Kann der Globale Süden eine neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung aufbauen?

Der zwanzigste Newsletter (2023)

Meas Sokhorn (Kambo­dscha), Inver­ted Sewer, 2014.

 

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Es ist bemer­kens­wert, wie die Medien eini­ger weni­ger Ländern die Macht haben, den Ton in der ganzen Welt anzu­ge­ben. Die euro­päi­schen und nord­ame­ri­ka­ni­schen Länder genie­ßen ein nahezu globa­les Infor­ma­ti­ons­mo­no­pol, da ihre Medi­en­häu­ser eine Glaub­wür­dig­keit und Auto­ri­tät genies­sen, die sie auf ihren Status in der Kolo­ni­al­zeit (z. B. BBC) und ihrer Herr­schaft überr die neoko­lo­nia­len Struk­tu­ren in der heuti­gen Zeit (z. B. CNN) grün­den. In den 1950er Jahren erkann­ten die post­ko­lo­nia­len Natio­nen das Medien- und Infor­ma­ti­ons­mo­no­pol des Westens und versuch­ten, «den freien Fluss von Ideen in Wort und Bild zu fördern» wie es in der Verfas­sung der Orga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen für Erzie­hung, Wissen­schaft und Kultur (UNESCO) von 1945 heißt.

 

Im Rahmen der Bewe­gung der Block­freien Staa­ten entwi­ckel­ten die Länder und Regio­nen Afri­kas, Asiens und Latein­ame­ri­kas ihre eige­nen natio­na­len und regio­na­len Nach­rich­ten­in­sti­tu­tio­nen: 1958 führte ein UNESCO-Semi­nar in Quito (Ecua­dor) zur Grün­dung einer regio­na­len Schule für die Ausbil­dung von Journalist*innen und Kommu­ni­ka­ti­ons­fach­leu­ten, die 1960 unter dem Namen «Inter­na­tio­na­les Zentrum für fort­ge­schrit­tene Kommu­ni­ka­ti­ons­stu­dien für Latein­ame­rika» (CIESPAL) bekannt wurde; 1961 wurde auf einer Tagung in Bang­kok die «Orga­ni­sa­tion der asia­tisch-pazi­fi­schen Nach­rich­ten­agen­tu­ren» (OANA) gegrün­det; und 1963 wurde auf einer Konfe­renz in Tunis die «Union der afri­ka­ni­schen Nach­rich­ten­agen­tu­ren» (UANA) ins Leben geru­fen. Diese Agen­tu­ren versuch­ten, den Stim­men der Drit­ten Welt über ihre eige­nen Medien, aber auch – erfolg­los – in den Medi­en­häu­sern des Westens Gehör zu verschaf­fen. Paral­lel zu diesen Bemü­hun­gen legten sowje­ti­sche und UNESCO-Expert*innen  aus mehr als einem Dutzend Ländern auf der UNESCO-Gene­ral­kon­fe­renz 1972 eine Reso­lu­tion mit dem Titel Decla­ra­tion of Guiding Prin­ci­ples for the Use of Satel­lite Broad­cas­ting for the Free Flow of Infor­ma­tion, the Spread of Educa­tion, and Grea­ter Cultu­ral Exch­ange («Erklä­rung über die Leit­prin­zi­pien für den Einsatz des Satel­li­ten­rund­funks für den freien Infor­ma­ti­ons­fluss, die Verbrei­tung von Bildung und den verstärk­ten kultu­rel­len Austausch») vor, in der gefor­dert wurde, dass Natio­nen und Völker das Recht haben soll­ten, zu bestim­men, welche Infor­ma­tio­nen in ihren Ländern gesen­det werden. Wie andere derar­tige Bestre­bun­gen wurde sie von den west­li­chen Staa­ten, allen voran den Verei­nig­ten Staa­ten, abge­lehnt. Obwohl eine Konfe­renz nach der ande­ren, von Bang­kok bis Sant­iago, die Frage der Demo­kra­ti­sie­rung der Presse unter­strich, bedeu­tete dieser Wider­stand, dass kaum Fort­schritte erreicht wurden.

 

Domi­ni­que Bwalya Mwando (Demo­kra­ti­sche Repu­blik Kongo), Lumumba’s Speech, 2005.

