Lenin tanzte im Schnee, um die Pariser Kommune und die Sowjetrepublik zu feiern.

Der einundzwanzigste Newsletter (2021).

Jorge Luis Rodrí­guez Agui­lar (Kuba), Pari­ser Kommune 150, 2021.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 28. Mai 1871, vor einhun­dert­fünf­zig Jahren, brach die Pari­ser Kommune nach zwei­und­sieb­zig Tagen zusam­men. Die Arbeiter*innen von Paris hatten am 18. März die Kommune gegrün­det und  damit die Welle des revo­lu­tio­nä­ren Opti­mis­mus am Leben erhal­ten, die erst­mals 1789 und dann wieder 1830 und 1848 an die Küsten Frank­reichs schwappte. Der unmit­tel­bare Anlass für die Kommune war der Sieg Preu­ßens über Frank­reich in einem aussichts­lo­sen Krieg. Zwei Tage nach­dem Kaiser Napo­leon III. vor Helmuth von Moltke kapi­tu­liert hatte, grün­de­ten die verun­si­cher­ten Gene­räle und Poli­ti­ker in Paris die Dritte Repu­blik (1870–1940). Aber diese Männer – wie Gene­ral Louis-Jules Trochu (Präsi­dent der Regie­rung der Natio­na­len Vertei­di­gung, 1870–1871) und Adol­phe Thiers (Präsi­dent von Frank­reich, 1871–1873) – konn­ten den Lauf der Geschichte nicht aufhal­ten. Die Pari­ser Bevöl­ke­rung schob sie beiseite und bildete eine eigene Regie­rung. Sie schu­fen, mit ande­ren Worten, die legen­däre Pari­ser Kommune.

 

Alle Augen rich­te­ten sich auf Paris, obwohl Paris nicht der einzige Ort eines solchen Aufstan­des von Arbeiter*innen und Handwerker*innen war. Die Messer­schmiede von Thiers und die Seidenarbeiter*innen von Lyon über­nah­men für kurze Zeit (in Thiers nur für Stun­den) die Kontrolle über ihre Städte. Sie spür­ten, dass dem Schei­tern der bürger­li­chen Regie­rung mit einer Regie­rung der Arbeiter*innen begeg­net werden musste. Ihre Ziele waren viel­fäl­tig, ihre Fähig­keit, sie durch­zu­set­zen, unbe­stän­dig, aber was die Pari­ser Kommune mit den Aufstän­den in ganz Frank­reich und mit vielen ande­ren auf der Welt verband, war der Anspruch, dass Seidenarbeiter*innen und Messer­schmiede, Bäcker*innen und Weber*innen die Gesell­schaft ohne die Führung der Bour­geoi­sie regie­ren könn­ten. Für die Pari­ser Arbei­ter­klasse war 1870 klar, dass die bürger­li­chen Poli­ti­ker und die Gene­räle sie in den Tod auf den Schlacht­fel­dern von Sedan geschickt hatten und – als sie dann vor den preu­ßi­schen Forde­run­gen kapi­tu­lier­ten – die Arbei­ter­klasse die Kosten des Krie­ges bezah­len ließen. Das ruinierte Frank­reich musste von den Arbeiter*innen neu geschaf­fen werden.

Junaina Muham­med (Indien), Pari­ser Kommune 150, 2021.

Wenige Wochen nach der Nieder­lage der Pari­ser Kommune schrieb Karl Marx für den Gene­ral­rat der Inter­na­tio­na­len Arbei­ter­as­so­zia­tion ein kurzes Pamphlet über ihre Erfah­run­gen. Dieser Text, Der Bürger­krieg in Frank­reich, beur­teilte den Aufstand als das, was er war, nämlich eine bemer­kens­werte Demons­tra­tion der Möglich­keit einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft und der Bedeu­tung von eige­nen staat­li­chen Struk­tu­ren für eine solche Gesell­schaft. Marx, der die Irrun­gen und Wirrun­gen der Geschichte sehr gut verstand, erkannte, dass trotz des Massa­kers, das die Bour­geoi­sie bei der Rück­erobe­rung von Paris anrich­tete, die Dyna­mik, die mit der Revo­lu­tion von 1789 begann und von der Pari­ser Kommune 1871 fort­ge­führt wurde, nicht aufzu­hal­ten war: Die alten, aus der Vergan­gen­heit ererb­ten Hier­ar­chien und die neuen, vom Kapi­ta­lis­mus geschmie­de­ten Hier­ar­chien waren mit dem demo­kra­ti­schen Geist unvereinbar.

