Kann der Globale Süden eine neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung aufbauen?
Der zwanzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Es ist bemerkenswert, wie die Medien einiger weniger Ländern die Macht haben, den Ton in der ganzen Welt anzugeben. Die europäischen und nordamerikanischen Länder genießen ein nahezu globales Informationsmonopol, da ihre Medienhäuser eine Glaubwürdigkeit und Autorität geniessen, die sie auf ihren Status in der Kolonialzeit (z. B. BBC) und ihrer Herrschaft überr die neokolonialen Strukturen in der heutigen Zeit (z. B. CNN) gründen. In den 1950er Jahren erkannten die postkolonialen Nationen das Medien- und Informationsmonopol des Westens und versuchten, «den freien Fluss von Ideen in Wort und Bild zu fördern» wie es in der Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) von 1945 heißt.
Im Rahmen der Bewegung der Blockfreien Staaten entwickelten die Länder und Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ihre eigenen nationalen und regionalen Nachrichteninstitutionen: 1958 führte ein UNESCO-Seminar in Quito (Ecuador) zur Gründung einer regionalen Schule für die Ausbildung von Journalist*innen und Kommunikationsfachleuten, die 1960 unter dem Namen «Internationales Zentrum für fortgeschrittene Kommunikationsstudien für Lateinamerika» (CIESPAL) bekannt wurde; 1961 wurde auf einer Tagung in Bangkok die «Organisation der asiatisch-pazifischen Nachrichtenagenturen» (OANA) gegründet; und 1963 wurde auf einer Konferenz in Tunis die «Union der afrikanischen Nachrichtenagenturen» (UANA) ins Leben gerufen. Diese Agenturen versuchten, den Stimmen der Dritten Welt über ihre eigenen Medien, aber auch – erfolglos – in den Medienhäusern des Westens Gehör zu verschaffen. Parallel zu diesen Bemühungen legten sowjetische und UNESCO-Expert*innen aus mehr als einem Dutzend Ländern auf der UNESCO-Generalkonferenz 1972 eine Resolution mit dem Titel Declaration of Guiding Principles for the Use of Satellite Broadcasting for the Free Flow of Information, the Spread of Education, and Greater Cultural Exchange («Erklärung über die Leitprinzipien für den Einsatz des Satellitenrundfunks für den freien Informationsfluss, die Verbreitung von Bildung und den verstärkten kulturellen Austausch») vor, in der gefordert wurde, dass Nationen und Völker das Recht haben sollten, zu bestimmen, welche Informationen in ihren Ländern gesendet werden. Wie andere derartige Bestrebungen wurde sie von den westlichen Staaten, allen voran den Vereinigten Staaten, abgelehnt. Obwohl eine Konferenz nach der anderen, von Bangkok bis Santiago, die Frage der Demokratisierung der Presse unterstrich, bedeutete dieser Widerstand, dass kaum Fortschritte erreicht wurden.
In den 1970er und 1980er Jahren mündeten diese Bemühungen in die Bewegung zum Aufbau einer neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung, um das globale Ungleichgewicht zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in diesem Bereich zu beseitigen. Diese Idee beeinflusste die 1977 von der UNESCO eingesetzte Internationale Kommission zur Untersuchung von Kommunikationsproblemen (die sogenannte MacBride-Kommission) unter dem Vorsitz des irischen Politikers und Nobelpreisträgers Seán MacBride, die einen wichtigen, aber wenig beachteten Bericht zu diesem Thema vorlegte (Many Voices, One World, 1980). Als Reaktion auf diese Initiativen zogen sich die Vereinigten Staaten 1984 aus der UNESCO zurück. Die Privatisierung der Medien in den 1980er Jahren machte letztlich jeden Versuch der Dritten Welt zunichte, souveräne Mediennetzwerke zu schaffen – selbst wenn diese Netzwerke antikommunistisch waren (wie das 1981 in Kuala Lumpur, Malaysia, gegründete Asia-Pacific News Network).
In den letzten Jahren wurde dieser Traum vom freien Informationsfluss jedoch von Bewegungen des Globalen Südens wiederbelebt, die sich darüber ärgeren, dass ihre Sichtweisen in internationalen Debatten so gut wie gar nicht vertreten sind und dass ihren Ländern eine engstirnige, ausländische Weltsicht über die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind (z. B. Krieg und Hunger), aufgezwungen wird. Im Rahmen dieser Wiederbelebung trafen sich Anfang Mai Hunderte von Redakteur*innen und Journalist*innen aus dem Globalen Süden in Shanghai (China) zum Global South International Communication Forum. Am Ende zweier Tage intensiver Debatten haben die Teilnehmer*innen einen Shanghai-Konsens ausgearbeitet und abgestimmt, der im Folgenden in vollem Wortlaut wiedergegeben wird.
Förderung des Aufbaus einer neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung des einundzwanzigsten Jahrhunderts
In den 1970er Jahren versuchten die Staaten des Globalen Südens gemeinsam mit der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) im Rahmen der Bewegung der Blockfreien Staaten eine neue Weltinformations- und ‑kommunikationsordnung zu schaffen. Dieser Versuch wurde durch den Aufstieg der neoliberalen Hegemonie in den 1980er Jahren zunichte gemacht. Die Welle der neoliberalen Globalisierung beschleunigte sich aufgrund der Schuldenkrise in der Dritten Welt und dem Untergang der Sowjetunion. Der Westen schuf eine «regelbasierte internationale Ordnung», um seine neokolonialen Strukturen und imperialistischen Handlungen zu verschleiern. Samir Amin vertrat die Ansicht, dass die neokoloniale Struktur auf «fünf Kontrollmechanismen» aufbaut: Kontrolle über Finanzen, natürliche Ressourcen, Wissenschaft und Technologie, Massenvernichtungswaffen und Informationen.