 

In den 1970er und 1980er Jahren münde­ten diese Bemü­hun­gen in die Bewe­gung zum Aufbau einer neuen Welt­in­for­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung, um das globale Ungleich­ge­wicht zwischen Indus­trie- und Entwick­lungs­län­dern in diesem Bereich zu besei­ti­gen. Diese Idee beein­flusste die 1977 von der UNESCO einge­setzte Inter­na­tio­nale Kommis­sion zur Unter­su­chung von Kommu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­men (die soge­nannte MacBride-Kommis­sion) unter dem Vorsitz des irischen Poli­ti­kers und Nobel­preis­trä­gers Seán MacBride, die einen wich­ti­gen, aber wenig beach­te­ten Bericht zu diesem Thema vorlegte (Many Voices, One World, 1980). Als Reak­tion auf diese Initia­ti­ven zogen sich die Verei­nig­ten Staa­ten 1984 aus der UNESCO zurück. Die Priva­ti­sie­rung der Medien in den 1980er Jahren machte letzt­lich jeden Versuch der Drit­ten Welt zunichte, souve­räne Medi­en­netz­werke zu schaf­fen – selbst wenn diese Netz­werke anti­kom­mu­nis­tisch waren (wie das 1981 in Kuala Lumpur, Malay­sia, gegrün­dete Asia-Paci­fic News Network).

 

In den letz­ten Jahren wurde dieser Traum vom freien Infor­ma­ti­ons­fluss jedoch von Bewe­gun­gen des Globa­len Südens wieder­be­lebt, die sich darüber ärge­ren, dass ihre Sicht­wei­sen in inter­na­tio­na­len Debat­ten so gut wie gar nicht vertre­ten sind und dass ihren Ländern eine engstir­nige, auslän­di­sche Welt­sicht über die Probleme, mit denen sie konfron­tiert sind (z. B. Krieg und Hunger), aufge­zwun­gen wird. Im Rahmen dieser Wieder­be­le­bung trafen sich Anfang Mai Hunderte von Redakteur*innen und Journalist*innen aus dem Globa­len Süden in Shang­hai (China) zum Global South Inter­na­tio­nal Commu­ni­ca­tion Forum. Am Ende zweier Tage inten­si­ver Debat­ten haben die Teilnehmer*innen einen Shang­hai-Konsens ausge­ar­bei­tet und abge­stimmt, der im Folgen­den in vollem Wort­laut wieder­ge­ge­ben wird.

 

Eröff­nende kultu­relle Darbie­tung am Global South Inter­na­tio­nal Commu­ni­ca­tion Forum, 4. Mai 2023. Foto: Inter­na­tio­na­les Forschungs­in­sti­tut für Kommu­ni­ka­tion der East China Normal University.

 

Förde­rung des Aufbaus einer neuen Welt­in­for­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung des einund­zwan­zigs­ten Jahrhunderts

 

In den 1970er Jahren versuch­ten die Staa­ten des Globa­len Südens gemein­sam mit der Orga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen für Erzie­hung, Wissen­schaft und Kultur (UNESCO) im Rahmen der Bewe­gung der Block­freien Staa­ten eine neue Welt­in­for­ma­ti­ons- und ‑kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung zu schaf­fen. Dieser Versuch wurde durch den Aufstieg der neoli­be­ra­len Hege­mo­nie in den 1980er Jahren zunichte gemacht. Die Welle der neoli­be­ra­len Globa­li­sie­rung beschleu­nigte sich aufgrund der Schul­den­krise in der Drit­ten Welt und dem Unter­gang der Sowjet­union. Der Westen schuf eine «regel­ba­sierte inter­na­tio­nale Ordnung», um seine neoko­lo­nia­len Struk­tu­ren und impe­ria­lis­ti­schen Hand­lun­gen zu verschlei­ern. Samir Amin vertrat die Ansicht, dass die neoko­lo­niale Struk­tur auf «fünf Kontroll­me­cha­nis­men» aufbaut: Kontrolle über Finan­zen, natür­li­che Ressour­cen, Wissen­schaft und Tech­no­lo­gie, Massen­ver­nich­tungs­waf­fen und Informationen.