 

Aus der Asche der Pari­ser Kommune würde sich das nächste Expe­ri­ment sozia­lis­ti­scher Demo­kra­tie erhe­ben, das wahr­schein­lich schei­tern würde, und daraus würde sich dann das nächste Expe­ri­ment erge­ben. Solche Expe­ri­mente, die von der Inter­na­tio­nale geför­dert wurden, gingen aus den Wider­sprü­chen der moder­nen Gesell­schaft hervor. «Sie kann nicht nieder­ge­stampft werden durch noch soviel Blut­ver­gie­ßen», schrieb Marx. «Um sie nieder­zu­stamp­fen, müßten die Regie­run­gen vor allem die Zwing­herr­schaft des Kapi­tals über die Arbeit nieder­stamp­fen – also die Bedin­gung ihres eige­nen Schmarotzerdaseins.»

Philani E. Mhlungu (Südafrika), Pari­ser Kommune 150, 2021.

Die Pari­ser Kommune von 1871 bleibt für unsere poli­ti­sche Vorstel­lungs­kraft lebens­wich­tig, ihre Lehren sind ein notwen­di­ger Teil unse­rer heuti­gen Prozesse. Deshalb haben sich sieben­und­zwan­zig Verlage – von Indo­ne­sien über Slowe­nien bis Argen­ti­nien – zusam­men­ge­tan, um das Gedenk­buch Pari­ser Kommune 150 heraus­zu­ge­ben (das am 28. Mai in acht­zehn Spra­chen aus fünf­zehn Ländern zum Herun­ter­la­den verfüg­bar sein wird). Das Buch versam­melt Marx’ Essay, Wladi­mir Lenins Diskus­sion dieses Essays (aus Staat und Revo­lu­tion, 1918) und zwei erklä­rende Essays über den Kontext und die Kultur der Kommune von mir und Tings Chak, leitende Desi­gne­rin und Forsche­rin am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

Im Jahr 1918, am drei­und­sieb­zigs­ten Tag der Okto­ber­re­vo­lu­tion und der Sowjet­re­pu­blik, verließ Wladi­mir Lenin sein Büro im Smolny-Insti­tut (Petro­grad) und tanzte im Schnee. Er feierte, weil das sowje­ti­sche Expe­ri­ment jenes der Pari­ser Kommune über­dau­ert hatte. Fünf Tage später sprach Lenin auf dem Drit­ten Allrus­si­schen Sowjet­kon­gress und sagte, ihre Kommune habe die von Paris 1871 über­dau­ert wegen der «güns­ti­ge­ren Umstände», unter denen die «russi­schen Solda­ten, Arbei­ter und Bauern die Sowjet­re­gie­rung errich­ten konn­ten». Sie hatten den alten zaris­ti­schen Staats­ap­pa­rat mit seinen Unter­drü­ckungs­me­cha­nis­men nicht beibe­hal­ten, sondern einen neuen Staat geschaf­fen, «der ihre Kampf­me­tho­den in der ganzen Welt bekannt gemacht hatte». Dazu gehörte, die verschie­de­nen Schlüs­sel­klas­sen in die «lange, mehr oder weni­ger schwie­rige Über­gangs­pe­ri­ode», die der Aufbau einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft mit sich bringt, einzu­be­zie­hen. Jede Nieder­lage – die der Pari­ser Kommune 1871 und später die der UdSSR – dient als Schule für die arbei­ten­den Menschen. Jeder Versuch, den Sozia­lis­mus aufzu­bauen, erteilt uns Lektio­nen für unser nächs­tes Expe­ri­ment. Deshalb brin­gen wir dieses Buch nicht am ersten Tag der Kommune, sondern am Tag ihrer Nieder­lage heraus, einem Tag des Nach­den­kens über die Kommune selbst und über die Lehren, die aus ihr zu ziehen sind.