Heute haben sich zwar einige dieser Monopole gelockert, aber die ungleiche Struktur von Information und Kommunikation ist nicht nur unverändert geblieben, sondern hat sich sogar noch verschärft. Das weltweit vorherrschende theoretische Paradigma über Informationsproduktion und Kommunikation ist nach wie vor westlich orientiert, und den Hochschulen und Medien des Globalen Südens fehlt es an Mechanismen, um Ideen und einen Rahmen zu schaffen, der über die westlich orientierte Perspektive hinausgeht.
Wir stellen fest, dass neokoloniale Strukturen vorherrschen, insbesondere in den Medien, die vom Westen kontrolliert werden. Diese Medien sind nicht in der Lage, die Herausforderungen zu artikulieren, mit denen die Menschen auf der Welt konfrontiert sind, oder machbare Entwicklungsstrategien, insbesondere für den Globalen Süden, effektiv zu kommunizieren und zu diskutieren.
Die US-Imperialist*innen und ihre Verbündeten setzen die Medien als Waffe ein und führen Informationskriege gegen Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika. Wenn der Globale Süden versucht, Frieden und Entwicklung auf die Tagesordnung zu setzen, antwortet der Westen mit Krieg und Schulden. In den Händen der westlichen Medienmonopole wird die Kommunikationsordnung nicht zur Förderung des Weltfriedens, sondern zur Verschärfung der Spaltung der Menschen und der Kriegsgefahr eingesetzt.
Die US-Imperialist*nnen und ihre Verbündeten nutzen die Medienhegemonie, um die schönen Begriffe Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu entstellen. Sie greifen andere Länder unter dem Vorwand von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten an, während sie über ihre eigene Missachtung von Demokratie, Freiheitsberaubung und Menschenrechten schweigen.
Digitale Technologien wie das Internet, Big Data und künstliche Intelligenz, die eigentlich dem Wohl der Menschen dienen sollten, werden von einigen wenigen westlichen Mediengiganten und Monopolplattformen genutzt, um die Produktion und Verbreitung von Informationen zu dominieren und Stimmen zu blockieren, die von ihren Ansprüchen abweichen. Angesichts dieser Umstände halten wir es für unerlässlich, dass Intellektuelle und Kommunikationsfachleute aus dem Globalen Süden und solche, die mit ihnen sympathisieren, den Geist der Bandung-Konferenz von 1955 und der Bewegung der Blockfreien Staaten (gegründet 1961) wiederaufleben lassen, auf die Global Civilisation Initiative (2023) reagieren und internationale Solidarität durch Kommunikationstheorie und ‑praxis schaffen.
Wir sind der Meinung, dass es für Intellektuelle aus dem Globalen Süden und solche, die mit ihnen sympathisieren, unerlässlich ist, die theoretischen Thesen und die akademische Produktion des Globalen Südens (insbesondere in den Bereichen Geschichte und Entwicklung) zu fördern, sich aktiv am akademischen Austausch und der Zusammenarbeit zu beteiligen und eine Kommunikationstheorie aus der Perspektive des Globalen Südens zu entwickeln.
Wir sind der Meinung, dass es für fortschrittliche Medien aus dem Globalen Süden und solche, die mit ihnen sympathisieren, unerlässlich ist, ein dezentralisiertes und diversifiziertes Netzwerk zur Produktion und Verbreitung von Inhalten zu bilden, Inhalte und Medienerfahrungen auszutauschen und eine vereinte internationale Kommunikationsfront gegen den Imperialismus und Neokolonialismus aufzubauen, um für Frieden und Entwicklung einzutreten.
Wir sind der Meinung, dass das Internationale Kommunikationsforum des Globalen Südens unbedingt jährlich stattfinden sollte, um ein vielfältiges und multilaterales Netzwerk und eine Plattform für den Dialog und den Austausch zwischen Intellektuellen und Kommunikationsfachleuten aufzubauen. Dieses Netzwerk und diese Plattform werden als Grundlage für verschiedene Formen der Zusammenarbeit mit Regierungen, Universitäten, Think Tanks, Medien und anderen Institutionen dienen.
Die historische Mission der Neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung wurde zwar nicht erfüllt, aber der Geist, der ihr zugrunde liegt, ist noch nicht ausgelöscht. Antiimperialismus und Antikolonialismus sind immer noch der Konsens der neuen Bewegung der Blockfreien. Lasst uns auf dieser Grundlage zusammenarbeiten, um den Aufbau einer neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung des einundzwanzigsten Jahrhunderts zum Wohle der Menschheit zu fördern.
Wir vom Tricontinental: Institute for Social Research sind uns weitgehend einig über die Notwendigkeit, die neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung zu fördern und den Traum vom freien Fluss der Ideen wiederzubeleben. Dieses Bestreben baut auf den Bemühungen der Vergangenheit auf, wie dem Verband der blockfreien Nachrichtenagenturen, der am 20. Januar 1975 von der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tanjug gegründet wurde und elf Nachrichtenagenturen zusammenbrachte. Im ersten Jahr seines Bestehens teilten sich die Agenturen 3.500 Berichte; ein Jahrzehnt später gehörten dem Netzwerk achtundsechzig Nachrichtenagenturen an. Obwohl der Verband der blockfreien Nachrichtenagenturen heute nicht mehr existiert, ist die Idee, die ihm zugrunde liegt, nach wie vor aktuell. Die jüngste Konferenz in Shanghai ist Teil des neuen Gesprächs über den Aufbau neuer Verbände, neuer Netzwerke und neuer Medien, die von Organisationen wie Peoples Dispatch und gleichgesinnten Medienprojekten getragen werden.
Herzlichst,
Vijay