 

Heute haben sich zwar einige dieser Mono­pole gelo­ckert, aber die unglei­che Struk­tur von Infor­ma­tion und Kommu­ni­ka­tion ist nicht nur unver­än­dert geblie­ben, sondern hat sich sogar noch verschärft. Das welt­weit vorherr­schende theo­re­ti­sche Para­digma über Infor­ma­ti­ons­pro­duk­tion und Kommu­ni­ka­tion ist nach wie vor west­lich orien­tiert, und den Hoch­schu­len und Medien des Globa­len Südens fehlt es an Mecha­nis­men, um Ideen und einen Rahmen zu schaf­fen, der über die west­lich orien­tierte Perspek­tive hinausgeht.

 

Vijay Pras­had, Direk­tor des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, hält den Haupt­vor­trag mit dem Titel «History Has Not Ended: The Three Batt­les of Our Time», 4. Mai 2023. Foto: Inter­na­tio­na­les Forschungs­in­sti­tut für Kommu­ni­ka­tion der East China Normal University.

 

Wir stel­len fest, dass neoko­lo­niale Struk­tu­ren vorherr­schen, insbe­son­dere in den Medien, die vom Westen kontrol­liert werden. Diese Medien sind nicht in der Lage, die Heraus­for­de­run­gen zu arti­ku­lie­ren, mit denen die Menschen auf der Welt konfron­tiert sind, oder mach­bare Entwick­lungs­stra­te­gien, insbe­son­dere für den Globa­len Süden, effek­tiv zu kommu­ni­zie­ren und zu diskutieren.

 

Die US-Imperialist*innen und ihre Verbün­de­ten setzen die Medien als Waffe ein und führen Infor­ma­ti­ons­kriege gegen Länder in Asien, Afrika und Latein­ame­rika. Wenn der Globale Süden versucht, Frie­den und Entwick­lung auf die Tages­ord­nung zu setzen, antwor­tet der Westen mit Krieg und Schul­den. In den Händen der west­li­chen Medi­en­mo­no­pole wird die Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung nicht zur Förde­rung des Welt­frie­dens, sondern zur Verschär­fung der Spal­tung der Menschen und der Kriegs­ge­fahr eingesetzt.

 

Die US-Imperialist*nnen und ihre Verbün­de­ten nutzen die Medi­en­he­ge­mo­nie, um die schö­nen Begriffe Demo­kra­tie, Frei­heit und Menschen­rechte zu entstel­len. Sie grei­fen andere Länder unter dem Vorwand von Demo­kra­tie, Frei­heit und Menschen­rech­ten an, während sie über ihre eigene Miss­ach­tung von Demo­kra­tie, Frei­heits­be­rau­bung und Menschen­rech­ten schweigen.

 

 

Profes­so­rin Lyu Xingyu, Deka­nin des Inter­na­tio­na­len Insti­tuts für Kommu­ni­ka­ti­ons­for­schung der East China Normal Univer­sity, hält die Abschluss­rede des Global South Inter­na­tio­nal Commu­ni­ca­tion Forum, 5. Mai 2023. Foto: Inter­na­tio­na­les Insti­tut für Kommu­ni­ka­ti­ons­for­schung der East China Normal University.

 

Digi­tale Tech­no­lo­gien wie das Inter­net, Big Data und künst­li­che Intel­li­genz, die eigent­lich dem Wohl der Menschen dienen soll­ten, werden von eini­gen weni­gen west­li­chen Medi­en­gi­gan­ten und Mono­pol­platt­for­men genutzt, um die Produk­tion und Verbrei­tung von Infor­ma­tio­nen zu domi­nie­ren und Stim­men zu blockie­ren, die von ihren Ansprü­chen abwei­chen. Ange­sichts dieser Umstände halten wir es für uner­läss­lich, dass Intel­lek­tu­elle und Kommu­ni­ka­ti­ons­fach­leute aus dem Globa­len Süden und solche, die mit ihnen sympa­thi­sie­ren, den Geist der Bandung-Konfe­renz von 1955 und der Bewe­gung der Block­freien Staa­ten (gegrün­det 1961) wieder­auf­le­ben lassen, auf die Global Civi­li­sa­tion Initia­tive (2023) reagie­ren und inter­na­tio­nale Soli­da­ri­tät durch Kommu­ni­ka­ti­ons­theo­rie und ‑praxis schaffen.