 

 

Paris Commune 150 ist die jüngste Arbeit einer infor­mel­len Gruppe namens Inter­na­tio­nal Union of Left Publishers (IULP), die aus einem Gespräch in Neu-Delhi unter linken Verleger*innen in Indien hervor­ge­gan­gen ist. Wir haben Anfang 2019 beschlos­sen, den Angrif­fen auf linke Autoren und Verle­ger entge­gen­zu­wir­ken, indem wir einen Tag bege­hen, an dem wir die Beiträge roter Bücher feiern. Gemein­sam mit zwei Verla­gen aus Südame­rika (dem brasi­lia­ni­schen Expres­são Popu­lar und dem argen­ti­ni­schen Batalla de Ideas) riefen wir zu öffent­li­chen Lesun­gen des Kommu­nis­ti­schen Mani­fests am 21. Februar auf, dem Tag seiner Veröf­fent­li­chung im Jahr 1848. Da der 21. Februar auch der Inter­na­tio­nale Tag der Mutter­spra­che ist, haben wir die Menschen aufge­for­dert, das Mani­fest in ihren eige­nen Spra­chen zu lesen. In den Jahren 2020 und 2021 kamen Zehn­tau­sende Menschen öffent­lich und online zusam­men, um den Tag des roten Buches zu bege­hen, indem sie das Mani­fest lasen und über diesen leben­di­gen Text disku­tier­ten. Wir hoffen, dass dieser Tag, wie der 1. Mai, Teil des kultu­rel­len Kalen­ders der sozia­len Bewe­gun­gen und der Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen wird.

 

 

Die gemein­same Erfah­rung des Tag des roten Buches 2020 regte unsere Verlags­gruppe zu weite­ren Projek­ten an, wie der gemein­sa­men Heraus­gabe von beson­de­ren Büchern. Die IULP hat bisher vier dieser gemein­sa­men Bücher heraus­ge­ge­ben, zusätz­lich zu Pari­ser Kommune 150:

 

    1. Lenin 150. Am 22. April 2020, dem 150. Geburts­tag Lenins, haben drei Verlage (Batalla de Ideas, Expres­são Popu­lar und Left­Word Books) zusam­men mit Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch eine Reihe von Texten Lenins sowie Wladi­mir Maja­kow­skis Gedicht an Lenin aus dem Jahr 1924 und einen einlei­ten­den Essay zusam­men­ge­stellt, die auf Englisch, Portu­gie­sisch und Spanisch erschie­nen sind.
    2. Mariá­te­gui. Am 14. Juni 2020, dem Geburts­tag des perua­ni­schen Marxis­ten José Carlos Mariá­te­gui, versam­mel­ten sechs Verlage (zu den bereits erwähn­ten gesell­ten sich zusätz­lich Bhara­thi Putha­ka­la­yam, Chin­tha Publishers und Vaam Prakas­han) drei groß­ar­tige Essays von Mariá­te­gui in einem Buch mit einer Einfüh­rung des brasi­lia­ni­schen Marxis­ten Flore­stan Fernan­des und einem Vorwort von Lucía Rear­tes und Yael Ardi­les von der José Carlos Mariá­te­gui Schule.
    3. Che. Am 8. Okto­ber 2020, dem Tag der Ermor­dung von Ernesto «Che» Guevara, kamen zwan­zig Verle­ger zusam­men, um eine Neuauf­lage zweier zentra­ler Essays von Che («Der Mensch und der Sozia­lis­mus in Kuba» und «Botschaft an die Trikon­ti­nen­tale») sowie Essays von María del Carmen Ariet García (Forschungs­ko­or­di­na­to­rin, Zentrum für Che-Guevara-Studien) und Aijaz Ahmad (Senior Fellow, Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch) herauszubringen.

