleine Ort”, schreibt Walcott über St. Lucia, “bringt nichts als Schön­heit hervor”. Das würde für die ganze Welt gelten, wenn wir unsere lange, moderne Geschichte von Schlach­ten und Bela­ge­run­gen, Kriegs­schif­fen und Atom­waf­fen hinter uns lassen könnten.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.