 

Wir sind der Meinung, dass es für Intel­lek­tu­elle aus dem Globa­len Süden und solche, die mit ihnen sympa­thi­sie­ren, uner­läss­lich ist, die theo­re­ti­schen Thesen und die akade­mi­sche Produk­tion des Globa­len Südens (insbe­son­dere in den Berei­chen Geschichte und Entwick­lung) zu fördern, sich aktiv am akade­mi­schen Austausch und der Zusam­men­ar­beit zu betei­li­gen und eine Kommu­ni­ka­ti­ons­theo­rie aus der Perspek­tive des Globa­len Südens zu entwickeln.

 

 

Tings Chak, Mitbe­grün­de­rin von Dong­sh­eng und künst­le­ri­sche Leite­rin bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, hält eine Rede mit dem Titel «Third World Culture, Commu­ni­ca­tion, and Soli­da­rity», 4. Mai 2023.

Wir sind der Meinung, dass es für fort­schritt­li­che Medien aus dem Globa­len Süden und solche, die mit ihnen sympa­thi­sie­ren, uner­läss­lich ist, ein dezen­tra­li­sier­tes und diver­si­fi­zier­tes Netz­werk zur Produk­tion und Verbrei­tung von Inhal­ten zu bilden, Inhalte und Medi­en­er­fah­run­gen auszu­tau­schen und eine vereinte inter­na­tio­nale Kommu­ni­ka­ti­ons­front gegen den Impe­ria­lis­mus und Neoko­lo­nia­lis­mus aufzu­bauen, um für Frie­den und Entwick­lung einzutreten.

 

Wir sind der Meinung, dass das Inter­na­tio­nale Kommu­ni­ka­ti­ons­fo­rum des Globa­len Südens unbe­dingt jähr­lich statt­fin­den sollte, um ein viel­fäl­ti­ges und multi­la­te­ra­les Netz­werk und eine Platt­form für den Dialog und den Austausch zwischen Intel­lek­tu­el­len und Kommu­ni­ka­ti­ons­fach­leu­ten aufzu­bauen. Dieses Netz­werk und diese Platt­form werden als Grund­lage für verschie­dene Formen der Zusam­men­ar­beit mit Regie­run­gen, Univer­si­tä­ten, Think Tanks, Medien und ande­ren Insti­tu­tio­nen dienen.

 

Die histo­ri­sche Mission der Neuen Welt­in­for­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung wurde zwar nicht erfüllt, aber der Geist, der ihr zugrunde liegt, ist noch nicht ausge­löscht. Anti­im­pe­ria­lis­mus und Anti­ko­lo­nia­lis­mus sind immer noch der Konsens der neuen Bewe­gung der Block­freien. Lasst uns auf dieser Grund­lage zusam­men­ar­bei­ten, um den Aufbau einer neuen Welt­in­for­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung des einund­zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts zum Wohle der Mensch­heit zu fördern.

 

Nor Tijan Fird­aus (Malay­sia), Just Scan It (2021).

 

Wir vom Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch sind uns weit­ge­hend einig über die Notwen­dig­keit, die neue Welt­in­for­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­ord­nung zu fördern und den Traum vom freien Fluss der Ideen wieder­zu­be­le­ben. Dieses Bestre­ben baut auf den Bemü­hun­gen der Vergan­gen­heit auf, wie dem Verband der block­freien Nach­rich­ten­agen­tu­ren, der am 20. Januar 1975 von der jugo­sla­wi­schen Nach­rich­ten­agen­tur Tanjug gegrün­det wurde und elf Nach­rich­ten­agen­tu­ren zusam­men­brachte. Im ersten Jahr seines Bestehens teil­ten sich die Agen­tu­ren 3.500 Berichte; ein Jahr­zehnt später gehör­ten dem Netz­werk acht­und­sech­zig Nach­rich­ten­agen­tu­ren an. Obwohl der Verband der block­freien Nach­rich­ten­agen­tu­ren heute nicht mehr exis­tiert, ist die Idee, die ihm zugrunde liegt, nach wie vor aktu­ell. Die jüngste Konfe­renz in Shang­hai ist Teil des neuen Gesprächs über den Aufbau neuer Verbände, neuer Netz­werke und neuer Medien, die von Orga­ni­sa­tio­nen wie Peop­les Dispatch und gleich­ge­sinn­ten Medi­en­pro­jek­ten getra­gen werden.

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.