Jeder der Verlage verwen­dete für diese Bücher das glei­che Cover. Für Paris Kommune 150 rief die Kunst­ab­tei­lung zu einem Cover-Wett­be­werb auf; einund­vier­zig Künst­ler aus fünf­zehn Ländern reich­ten Arbei­ten für das Cover ein. Wir veran­stal­ten eine Online-Ausstel­lung der einund­vier­zig einge­reich­ten Arbei­ten, fast so viele wie die sieben­und­vier­zig Künstler*innen, die sich 1871 in der Kommune versam­mel­ten, um den Künst­ler­ver­band zu gründen.

 

Zwei Bilder erschie­nen uns als beson­ders ange­mes­sen für das Buch: Das Titel­bild stammt von dem kuba­ni­schen Künst­ler Jorge Luis Rodrí­guez Agui­lar, Leiter der Abtei­lung für Grafik und digi­tale Kunst an der Natio­na­len Akade­mie der Schö­nen Künste San Alejan­dro in Havanna. Das Rücken­co­ver stammt von Junaina Muham­med aus Kerala von der Students Fede­ra­tion of India und dem Young Socia­list Artists coll­ec­tive. Es ist passend, dass die Künstler*innen aus Kuba und aus Kerala stam­men, zwei Orte, an denen das Expe­ri­ment der Kommune blüht.

Nicht lange nach der Pari­ser Kommune kam es zu Aufstän­den in den fran­zö­si­schen Kolo­nien Alge­rien und Neuka­le­do­nien. An beiden Orten spielte das Beispiel der Pari­ser Kommune eine entschei­dende Rolle. Moham­med el-Mokrani, der den Aufstand der Araber*innen und Kabyl*innen im März 1871 anführte, und Ataï, der 1878 den Aufstand der Kanak*innen in Neuka­le­do­nien anführte, sangen die Lieder der Kommunard*innen, nur um dann den Kano­nen der Fran­zo­sen zu erlie­gen. Louise Michel, die wegen ihrer Betei­li­gung an der Pari­ser Kommune in Neuka­le­do­nien inhaf­tiert war, riss ihr rotes Tuch in Stücke und teilte sie mit den kana­ki­schen Rebel­len. Über die Geschich­ten der Kanak schrieb sie:

 

Der Geschich­ten­er­zäh­ler der Kanak, wenn er gutge­launt ist, wenn er nicht hung­rig ist und wenn die Nacht schön ist, fügt einer Geschichte weitere hinzu, und andere nach ihm fügen weitere hinzu, und dieselbe Legende geht durch verschie­dene Münder und verschie­dene Stämme und wird manch­mal etwas völlig ande­res als das, was sie am Anfang war.

 

Wir erzäh­len die Geschichte der Pari­ser Kommune so, wie die Kanak ihre Geschich­ten erzähl­ten: Die Legende wächst aus den zwei­und­sieb­zig Tagen, weitet sich auf die Sowjets und die Guang­zhou-Kommune von 1927 aus und wird zu etwas völlig ande­rem, noch anders­ar­ti­ge­rem und noch schönerem.

 

Der Kommune kommt in unse­rer Zeit eine elek­tri­sie­rende poli­ti­sche Bedeu­tung zu. In Vene­zuela waren die in den Barrios («Quar­tie­ren») geschmie­de­ten Kommu­nen zentral für die Konsti­tu­ie­rung neuer Ideen und mate­ri­el­ler Kräfte, die die Gesell­schaft voran­trei­ben. In Südafrika ist die Land­be­set­zung eKhe­nena («Kanaan») in Durban, die anhal­ten­der Repres­sion ausge­setzt ist, eine Kommune, in der demo­kra­ti­sche Selbst­ver­wal­tung soziale Dienste bereit­ge­stellt, land­wirt­schaft­li­che Projekte einge­rich­tet und eine poli­ti­sche Schule gebaut hat, die von Aktivist*innen im ganzen Land genutzt wird.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.